Montag, 29. März 2021

Lernen ohne Belehrung

Es geht in diesem Artikel um Lernlektionen, die wir anderen vorschreiben oder verpassen wollen. Sie sollen etwas lernen, was uns das Leben mit ihnen leichter machen soll.

Wir begegnen anderen Menschen auch aus dem Grund, um von ihnen zu lernen. Sozial sein heißt Abstimmung, Anpassung und gemeinsam neue Möglichkeiten erschließen. Andere Menschen erkennen und wissen anderes, was wir nicht erkennen und wissen. Deshalb sind menschliche Beziehungen immer auch Lehr- und Lernbeziehungen. Aneinander wachsen wir, wenn ein fruchtbarer Austausch gelingt.

Das Voneinander-Lernen enthält allerdings immer auch heikle Seiten, nicht immer gelingt es, die Kommunikation auf einer konstruktiven Ebene zu halten. Denn in Situationen, in denen jemand anderer will, dass wir etwas Neues von ihm lernen, kommen die Erinnerungen an frühere Lernprägungen, die wir aus unserer Geschichte (Familie, Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz) mitnehmen. Schnell können wir uns belehrt fühlen, wenn uns jemand nur einen gutgemeinten Rat gibt. Oder wir fühlen uns bevormundet, wenn uns jemand eindringlich mitteilt, wie wichtig diese oder jene Einsicht für uns wäre. Ein Rat, der uns gegeben wird, erscheint uns manchmal wie ein Rat-Schlag, der uns eine Verletzung zufügen will.

Viele Lernsituationen haben mit Scham zu tun. Sie tritt dann auf, wenn wir uns zu einem Lernschritt gezwungen fühlen, wenn also jemand anderer will, dass wir etwas lernen und wir selber nicht. Es können auch Situationen auftauchen, in denen wir nicht verstehen konnten, warum wir etwas lernen sollten, oder in denen wir uns als Mensch beim Lernen nicht geachtet fühlten. Bei manchen Menschen ist aufgrund solcher gehäufter Erfahrungen Lernen generell mit Scham assoziiert. Vermutlich kennt darüber hinaus jeder/jede von uns Lernsituationen mit Schräglage und hat daraus eine Aversion gegen Lernen unter Druck entwickelt, vor allem dort, wo es auf der emotional-sozialen Ebene eingefordert wird.

Eingefordertes Lernen

Aus Unstimmigkeiten und Konflikten keimt die Erwartung, dass die andere Person etwas lernen sollte, das uns den Umgang mit ihr erleichtert. Ändert sich der andere, geht es mir besser (und ich brauche mich selbst nicht zu ändern). So läuft ein bekanntes Muster in vielen Beziehungen, von intimen bis zu geschäftlichen und politischen. Meist vermeinen wir klar zu wissen, welche Lektion aus dem Buch des Lebens unsere Mitmenschen nachholen sollten, um unseren Ansprüchen und Erwartungen zu genügen. Außerdem vermeinen wir, dass, wenn wir ihnen mitteilen, welche Lernaufgaben für sie am dringlichsten sind, wir davon enthoben sind, unsere eigenen Lernschritte zu machen.

Wir delegieren also gerne die Verantwortung für die Verbesserung der Beziehungen auf die anderen, denn die Verantwortung selber zu tragen ist weniger bequem. Das tun wir, indem wir das Lernen delegieren, dem wir uns selber unterziehen sollten. Das geschieht etwa in der Art: „Du solltest endlich lernen, wie man richtig mit mir umgeht.“ „Du solltest endlich lernen, was ein anständiges Benehmen ist.“ Usw.

In diesen Fällen verstehen wir unter einem Lernen, das wir uns von jemand anderem wünschen oder einfordern, dass er oder sie so werden, empfinden und denken soll wie wir es brauchen. Lernen heißt dann, dass sich die andere Person gemäß unseren Vorstellungen verändern soll. Statt eines Lernangebots oder einer Lerneinladung stellen wir ein Lerngebot auf: Ich schreibe dir vor, was du zu lernen hast. Und dann kannst du endlich so werden, wie ich dich haben will. Erst dann finden wir zur Harmonie.

Beschämung als Druckmittel

Solche Forderungen enthalten das Druckmittel der Beschämung. Sie setzen die andere Person herab und stellen sich selbst darüber, in der selbstbesessenen Ansicht, dass das Eigene besser ist als das andere. Der Kommunikationspartner muss sich an die eigenen Standards anpassen, sonst ist er nicht anerkennenswert. Diese Einstellung führt zu einer Haltung der Abwertung bis hin zur Verachtung der unterlegenen Person, die aus dieser Sichtweise voll gerechtfertigt erscheint.

Der Anspruch, dass sich andere unseren Vorstellungen gemäß verändern müssen, arbeitet also unweigerlich damit, die betroffenen Mitmenschen in den Zustand der Scham zu versetzen. Sie werden auf einen minderen Wert herabgestuft und müssen sich deshalb anstrengen, wieder auf einen Zustand zurückzufinden, auf dem sie unsere soziale Anerkennung verdienen. Bleiben sie auf dem niedrigeren Entwicklungsniveau, in dem sie durch ihre Schuld festhängen, ist ihnen nicht zu helfen.

Lernanregungen ohne Macht

Wie entkommen wir dem Unbehagen, das das achtlose und unbewusste Handeln unserer Mitmenschen in uns auslöst? Müssen wir alles in uns selber verarbeiten? Können wir nicht von den anderen verlangen, dass sie ihre Verhaltensweisen ändern, damit wir es leichter haben? Wie also können wir sie zum Lernen bringen, ohne den Einsatz von Macht- und Druckmitteln?

Wir können Vorschläge machen, Bitten formulieren und Wünsche äußern, die dem anderen die freie Entscheidung lassen, ohne Forderung und Zwang. Wir erklären uns damit einverstanden, dass die andere Person auch ablehnen darf, was wir vorschlagen, wünschen oder erbitten. Wünsche und Bitten sind Selbstäußerungen, bei denen die eigene Bedürftigkeit im Vordergrund steht und nicht die Forderung an die andere Person. Sie kommen an und finden Resonanz, wenn die andere Person empfangsbereit und empathisch eingestellt ist. Sie müssen nicht immer zur Gänze umgesetzt werden, manchmal genügen auch Schritte in die gewünschte Richtung, um die Situation zu entspannen.

Sobald sich Druck und Macht hineinmischen, wenn wir uns über andere und deren Verhalten beschweren, sind Überlebensmuster in uns aktiv, die wir uns bewusst machen sollten. Denn sie bewirken, dass wir Spannungen in der Kommunikation erzeugen und dass es folglich unwahrscheinlicher wird, dass unsere Bitten und Wünsche erfüllt und unsere Vorschläge angenommen werden. Kommunikative Spannungen schränken die Empathie- und Annahmefähigkeit sowie die Bereitschaft, eigenes Verhalten zu ändern, ein.

Wird einem Wunsch nach Verhaltensänderung, den wir an eine andere Person richten, nicht stattgegeben, so reagieren wir spontan mit Enttäuschung. Wenn es uns nicht gelingt, die Enttäuschung in uns selber zu verarbeiten, müssen wir mit der Tendenz zur Rache rechnen: Die Person, die uns enttäuscht hat, muss bestraft werden. Schon wieder erzeugen wir Druck, und die kommunikative Situation eskaliert. Ein Überlebensmuster ist aktiv, und manchmal kämpfen wir so, als ginge es uns an den Kragen, oft bei Themen, die einem Außenstehenden als Bagatelle erscheinen.

Feedback-Regeln

In der klassischen Kommunikationstheorie wurde eine Reihe von Feedback-Regeln entwickelt, durch die das Senden und Empfangen von Rückmeldungen konstruktiv ablaufen sollen. Auch die Konzepte der gewaltfreien Kommunikation dienen diesem Zweck.

Regeln wirken allerdings nur dann, wenn die Haltung dahinter stimmt. Man kann ein nach allen Regeln lupenreines Feedback geben (die Person fragen, ob sie das Feedback empfangen will, mit positiver Anerkennung beginnen, konkretes Verhalten ansprechen und nicht Eigenschaften der Person usw.), und dennoch misslingt die Mitteilung, weil das Gegenüber die Intention hinter der Mitteilung als Machtdurchsetzung erlebt.

Es kann sich dabei zwar um eine Projektion handeln (den Machtanspruch gibt es nur in der Fantasie des Empfängers), aber es ist auch hier sinnvoll, bei sich selber nachzuschauen, ob nicht doch eine versteckte Agenda am Werken ist, eine, die mit Druck und Dringlichkeit ein rasches und gründliches Lernen bei der anderen Person einmahnt und allzu genau weiß, was geschehen soll und wie das Ergebnis ausschauen muss. Wenn die angesprochene Person diesen Braten riecht, wird sie vermutlich in eine Position der Beschämtheit geraten und mit irgendeiner Form der Abwehr reagieren.

Erwartungsfreie Wünsche

Es ist nicht leicht, echte Wünsche ohne heimliche Erwartungen auszusprechen, aber es ist die einzige Form, bei anderen Menschen ohne Machtausübung und damit ohne die Möglichkeit einer Beschämung ein Lernen im Verhaltens- und Gefühlsbereich anzuregen. Wenn die Erfüllung oder Nichterfüllung des Wunsches im eigenen Inneren gleichermaßen akzeptiert werden kann, hat die andere Person die größtmögliche Freiheit, von sich aus in einen Lernprozess einzusteigen. Es ist das ein frei gewählter, also intrinsisch motivierter Vorgang. Die Erträge dieser Lernvorgänge gehören dem anderen,  nicht uns, aber sie können die Kommunikation zwischen uns verbessern.

Das Zurücknehmen von Macht und das Aufgeben von Machtansprüchen ist eine der schwierigen Lernaufgaben, die sich uns immer wieder stellen. Es hilft nichts, sie von den anderen zu erwarten, solange wir sie selbst nicht gemeistert haben. Vielmehr können wir jede Störung, jede Unpässlichkeit und Verwerfung, die in der Kommunikation und im Zusammenleben mit anderen Personen geschieht, als Anlass nehmen, uns in der Tugend des Machtverzichts zu üben.

Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend   

Passive und aktive Demut

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