Es geht in diesem Artikel um Lernlektionen, die wir anderen vorschreiben oder verpassen wollen. Sie sollen etwas lernen, was uns das Leben mit ihnen leichter machen soll.
Wir begegnen anderen Menschen auch aus dem
Grund, um von ihnen zu lernen. Sozial sein heißt Abstimmung, Anpassung und
gemeinsam neue Möglichkeiten erschließen. Andere Menschen erkennen und wissen
anderes, was wir nicht erkennen und wissen. Deshalb sind menschliche
Beziehungen immer auch Lehr- und Lernbeziehungen. Aneinander wachsen wir, wenn ein
fruchtbarer Austausch gelingt.
Das Voneinander-Lernen enthält allerdings
immer auch heikle Seiten, nicht immer gelingt es, die Kommunikation auf einer konstruktiven
Ebene zu halten. Denn in Situationen, in denen jemand anderer will, dass wir etwas
Neues von ihm lernen, kommen die Erinnerungen an frühere Lernprägungen, die wir
aus unserer Geschichte (Familie, Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz) mitnehmen.
Schnell können wir uns belehrt fühlen, wenn uns jemand nur einen gutgemeinten
Rat gibt. Oder wir fühlen uns bevormundet, wenn uns jemand eindringlich
mitteilt, wie wichtig diese oder jene Einsicht für uns wäre. Ein Rat, der uns
gegeben wird, erscheint uns manchmal wie ein Rat-Schlag, der uns eine
Verletzung zufügen will.
Eingefordertes Lernen
Aus Unstimmigkeiten und Konflikten keimt
die Erwartung, dass die andere Person etwas lernen sollte, das uns den Umgang
mit ihr erleichtert. Ändert sich der andere, geht es mir besser (und ich
brauche mich selbst nicht zu ändern). So läuft ein bekanntes Muster in vielen
Beziehungen, von intimen bis zu geschäftlichen und politischen. Meist vermeinen
wir klar zu wissen, welche Lektion aus dem Buch des Lebens unsere Mitmenschen
nachholen sollten, um unseren Ansprüchen und Erwartungen zu genügen. Außerdem
vermeinen wir, dass, wenn wir ihnen mitteilen, welche Lernaufgaben für sie am
dringlichsten sind, wir davon enthoben sind, unsere eigenen Lernschritte zu
machen.
Wir delegieren also gerne die Verantwortung
für die Verbesserung der Beziehungen auf die anderen, denn die Verantwortung selber
zu tragen ist weniger bequem. Das tun wir, indem wir das Lernen delegieren, dem
wir uns selber unterziehen sollten. Das geschieht etwa in der Art: „Du solltest
endlich lernen, wie man richtig mit mir umgeht.“ „Du solltest endlich lernen, was
ein anständiges Benehmen ist.“ Usw.
In diesen Fällen verstehen wir unter einem
Lernen, das wir uns von jemand anderem wünschen oder einfordern, dass er oder
sie so werden, empfinden und denken soll wie wir es brauchen. Lernen heißt dann,
dass sich die andere Person gemäß unseren Vorstellungen verändern soll. Statt
eines Lernangebots oder einer Lerneinladung stellen wir ein Lerngebot auf: Ich
schreibe dir vor, was du zu lernen hast. Und dann kannst du endlich so werden,
wie ich dich haben will. Erst dann finden wir zur Harmonie.
Beschämung als Druckmittel
Solche Forderungen enthalten das
Druckmittel der Beschämung. Sie setzen die andere Person herab und stellen sich
selbst darüber, in der selbstbesessenen Ansicht, dass das Eigene besser ist als
das andere. Der Kommunikationspartner muss sich an die eigenen Standards
anpassen, sonst ist er nicht anerkennenswert. Diese Einstellung führt zu einer
Haltung der Abwertung bis hin zur Verachtung der unterlegenen Person, die aus
dieser Sichtweise voll gerechtfertigt erscheint.
Der Anspruch, dass sich andere unseren
Vorstellungen gemäß verändern müssen, arbeitet also unweigerlich damit, die betroffenen
Mitmenschen in den Zustand der Scham zu versetzen. Sie werden auf einen
minderen Wert herabgestuft und müssen sich deshalb anstrengen, wieder auf einen
Zustand zurückzufinden, auf dem sie unsere soziale Anerkennung verdienen.
Bleiben sie auf dem niedrigeren Entwicklungsniveau, in dem sie durch ihre
Schuld festhängen, ist ihnen nicht zu helfen.
Lernanregungen ohne Macht
Wie entkommen wir dem Unbehagen, das das
achtlose und unbewusste Handeln unserer Mitmenschen in uns auslöst? Müssen wir
alles in uns selber verarbeiten? Können wir nicht von den anderen verlangen,
dass sie ihre Verhaltensweisen ändern, damit wir es leichter haben? Wie also
können wir sie zum Lernen bringen, ohne den Einsatz von Macht- und Druckmitteln?
Wir können Vorschläge machen, Bitten
formulieren und Wünsche äußern, die dem anderen die freie Entscheidung lassen,
ohne Forderung und Zwang. Wir erklären uns damit einverstanden, dass die andere
Person auch ablehnen darf, was wir vorschlagen, wünschen oder erbitten. Wünsche
und Bitten sind Selbstäußerungen, bei denen die eigene Bedürftigkeit im
Vordergrund steht und nicht die Forderung an die andere Person. Sie kommen an
und finden Resonanz, wenn die andere Person empfangsbereit und empathisch
eingestellt ist. Sie müssen nicht immer zur Gänze umgesetzt werden, manchmal
genügen auch Schritte in die gewünschte Richtung, um die Situation zu entspannen.
Sobald sich Druck und Macht hineinmischen,
wenn wir uns über andere und deren Verhalten beschweren, sind Überlebensmuster
in uns aktiv, die wir uns bewusst machen sollten. Denn sie bewirken, dass wir
Spannungen in der Kommunikation erzeugen und dass es folglich unwahrscheinlicher
wird, dass unsere Bitten und Wünsche erfüllt und unsere Vorschläge angenommen
werden. Kommunikative Spannungen schränken die Empathie- und Annahmefähigkeit
sowie die Bereitschaft, eigenes Verhalten zu ändern, ein.
Wird einem Wunsch nach Verhaltensänderung,
den wir an eine andere Person richten, nicht stattgegeben, so reagieren wir spontan
mit Enttäuschung. Wenn es uns nicht gelingt, die Enttäuschung in uns selber zu
verarbeiten, müssen wir mit der Tendenz zur Rache rechnen: Die Person, die uns
enttäuscht hat, muss bestraft werden. Schon wieder erzeugen wir Druck, und die
kommunikative Situation eskaliert. Ein Überlebensmuster ist aktiv, und manchmal
kämpfen wir so, als ginge es uns an den Kragen, oft bei Themen, die einem
Außenstehenden als Bagatelle erscheinen.
Feedback-Regeln
In der klassischen Kommunikationstheorie wurde eine Reihe von Feedback-Regeln entwickelt, durch die das Senden und Empfangen
von Rückmeldungen konstruktiv ablaufen sollen. Auch die Konzepte der
gewaltfreien Kommunikation dienen diesem Zweck.
Regeln wirken allerdings nur dann, wenn die
Haltung dahinter stimmt. Man kann ein nach allen Regeln lupenreines Feedback
geben (die Person fragen, ob sie das Feedback empfangen will, mit positiver
Anerkennung beginnen, konkretes Verhalten ansprechen und nicht Eigenschaften
der Person usw.), und dennoch misslingt die Mitteilung, weil das Gegenüber die
Intention hinter der Mitteilung als Machtdurchsetzung erlebt.
Es kann sich dabei zwar um eine Projektion handeln
(den Machtanspruch gibt es nur in der Fantasie des Empfängers), aber es ist auch
hier sinnvoll, bei sich selber nachzuschauen, ob nicht doch eine versteckte
Agenda am Werken ist, eine, die mit Druck und Dringlichkeit ein rasches und
gründliches Lernen bei der anderen Person einmahnt und allzu genau weiß, was
geschehen soll und wie das Ergebnis ausschauen muss. Wenn die angesprochene
Person diesen Braten riecht, wird sie vermutlich in eine Position der
Beschämtheit geraten und mit irgendeiner Form der Abwehr reagieren.
Erwartungsfreie Wünsche
Es ist nicht leicht, echte Wünsche ohne
heimliche Erwartungen auszusprechen, aber es ist die einzige Form, bei anderen
Menschen ohne Machtausübung und damit ohne die Möglichkeit einer Beschämung ein
Lernen im Verhaltens- und Gefühlsbereich anzuregen. Wenn die Erfüllung oder
Nichterfüllung des Wunsches im eigenen Inneren gleichermaßen akzeptiert werden
kann, hat die andere Person die größtmögliche Freiheit, von sich aus in einen
Lernprozess einzusteigen. Es ist das ein frei gewählter, also intrinsisch
motivierter Vorgang. Die Erträge dieser Lernvorgänge gehören dem anderen, nicht uns, aber sie können die Kommunikation
zwischen uns verbessern.
Das Zurücknehmen von Macht und das Aufgeben
von Machtansprüchen ist eine der schwierigen Lernaufgaben, die sich uns immer
wieder stellen. Es hilft nichts, sie von den anderen zu erwarten, solange wir
sie selbst nicht gemeistert haben. Vielmehr können wir jede Störung, jede Unpässlichkeit
und Verwerfung, die in der Kommunikation und im Zusammenleben mit anderen
Personen geschieht, als Anlass nehmen, uns in der Tugend des Machtverzichts zu
üben.
Zum Weiterlesen:
Psychologisieren - eine moderne Untugend
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