Aus der sozialen Scham entstehen die Schuldgefühle. Sie haben damit zu tun, dass der eigene Beitrag zu einer sozialen Störung auf einer bewussten oder unbewussten Ebene deutlich wird. Diese Gefühle sollen dazu motivieren, Handlungen zu setzen, die zur Behebung der Störung beitragen, z.B. eine Entschuldigung. Jemand hat auf den Geburtstag eines Freundes vergessen, er erinnert sich daran und empfindet ein Schuldgefühl, das ihn motiviert, aktiv zu werden, um das Versäumnis gutzumachen.
Im vorhergehenden Blogartikel war von der Verachtung des Schwachen die Rede. Im Kontext des sozialen Gewissens hat sie die Funktion, vor Schuldgefühlen zu schützen. Wir tragen alle ein Gefühl für Fairness in uns und es sagt, dass es einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Menschen geben muss: zwischen den Besseren und den Schlechteren, den Schnelleren und den Langsameren, den Ärmeren und den Reicheren, den Stärkeren und den Schwächeren, die Mächtigeren und den Ohnmächtigeren. Das ist Teil des tribalen Bewusstseins, der Urverfasstheit menschlicher Gemeinschaftsbildung, unserer ursprünglichsten sozialen Prägung. Diese Prägung steckt in uns allen, wir haben nur die Wahl sie anzuerkennen oder zu verleugnen, sprich wir können uns die Schuldgefühle bewusst machen, oder sie wirken unbewusst. Die Prägung hatte zur Folge, dass alle weiter entwickelten gesellschaftlichen Organisationsformen Mechanismen des sozialen Ausgleichs eingerichtet haben, von den Almosen aus der Schatulle des Herrschers bis zu den komplexen Regelungen eines modernen Sozialstaates. Viele Superreiche geben einen Teil ihres Überflusses an Schwächere und Benachteiligte.
Der Vorrang des Eigennutzes und seine Folgen
Doch haben wir im Lauf der Zeit (menschheits- und lebensgeschichtlich gesehen) gelernt, vorrangig auf unseren Eigennutzen zu achten und die sozialen Motiven nachzureihen. In einer hochkomplexen Gesellschaft ist für ein einzelnes Individuum nicht mehr möglich, den sozialen Ausgleich zu schaffen. Wollten wir uns um all das Leid kümmern, das die Menschen belastet, kämen wir in einer Großstadt kaum bis zur nächsten Straßenkreuzung. Da bittet ein Bettler um eine Gabe, dort schleppt sich eine alte Frau ab, daneben kommt eine Mutter mit ihrem Kleinkind nicht zurecht, es begegnen uns leere Blicke, einsame und depressive, hektische und verlorene Menschen, so viel Anspannung, sowenig innere Balance. Aber wir können nicht für alle da sein, die etwas brauchen, obwohl uns das soziale Gewissen dazu mahnt.
Deshalb müssen wir das Gewissen beruhigen, um nicht in Schuldgefühlen zu versinken, und nutzen dazu verschiedene Konstrukte, von denen eines die soziale Verachtung erzeugt. Es ist ein radikales Konzept, weil es die menschliche Gemeinschaft in zwei Kategorien teilt, die Starken und die Schwachen. Es ist deshalb erfolgreich, weil es ein weiteres Element des tribalen Bewusstseins aufgreift, die Unterscheidung von Innen und Außen: Das soziale Gewissen ist reduziert auf die Mitglieder der eigenen Gruppe, des eigenen Stammes, der eigenen Gemeinschaft. Alle, die nicht dazugehören, sind potenzielle Feinde und zählen deshalb nicht zu den Menschen, mit denen wir einen Ausgleich suchen müssen. Mit der Komplizierung der menschlichen Organisationsformen verlieren sich auch die eindeutigen Zuordnungen von Freund und Feind, und die Differenzierung wird im Inneren aufgebaut und emotional durch Verachtung abgesichert. Die Adeligen verachten die Nichtadeligen, das Bürgertum, zunächst selber noch vom Adel verachtet, verachtet die Bauern und Arbeiter, und so schichtet sich die Gesellschaft von oben nach unten. Die soziologischen Schichten heute werden vor allem durch Einkommen und Vermögen definiert, und damit sind wir bei der Verachtung jener, die es nicht so weit gebracht haben wie wir selber.
Ideologien der Verdrängung
Individuen gehen mit ihren Schuldgefühlen unterschiedlich um. Ganze ideologische Gedankengebäude wurden errichtet, um bei der Verdrängung des sozialen Gewissens zu helfen. Ein zentrales Dogma unserer Gesellschaft ist darauf gegründet, dass die eigene Leistung ausschlaggebend für die gesellschaftliche Position sein soll (was ja auch in unserer Gesellschaft nur teilweise zutrifft, weil die große Zahl der Riesenvermögen in unserem Land nicht durch Leistung, sondern durch Erbe erlangt werden). Wer genügend geleistet hat, achtet diejenigen, die ähnlich viel leisten, und verachtet jene, die das nicht schaffen. Neoliberale wie konservative Parteien tragen dieses Dogma auf ihren Fahnen vor sich her. Nationale Parteien verachten weniger die Schwachen als eher die Fremden.
Verachtung muss durch Achtung ersetzt werden
Verachtung der Schwachen ist Menschenverachtung. Das bedeutet, dass die Menschheit nur dann in eine bessere Zukunft gelangen kann, wenn sie der Verachtung von Menschen keinen Raum mehr gibt. Verachtung muss überall, wo sie auftritt, durch Achtung und Wertschätzung ersetzt werden, und das gilt ganz besonders im Bereich der Politik, die über das Schicksal von so vielen Menschen bestimmen kann. Wir brauchen also dringend Politiker, die sich dem Respekt und der Menschenwürde für die Starken und die Schwachen in ihrem Handeln (nicht nur in ihrem Reden) verpflichtet fühlen.
Zum Weiterlesen:
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Leistung statt Freude
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