Dann sind wir, wie es schon die griechische Tragödie thematisiert hat, unschuldig schuldig. Unschuldig, weil wir nicht wissen konnten, dass die andere Person verletzt wird, schuldig, weil wir die Verletzung verursacht haben.
Schuld und Entschuldigung
Für diese Fälle gibt es die Ent-Schuldigung, um die wir die andere Person bitten, wenn wir erkannt haben, dass unser Handeln einen physischen oder emotionalen Schaden bei ihr angerichtet hat. Mit der Entschuldigung gestehen wir ein, dass wir in unserem Handeln nicht alle Auswirkungen mitbedacht haben und dass wir einsehen und anerkennen, dass unser Handeln Auswirkungen hatte, die die andere Person belasten.
Im Grund können wir nicht mehr tun als das. Wir stehen zu unserer Schuld und tragen sie. Es liegt dann bei der anderen Person, die Entschuldigung anzunehmen und damit den Zyklus abzuschließen. Wir können diese Annahme nicht einfordern, sie kann nur aus der anderen Person kommen.
Die Annahme der Entschuldigung beinhaltet, dass der Fall damit einvernehmlich geschlossen und in die Vergangenheit verabschiedet wird. Wenn die Person, die sich beleidigt fühlt, nach dem Akt des Entschuldigens und der Annahme weiter Vorwürfe und Beschwerden über den Vorfall äußert, hat sie die Entschuldigung nicht wirklich akzeptiert und setzt sich damit selbst ins Unrecht, lädt Schuld auf sich. Wenn wir eine Entschuldigung nur scheinbar oder überhaupt nicht annehmen können, die offen und ehrlich von der anderen Person kommt, liegt es daran, dass die Verletzung, die passiert ist, eine tiefere Wunde in uns angerührt hat, die weit in die Vergangenheit zurückreicht und nichts mit der Person zu tun hat, die sie aktiviert hat.
Wenn wir auf den weisen Teil in uns hören, können wir jeder Person, die uns gekränkt hat, danken, dass sie uns auf ein Thema aufmerksam gemacht hat, das wir noch nicht aufgelöst haben. Wir können uns für die Hilfe, bewusster zu werden, bedanken. In jeder Verletzung steckt ein möglicher Gewinn für uns selber, wenn wir sie annehmen und ihre Hintergründe erforschen.
Unschuldig in der Schuld
Leider tun wir Menschen uns schwer damit, einzusehen, dass wir in jeder Situation immer nur das tun, was wir gerade als das Beste in unseren Kräften stehende zu tun vermögen; denn könnten oder wüssten wir es besser, würden wir es anders machen. Wir haben in jedem Moment genau jene Kräfte und Potenziale, Fähigkeiten und Durchblicke zur Verfügung, die uns zugänglich sind. Wir sind in jedem Moment genau so gut oder schlecht, wie wir eben sind. Dafür sollten wir uns selbst zuallererst Verständnis und Nachsicht gewähren. Diese Barmherzigkeit uns selbst gegenüber dient dann als Brücke für die Versöhnung mit denjenigen, die uns etwas angetan haben.
Die Überheblichkeit des Schuldgefühls
Wir leiden an Schuldgefühlen. Sie machen uns innerlich Druck, schmälern unseren Selbstwert und verringern unser Wohlgefühl. Unter ihrem Einfluss stellen wir uns selbst in Frage, werten uns ab und machen uns schlecht.
Deshalb mag es seltsam klingen, Schuldgefühle mit Überheblichkeit in Zusammenhang zu bringen. Schuldgefühle entspringen der Annahme, dass wir perfekt sein müssten, unfehlbar und makellos. Und dass wir die Kontrolle und Übersicht über die Wirklichkeit haben müssten, ebenso über die Folgen unserer Handlungen. Doch sind wir nur beschränkte Wesen mit begrenzten Wahrnehmungen und Denkfähigkeiten. Wir sind der Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit der Welt ausgesetzt. Wenn wir diese Tatsache ignorieren, sind wir überheblich. Wir halten uns für mächtiger als wir jemals sein können, wir verwechseln Möglichkeit und Wirklichkeit.
Letztlich ist im Schuldgefühl ein Sich-über-den Lauf-der-Dinge-Stellen-Wollen enthalten, so als hätten wir eine umfassende Macht über das, was passiert – wir haben sie aber nicht. Und das Eingestehen der eigenen Schwäche und Unvollkommenheit ist der erste Schritt zum Verabschieden der Schuldgefühle. Die Regie in unserem Leben liegt nicht bei uns, wir haben nur einen kleinen Gestaltungsspielraum bei dem, was das Ausfüllen unserer Rolle anbetrifft. Wir können neues lernen und damit unsere Freiheitsräume erweitern. Aber der große Teil unseres Denkens und Tuns, selbst unseres Wahrnehmens ist unserer willentlichen Kontrolle entzogen. Nur ein Bruchteil der Operationen, die unser Gehirn vollzieht, ist dem Bewusstsein und der willentlichen Steuerung zugänglich.
Bei unseren Mitmenschen ist es genauso. Deshalb können wir uns vornehmen, ihren Fehlerhaftigkeiten und Unzulänglichkeiten mit Nachsicht und Verständnis zu begegnen, auch wenn wir uns im ersten Moment beleidigt und verletzt fühlen.
Wurzeln in der Kindheit
Unsere Schuldgefühle haben sich ausgeprägt, als wir noch klein waren. Scheinbar waren die Großen, die uns umgeben haben, frei von Fehlern und Irrtümern, scheinbar haben sie immer alles richtig gemacht. Als die Kleinen konnten wir ja nicht wissen, was gut und schlecht, richtig und falsch ist. Erst langsam haben wir erkannt, dass auch die erwachsenen Bezugspersonen unvollkommen sind. Doch da waren unsere Selbstabwertungen innerlich längst schon fest etabliert. Oft wurden wir in unseren Fähigkeiten, uns richtig zu verhalten überfordert, und haben bald begonnen, uns selbst zu überfordern. Deshalb ist der Leistungsdruck eng mit Schuldgefühlen verbunden: Wann immer wir nach irgendeinem Maßstab nicht genug leisten, sollten wir uns schuldig fühlen.
Doch blockiert das Schuldgefühl die Leistungsfähigkeit. Wir können uns zwar von ihm angetrieben und motiviert fühlen, kommen aber unter seinem Druck schnell in Stress, der dann wieder die Leistungsfähigkeit hemmt, weil diese auch einen Entspannungsfaktor braucht. Stress macht uns unkonzentriert und dadurch fehleranfälliger, was die Schuldgefühl-Spirale antreibt und verstärkt.
Schuldgefühle können deshalb die Selbstausbeutung fördern: Über unsere Grenzen gehen, um ja nicht äußerer Kritik zu verfallen, um ja die Erwartungen anderer lückenlos zu erfüllen, tun wir alles, was in unseren Kräften steht, bis diese über die Maßen erschöpft sind. Dieser Mechanismus ist leider eine zentrale Antriebskraft der Leistungsgesellschaft, die die Menschen über die Erfolge definiert, die sie im Leben erzielen, von denen ihre Fehler und Misserfolge abgezogen werden.
Ungeschehen machen
Manchmal wollen wir ungeschehen machen, was passiert ist. Wir haben einen blöden Fehler gemacht, und haben das Gefühl, dass wir mit den Folgen des Fehlers nicht fertig werden können. Deshalb fantasieren wir den Fehler weg, indem wir denken, wie wir anders hätten handeln müssen, damit der Fehler nicht passiert wäre. Wir werden zu Kindern, die noch glaubten, dass magische Kräfte die Welt regieren, die Vergangenheit wie die Zukunft, und dass diese Kräfte auch etwas, was schon geschehen ist, wieder löschen können. Wir meinen, wir könnten die Zeit zurückdrehen und die Geschichte in einer harmloseren Version neu schreiben, sodass wir als die Guten und Vollkommenen aussteigen.
So sind wir mit diesen Fantasien beschäftigt und müssen uns nicht mit den Folgen unseres Fehlers praktisch auseinandersetzen – was uns allerdings in den allermeisten Fällen nicht erspart bleibt. So schieben wir nur hinaus zu tun, was zu tun ist, was wiederum in vielen Fällen den Fehler noch verschlimmert, sodass noch mehr getan werden muss, um ihn auszubügeln. Wir vertrauen nicht auf die Kraft, die wir haben, um nach jedem Versagen wieder aufzustehen, sondern klammern uns an die Illusion, dass wir ohne Anstrengung weiterkommen.
Ein Psychologe sagt vielleicht, dass die Fantasien, die die Vergangenheit umschreiben wollen, einem Probehandeln dienen: Wir wollen imaginär üben, wie wir es beim nächsten Mal besser machen. Mir ist der Blumentopf beim Gießen runtergefallen und indem ich die missglückte Aktion Revue passieren lasse, wie sie hätte ablaufen sollen, ich präge mir ein, wie ich den Fehler das nächste Mal vermeide. Nur: Das nächste Mal gibt es nicht in dieser Weise, die Bewusstheit ist bei der nächsten ähnlichen Handlung ohnehin erhöht. Ich lerne unmittelbar aus den Folgen meines Tuns, was in das nächste Mal einfließt. Fehler schulen meine Achtsamkeit.
Das Vergangene der Vergangenheit
Was geschehen ist, ist geschehen, es lässt sich nicht mehr ändern. Wir wissen es ja, wollen es aber oft nicht wahrhaben, wenn wir noch im Schock des Fehlers stehen. Auch der Fehler gehört in die Vergangenheit, ins Jetzt gehört das Umgehen mit den Folgen – Reparieren, was kaputt gegangen ist, Wiedergutmachen, was als Schaden angerichtet wurde usw. Wenn getan wurde, was getan werden kann, sollte das Leben wieder weitergehen und das ganze Ereignis, die fehlerhafte Handlung und die Bewältigung der Folgen, in die Vergangenheit verabschiedet werden. Wir haben die Lektion gelernt und sind in Bewusstheit und Achtsamkeit gewachsen.
Wenn wir die von Überheblichkeit geprägte Haltung der eigenen Selbstüberschätzung hinter uns gelassen haben, brauchen wir keine Schuldgefühle mehr. Wir wissen, dass wir manches gut und manches weniger gut machen, dass wir fehleranfällig sind, eben Projekte im Werden, die durch Lernen flexibler und kreativer werden. Mit Schuldgefühlen binden wir uns an die Vergangenheit und hindern uns daran, den gegenwärtigen Moment voll auszuschöpfen und mit unserer Kraft und Gestaltungsfreude mitzugestalten.
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