Sonntag, 26. Oktober 2014

Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass Körper und Seele nicht ein und dasselbe sind, sondern zwei verschiedene Entitäten, die zwar immer wieder zusammen sind, dann aber wieder auseinandergehen können? Viele Menschen glauben daran, dass es nach dem Tod endgültig auseinandergeht und das kurzfristige Zusammensein von Körper und Seele ein für allemal vorbei ist. Viele Menschen glauben auch daran, dass es vor dem Beginn der eigenen Existenz schon die selbständige Seele gegeben hat, die dann in den neu entstehenden Körper „hineinschlüpft“.

Deshalb sind auch häufig Sätze zu hören wie: „Ich passe nicht in dieses Leben“, oder „Dieser Körper ist mir fremd oder zu eng“, „Ich gehöre nicht auf diesen Planeten“ usw. Der Glaube an das Getrenntsein von Körper und Seele bietet eine Erklärung für solche Aussagen, hinter denen häufig eine innere Verzweiflung steckt. Er kann beruhigend und versöhnlich wirken: Jetzt muss ich das noch aushalten, und irgendwann finde ich meinen Frieden wieder, wenn ich diesen Körper verlassen kann.

Außerdem bietet der Glaube Trost bei der Vorstellung des eigenen Todes. Wenn nur ein Teil des eigenen Selbst vergeht, ist die Aussicht auf das Sterben nicht so furchterregend als wenn wir uns darauf einstellen müssen, dass mit dem Tod „alles vorbei“ ist. Wir können also die Angst vor dem Nichts ein Stück bannen.

Wenn jemand seinen Glauben mit der Erlaubnis verbindet, diesen unter Anwendung von Gewalt zu verbreiten, dient dieser Aspekt des Glaubens dazu, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen in der Erwartung, auf der Seelenebene dafür entlohnt zu werden, das umso mehr, je mehr „Ungläubige“ oder „Andersgläubige“ durch die eigene Tat in den Tod gerissen werden. Die Idee, auf die man in diesem Zusammenhang ja auch kommen könnte, dass sich etwa die Seelen der unschuldig in die Luft gesprengten Opfer der eigenen Gewalttätigkeit auf der Seelenebene dann rächen möchten, wird tunlich vermieden und kommt in der entsprechenden Propaganda nicht vor. Vielmehr werden ungetrübte paradiesische Freuden versprochen, die dann auf ewig anhalten.

Es sind also nicht nur harmlose Selbstberuhigungen von verzweifelten Seelen, die mit Hilfe dieser Glaubensform dem inneren Frieden dienen sollen. Denn ein Gutteil der Brutalität, mit denen um Glaubensfragen gekämpft wurde und gekämpft wird, kann dem dualen Körper-Seelen-Modell zugerechnet werden. Die Todesverachtung der „Gotteskrieger“ lebt von dem Glauben, dass es die beste Investition in das eigene Seelenheil ist, für ebendiesen Glauben zu sterben – ein geschlossenes System, das unendlich viel Unheil auf dieser Welt verursacht oder zumindest mitbewirkt hat.


Das analytische Denken


Fragen nach dem Anfang und dem Ende stehen nicht am Anfang unseres Lebens. Dazu brauchen wir eine weitentwickelte Denkfähigkeit, die sich langsam im Lauf der Kindheit entwickelt. Vorher vollzieht sich unser Leben, ohne dass wir es in einem größeren Zusammenhang einordnen können. Sobald aber unser Denken die Zeitfunktion so weit ausdehnen kann, dass der eigene Anfang und das eigene Ende in den Blick kommen, beginnen wir die Deutungsangebote zu verstehen, die unsere Kultur für diese Themen entwickelt hat, z.B. die Deutung, dass die Seele nach dem Tod des Körpers weiterleben wird, oder dass sie vor der Geburt schon bestanden hat und dann, nach dem eigenen Lebensende, wieder in einem neuen Körper eine neue Chance erhält.

Mit der Entwicklung unserer Denkfähigkeit erhalten wir also die Möglichkeit, Zusammengehöriges als Unterschiedenes zu erleben. Das nennt man das analytische Denken, das etwas Ganzes virtuell in seine Teile zerteilen kann. Z.B. können wir die Platte eines Tisches als unterschieden von seinen Beinen wahrnehmen. Der Tisch bleibt zwar ein Ganzes, aber unser Denken bringt einen Unterschied in ihn hinein.

Diese Funktion ist in vielen Bereichen sehr nützlich, weil sie uns z.B. die Konstruktion von neuen Wirklichkeiten ermöglicht. Ich kann einen Tisch nur fertigen, wenn ich bei einem Tisch die Platte von den Beinen unterscheiden kann. Das analytische Denken zerlegt die Wirklichkeit, sodass wir sie wieder neu zusammensetzen können.

Diese Form des Denkens hat allerdings ihre Grenzen dort, wo es um unser Leben als Ganzes geht. Wir können zwar unsere eigene Lebendigkeit analysieren, also in ihre Teile zerlegen und reflektieren, und das kann manchmal hilfreich sein, z.B. wenn wir einen körperlichen Schmerz spüren, aber uns nicht ganz von ihm ergreifen lassen, damit wir handlungsfähig bleiben. Dem Geheimnis des Lebens – unseres Lebens – kommen wir damit nicht auf die Spur.

Bei der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele leistet uns eben das analytische Denken keine Hilfe. Es kann uns wohl klar machen, was wir wissen können: z.B. dass wir keine Kenntnis und keine Erfahrung über ein seelisches Bewusstsein haben, ohne dass ein Körper daran beteiligt wäre. Alles, was wir erleben, erfahren, denken setzt diesen Körper voraus. Dieser Bedingungszusammenhang ergibt sich aus den analytischen Untersuchungen, wie sie in wissenschaftlichen Forschungen angewendet werden.

Wie also kommen wir auf die Idee, unseren Körper und unsere Seele auseinander zu denken? Wir können das deshalb, weil wir über Erfahrungen mit dieser Trennung schon gemacht haben. Wenn wir in eine traumatische Situation geraten, spaltet sich unser Bewusstsein vom Körper, der z.B. gerade unerträglichen Belastungen ausgesetzt ist. Das Bewusstsein fühlt sich in dieser Situation frei und gelöst an, und damit ist es möglich, die Situation zu bewältigen, ohne dass alle inneren Systeme zusammenbrechen. Dieser Vorgang der Dissoziation ist uns allen vertraut, weil wir alle derartige traumatische Situationen zu bewältigen hatten. 

Aus diesen Erfahrungen nehmen wir das Gefühl mit, dass es befreiend ist, sich vom Körper zu lösen und vergessen leicht die belastenden Umstände ringsherum. Vielmehr speichern wir ab: Wenn es gefährlich, unangenehm, schmerzhaft oder lebensbedrohlich wird, haben wir die Möglichkeit, uns von uns selber zu trennen und an einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit flüchten zu können, wo uns nichts passieren kann.

Deshalb erscheint es uns natürlich und vertraut, wenn uns jemand auf die kindliche Frage, was denn nach dem Tod sei, erzählt, dass die Seele aus dem Körper entweicht und an einem wunderschönen Platz weiterleben wird, oder dass sie sich dann einen neuen Körper suchen wird, den sie dann wieder eine Zeitlang beleben wird. 


Trauma und Dissoziation


Deshalb können wir davon ausgehen, dass die dualistischen Weltbilder dissoziative Weltbilder sind. Sie stellen Versuche dar, die Welt mit Hilfe einer Traumaerfahrung zu erklären und auf diesem Weg „Heilung“ in die Welt zu bringen. Sie ziehen ihre Plausibilität aus der Tatsache, dass vermutlich alle Menschen über solche Traumaerfahrungen verfügen. Sie beruhen allerdings auf einer Illusion und sitzen einer Täuschung auf: Die dissoziative Trennung ist ja keine reale, sondern eine eingebildete. Ein spezieller Schutzmechanismus, den uns die Natur zur Verfügung stellt, bewirkt, dass wir die Illusion bekommen, als wäre die Seele vom Körper getrennt. In Wirklichkeit findet dieses Erleben nach wie vor im Körper, im eigenen Gehirn statt.

Doch ist die Plausibilität so groß und die Bedeutsamkeit der dahinterliegenden Erfahrungssituation so gravierend, dass wir bereit sind, den Glauben über die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit zu stellen, sodass wir schließlich Körper und Seele als getrennt „erleben“ (wohlweislich durch das traute Zusammenwirken dieses Körpers und dieser Seele).

Dazu wirkt die pragmatische Wirkung verstärkend, weil wir einen Trost für vieles im Leben haben, was uns schwerfällt zu akzeptieren. Was hilft, muss auch wahr sein, und jeder rationale Zweifel daran muss unterdrückt werden, damit diese Hilfsfunktion nicht verloren geht.


Das Ende der Illusionen


Freilich können Illusionen keine Heilung bewirken, sondern nur eine teilweise Erleichterung. Die Ängste, die auf die Traumatisierungen zurückreichen, bleiben erhalten und reduzieren die kreativen Kräfte und binden die Quellen der Lebensfreude. Erst wenn es gelingt, diese Ängste in einer schützenden Umgebung zu durchleben, wird es möglich, die Seele wieder in ihrer Gänze als mit dem Körper verbunden zu erleben. Dann findet die wirkliche „Inkarnation“, die Vergeistigung des Körpers und die Verkörperlichung des Geistes ins unmittelbare Erleben Eingang. Dann wird jeder Glaube an eine Trennung von Körper und Seele überflüssig und nutzlos. Was immer schon eine Einheit war, wird solange eine Einheit bleiben, solange es die Kräfte des Körpers erlauben. Mit ihnen nehmen auch die Kräfte des Geistes ab, wie wir immer wieder beobachten können. Was passiert, wenn sich das Leben aushaucht, wissen wir nicht und brauchen es auch nicht zu wissen, solange wir dem Leben im Augenblick vertrauen.

Wenn wir uns der tröstenden Wirkung des Glaubens an eine Trennung von Körper und Seele hingeben wollen, sollten wir uns bewusst sein, dass wir uns einer Illusion bedienen. Sollten wir denn den Mut finden, nach den Wurzeln unserer Verzweiflung und unserer Ängste zu forschen, so ist uns der Lohn schon in diesem Leben gewiss, und damit schwindet die Gier auf weitere Leben oder auf paradiesische Freuden in einem postmortalen „Leben“. Wir gehen in diesem Lebensmoment auf, der uns schon alles schenkt, was wir zur Erfüllung brauchen.


Vgl. Außerkörperliche Erfahrungen und die Leib-Seele-Dualität
Allerfahrung und Nicht-Dualität
Sind wir zwei oder eins?

3 Kommentare:

  1. Lieber Wilfried!

    Danke für den schönen Beitrag. Er erinnert mich an die ontologische Debatte zum Verhältnis von Natur und Kultur. Auch dabei führt ein gegenständliches Verständnis (also die Vorstellung einer eigenständigen Entität) von Natur und Kultur zu Problemen: sowohl die Naturalisierung von Kultur (was die Soziobiologie betreibt) als auch die Kulturisierung von Natur (was im sozialen Konstruktivismus betrieben wird) sind problematische Verkürzungen auf deren Konsequenzen ich hier aber nicht eingehen möchte.

    Einen wesentlichen Aspekt deiner Analyse teile ich jedoch nicht: nämlich dass uns das analytische Denken in diese Misere bringt. Um das zu illustrieren ist es notwendig zwischen der Fähigkeit zu unterscheiden und zu trennen zu unterscheiden. Leib und Seele voneinander zu unterscheiden mag sinnvoll sein. Das hängt mit der Erfahrungsebene, die du im Beitrag angesprochen hast, zusammen. Sie zu trennen und als eigenständige Entitäten zu betrachten ist ontologisch gesehen sehr problematisch. Es scheint mir daher sinnvoll und notwendig Körper und Seele als zwei Dimensionen der Existenz und Erfahrung zu verstehen, die nicht getrennt werden können.

    lG, Wolfgang

    PS: aus wissenschaftlicher Redlichkeit heraus ist hier anzumerken, dass der Grundgedanke dieses Kommentars einem Artikel von Pollini entlehnt ist, der 2013 in Environmental Values publiziert wurde.

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    1. Lieber Wolfgang,
      danke für die wertvollen Anmerkungen - ich musste dreimal drüberlesen, dann war mir klar: Es geht dir um den Unterschied zwischen unterscheiden und trennen.
      Zur Rettung des analytischen Denkens: Ich habe es so gemeint: Erfahrungen mit traumatischer Dissoziation bilden den Erfahrungshintergrund für das, was dann mit Hilfe des analytischen Denkens zwei getrennten Seinskategorien zugeordnet wird. Mit dem analytischen Denken verfügen wir über ein Werkzeug zur Wirklichkeitskonstruktion, das wir aber auch dafür verwenden können, um uns vor den Ängesten tiefliegender Traumatisierungen zu schützen.
      Ich finde es auch aus verschiedenen Gründen und in vielen Zusammenhängen sinnvoll, zwischen Körper und Seele zu unterscheiden. Wichtig wäre es dabei, die Einheit immer mit zu berücksichtigen.

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  2. Lieber Wilfried,
    dass ich das analytische Denken retten wollte ist wahrscheinlich übertrieben. Das stand für mich eigentlich gar nicht zur Diskussion. Was ich auf jeden Fall wollte ist, darauf hinweisen, dass Analyse nicht mit trennen gleichgesetzt werden muss, sondern eben auch die Fähigkeit zu unterscheiden beinhaltet und damit mehr ist als zu trennen.

    Die grundsätzliche Frage des Verhältnisses zwischen unserem Denken und unseren körperlichen Prägungen (inklusive Traumatisierungen) finde ich sehr wichtig und völlig vernachlässigt. Das hat wohl auch gesellschaftliche Ursachen, weil der Verstand und analytische (technische) Fähigkeiten so einen hohen Stellenwert haben. Je stärker wir uns über unser Denken definieren desto kraftvoller und wichtiger werden auch die mit Traumatisierungen verbundenen Denkgewohnheiten oder Konzepte für uns. Denke es ist aus gesellschaftlicher Perspektive Zeit für eine Kultur in welcher der Körper mehr Aufmerksamkeit und Beachtung erfährt. Dazu gibt es auch ein schönes Zitat von Einstein in dem es auch um die "Körperlichkeit des Verstandes" geht :-) “The intuitive mind is a sacred gift and the rational mind is a faithful servant. We have created a society that honors the servant and has forgotten the gift.”

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