Dienstag, 4. Juli 2017

Epigenetik und die Verantwortung der Mütter

Langsam aber sicher sickern die Erkenntnisse der Epigenetik ins Alltagsbewusstsein: Es gibt erbliche DNA-Veränderungen, die nicht die Gensubstanz, sondern die Genaktivität beeinflussen, also die Weise, wie und wann bestimmte Gene wirksam werden. Solche DNA-Modifikationen wurden in Zusammenhang mit zukünftigen Risiken wie Fettleibigkeit, Diabetes und schwacher Stressreaktion gebracht: Der Lebensstil der Mütter prägt die Gesundheit der Kinder, so wird es auf eine einfache Formel gebracht. Dann schreiben die Zeitungen, dass die Ernährungsweise der Mütter die DNA des Babys verändert oder dass schwangere Mütter, die die 9/11-Katastrophe überlebt haben, ihren Kindern das Trauma übertragen haben. Und da ist was dran, aber durch die mediale Aufbereitung kommt noch ein Drall hinzu.

Denn neue Einsichten in die Natur und ihre inneren Prozesse verbinden sich im öffentlichen Bewusstsein gerne mit alten Vorurteilen und Wertungen. Der Tenor vieler populärer Meldungen zur Epigenetik geht in eine Richtung: Die Mütter sind schuld. Da die epigenetischen Veränderungen im Mutterleib ganz früh schon ansetzen können, liegt es nahe, von werdenden Müttern alles Mögliche zu verlangen, wie sie sich ernähren, wie sie sich vor Stress schützen, wie sie äußere Katastrophen vermeiden usw. Wäre es da nicht im Sinn einer vorsorgenden Politik, Mütter anzuleiten, wie sie richtig leben sollten, und zu überwachen, ob sie das auch tun? Schließlich erspart das der Gesellschaft später Kosten für das Gesundheitssystem bei der Behandlung verschiedener epigenetisch bedingter Erkrankungen.

Natürlich ist es einem heranwachsenden Embryo lieber, wenn sich die Mutter gesund ernährt, nicht raucht, keinen Alkohol trinkt und ein entspanntes Leben führt, voller Vorfreude auf das wachsende Leben. Aber es sind für das Glück des Heranwachsenden die Mütter nicht alleine verantwortlich. Viele Faktoren spielen bei den epigenetischen Prägungen mit: Das soziale Umfeld, die ökonomische und ökologische Situation, die Generationenabfolge und natürlich auch die Väter. 

Darauf weist eine Gruppe von WissenschaftlerInnen hin, die vor der Überinterpretation der Erkenntnisse der Epigenetik warnen und dazu aufrufen, Forschungsergebnisse in ihrem Kontext zu belassen. Z.B. stammen viele der Ergebnisse aus Tierversuchen, die nur sehr bedingt auf Menschen übertragbar sind, doch das wird in den Kurzberichten und Schlagzeilen leicht übersehen, und alle Forschungen isolieren einen Faktor, um die Komplexität zu reduzieren, und beweisen deshalb noch lange nicht, dass nur und ausschließlich dieser Faktor für ein bestimmtes Resultat verantwortlich ist. Deshalb wäre äußerste Vorsicht und Achtsamkeit gefordert, wenn die Erkenntnisse der Wissenschaft in den sozialen Kontext übersetzt und übertragen werden. 

Es ist immer einfacher, eine bestimmte Gruppe von Menschen für Fehlentwicklungen und Missstände verantwortlich zu machen, als die Komplexität der wechselseitigen gesellschaftlichen Bedingtheiten zu berücksichtigen. Es ist einfacher, individuelle Problemlösungen zu verlangen als für die Veränderung der Gesellschaft zu arbeiten. Mütter sind keine isolierten Partikel, die beziehungslos herumschweben, vielmehr sind sie in die verschiedensten Zusammenhänge eingebunden. Deshalb wächst jedes menschliche Wesen in einem sozialen Feld auf, das von Gesellschaft und Kultur sowie von den Traditionen, die weit in die Geschichte zurückreichen, geprägt ist. In diesem Feld ist die Verantwortung breit gestreut, sodass im Grund alle Mitglieder einer Gesellschaft mit ihrer Lebensweise dafür zuständig sind, wie es ungeborenen Babys im Mutterleib geht: Wie kümmert man sich darum, dass Schwangere möglichst wenig unter Stress leiden müssen, sich gut ernähren können und Zeit haben, sich mit dem Geheimnis in ihrem Körper zu beschäftigen? Wie wird für die Bedürfnisse dieser Frauen gesorgt, sodass sie sich gut entspannen können?

Die junge Wissenschaft der Epigenetik ist auch deshalb so spannend, weil sie Determinismus durch Freiheit ersetzt. Wir haben unsere Gene geerbt, da können wir einmal nichts machen, sie repräsentieren gewissermaßen unser Schicksal. Unsere Augenfarbe und Hauttyp sind uns vorgegeben. Andere Aspekte unseres Seins unterliegen unserer Ausgestaltung. Wir können dafür sorgen, die Genaktivierung so zu regeln, dass sie unseren Zielen und Werten im Leben entspricht und wir können epigenetische Prägungen verhindern, die dem entgegenwirken. Wir können unsere Traumatisierungen, die bestimmte Genexpressionen unterbinden, heilen und auflösen. Der Bereich, in dem wir Verantwortung für uns und damit für die Gesellschaft übernehmen können, ist wesentlich größer als es die beschränkte Perspektive der Genetik suggeriert. Es liegt an uns, diese Freiheit zu nutzen.


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