Freitag, 19. September 2014

Ansteckender Stress

Stressstörungen gelten als die häufigsten psychischen Störungen, wenn nicht überhaupt chronifizierter Stress der Schlüsselfaktor für die meisten Erkrankungen ist. Denn Stress schädigt das Immunsystem und dereguliert viele andere für unsere Gesundheit wichtige Körperfunktionen. Wir sind nicht für Daueranspannung ausgestattet. Stress kann aber nicht nur von innen (z.B. durch Sorgen oder Ängste), sondern auch von außen ausgelöst werden: durch stressbelastete Menschen. Dieser Zusammenhang konnte nun experimentell belegt werden.

In einer umfassenden Studie untersuchten Forscher der Abteilung für Soziale Neurowissenschaft des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und der Abteilung für Psychologie der Technischen Universität Dresden die Frage, ob sich Stress, der rings um uns entsteht, uns „anzustecken“ vermag. Gibt es also empathischen Stress (definiert als ausgeprägte physiologische Stressreaktion, die allein durch das Beobachten von jemandem entsteht, der sich gerade in einer stressigen Situation befindet), und dringt dieser Stress bis in den Kern des Stresssystems vor, in die HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophyse-Adrenalin-Achse)? Es wurde also in der Studie zwischen einer unspezifischen Erregung des sympathischen Nervensystems und der spezifischen Aktivierung der cortisolproduzierenden HPA-Achse unterschieden. Weiters wurde untersucht, ob diese empathische Stressreaktion durch die Bekanntheit zwischen Beobachter und Zielperson, durch die Modalität der Beobachtung (virtuell – real) und durch das Geschlecht beeinflusst wird.

Insgesamt zeigten 26% der Beobachter einen signifikanten Cortisol-Anstieg, wenn sie andere gestresste Menschen beobachteten. Gab es zwischen Beobachter und Zielperson eine hohe Bekanntheit, so stieg der Wert auf 40%, und bei der Repräsentation des Stressors in einer wirklichen Lebenssituation auf 30% im Vergleich zu einer virtuellen Situation. Das Vorkommen des empathischen Stresses, der bei manchen Versuchspersonen bei völlig fremden Personen und bei nur virtueller Beobachtung auftrat, kann wichtige Auswirkungen auf die Entwicklung von stressbezogenen Störungen haben.

Interessanterweise hat das Geschlecht keinen Einfluss auf das Empfinden von empathischem Stress, Männer reagierten in dieser Studie gleich wie Frauen, obwohl die allgemeine Meinung den Frauen eine höhere Empathiefähigkeit zuschreibt.

Jedenfalls konnte gezeigt werden, dass empathischer Stress nicht nur ein subjektiv-psychologisches Phänomen ist, sondern bis in den Kern unseres physiologischen Stresssystems hineinreicht und von dort aus gesteuert wird. Daraus kann geschlossen werden, dass wir viel mehr Stress aufnehmen, ohne es zu merken und ohne ihn zu verarbeiten. Wer sich durch den hektischen Verkehr in einer Großstadt bewegt und am Abend geschlaucht ist, hat vielleicht gar nicht wahrgenommen, dass sich der geballte Stress der vielen Menschen im eigenen System niedergeschlagen hat. Dann wird noch das Fernsehgerät eingeschaltet, und ein Aufreger jagt den nächsten, und wieder lagert sich im Inneren der Stress ab, weil wir auch gegen virtuellen Stress nicht immun sind.

Das Erleben von empathischem Stress muss allerdings nicht unbedingt negativ gesehen werden. Es handelt sich auch um eine nützliche Fähigkeit. Sie weist darauf hin, dass Menschen natürlicherweise darauf angewiesen sind, die Situation von anderen zu verstehen und sich darauf einzustimmen. Mütter (und Väter) sollten den Stress ihrer Babys verstehen und richtig deuten können, um ihn entsprechend gut beruhigen zu können. Darüber hinaus könnte hier der Antrieb für soziales Verhalten liegen, wie ich es selber in der Schlussphase des Wachauhalbmarathons erleben konnte: Ich war kurz unachtsam und stolperte über den Fuß eines zur Abgrenzung aufgestellten Aluminiumgitters. Ich bin nicht gefallen, aber ein fremder Laufkollege neben mir streckte gleich die Hand aus, um mich zu halten. In dieser Phase des Laufes hat jeder nur mehr das Ziel vor Augen, aber es scheint einen stärkeren Impuls zu geben, der die Not eines anderen bemerkt und zu Hilfe eilen will. Meine Frau konnte beim Zieleinlauf beobachten, wie einem Läufer die Beine versagten und andere ihm noch ins Ziel helfen wollten, obwohl sie für diese Tat der Nächstenhilfe vielleicht ihre persönliche Bestleistungen des Tages verfehlten.

Verfügen wir also über eine biologisch verankerte Grundreaktion zur Nächstenliebe? Ist sie nicht nur ein ethischer Imperativ, dem wir folgen sollten, sondern entspricht es eigentlich unserer Natur, Menschen in Not zu helfen, weil unser Nervensystem sofort empathisch reagiert, wenn andere in Stress geraten?

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass ein langfristig erhöhter Kortisolspiegel sehr wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Die Natur hat uns offenbar auf Situationen vorbereitet, in denen es darum geht, kurzfristig auf Belastungen und Nöte anderer Menschen einzugehen, um Abhilfe zu schaffen. Wenn allerdings die Anspannung andauert, leidet der eigene Organismus und damit die Gesundheit Schaden. Wenn also der empathische Stress chronisch wird, gilt es gegenzusteuern. Das kann der Fall sein, wenn z.B. in einer Familie Menschen unter langwierigen Krankheiten oder unter psychischen Störungen leiden und die Menschen im Umfeld dann unter den Folgen des empathischen Stresses zu leiden beginnen. Wenn Kinder in einem derartigen Umfeld aufwachsen, ist es nicht verwunderlich, wenn sie mit einem hohen Grad an innerem Stress ins Leben gehen.


Den Hinweis auf die Studie verdanke ich Catherine Dowling. 



Vgl. Fernsehkonsum und Lebenserwartung
Vgl. Stressansteckung und die Pflicht zum Entspannen

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