Samstag, 20. September 2014

Verlust der Ideale?

Eine Langzeitstudie untersuchte Werthaltungen bei US-amerikanischen Studentinnen und Studenten zwischen 1966 und 2002. Anfangs, also mitten in den sechziger Jahren, wollten 80% vor allem eine „bedeutungsvolle Lebensphilosophie“ entwickeln. Nur für eine Minderheit war es entscheidend, finanziell sehr gut aufgestellt zu sein und viel Geld zu verdienen. Dann begannen sich diese Einstellungen allmählich zu verändern. 1977 hielten sich die Angaben exakt die Waage: Viel Geld zu verdienen und eine prägende Lebensphilosophie waren den Befragten in etwa gleich wichtig. Dann drehte sich das Verhältnis um, und seit Mitte der neunziger Jahre spielt der finanzielle Status für etwa 75% der Studenten die herausragende Rolle. Nur mehr 40% gaben an, dass ihnen eine bedeutende Lebensphilosophie ein Anliegen sei.

Wie kann diese Entwicklung mit Hilfe des Modells der Bewusstseinsevolution verstanden werden? Die „bedeutungsvolle Lebensphilosophie" gilt als Frage nach verbindlichen Wertvorstellungen, die in der eigenen Verfügbarkeit liegen. Was ist mir wichtig im Leben? Vermutlich ist damit auch gemeint, einen weiteren Horizont im Blickfeld zu haben, der über die unmittelbaren eigenen Belange hinausreicht. Das sind Kennzeichen des personalistischen Bewusstseins: Das Infragestellen der übernommenen Einstellungen und das Finden einer eigenen Sicht auf das Leben und seiner Sinnhaftigkeit sowie der Blick über den Tellerrand der eigenen Belange hinaus, der für das Übernehmen von Verantwortung für die größeren Probleme der Welt motiviert.

Die Wichtigkeit von finanziellem Erfolg dagegen wird der vor der personalistischen Stufe liegenden materialistischen Stufe zugeordnet. Das Gelingen des eigenen Lebens primär daran zu bemessen, wieviel Geld verdient werden konnte, ist ein typisches Merkmal dieser Entwicklungsstufe. Das Leben soll durch Besitz und Verfügung über Sachen abgesichert werden.

Deshalb zeigt diese Untersuchung, dass bei der befragten Personengruppe eine Rückentwicklung in Bezug auf die Bewusstseinsevolution stattgefunden hat. Studenten gelten ja im Allgemeinen als eine Gruppe, die neuen Werthaltungen gegenüber offen steht, veränderungsbereit und flexibel ist. Wie kann es also sein, dass innerhalb von fast 40 Jahren fortgeschrittenere gegen überholte Wertvorstellungen eingetauscht wurden?

Ich interpretiere die Entwicklung nicht als eine Rückkehr des Kapitalismus, wie sie viele nach dem Fall der kommunistischen Systeme in Osteuropa diagnostiziert haben. Vielmehr sehe ich die Entwicklung so, dass der Kapitalismus ungebrochen weiter wächst und immer mehr Bereiche des Lebens erfasst, dass er sich gewissermaßen zunehmend in die Feinstrukturen des Lebens hinein ausbreitet. Dieses Wachstum hat noch lange nicht seinen Plafond erreicht. Da wir erst lernen müssen, diese Tiefenarbeit der materialistischen Verführungen und Selbsttäuschungen zu durchschauen, sind dort so viele Energien gebunden, dass andere Werte in den Hintergrund treten. Damit wird personalistisches Denken zum Luxus, und „idealistische“ Werthaltungen werden geopfert. Was dann bleibt, ist der Rückgriff auf die materialistische Lebenseinstellung, die dann automatisch wieder auf den Plan tritt und wieder stärker das Innenleben bestimmt.

Verschwimmende Fronten


Im 19. Jahrhundert bis weit ins 20. hinein waren die Fronten viel klarer spür- und erkennbar: Hier die ausbeutenden Kapitalisten, dort die ausgebeuteten Arbeiter, erkennbar an ihren ausgemergelten und ausgezehrten Körpern. Damit waren auch einfache Lösungen in Sicht: Die Entmachtung der Kapitaleigner und die Umverteilung der Erträge in die Hände vieler. Einiges konnte erreicht werden, was sich an der Ausbreitung des Wohlstandes in den entwickelten Ländern zeigte. Noch lange ist auf dieser Wegstrecke nicht alles getan, was zu tun ist; nach wie vor wächst der Reichtum in den ganz obersten Schichten, während die Lebensmöglichkeiten der großen Mehrheit stagnieren oder leicht schrumpfen. Noch ist das Problem der Armut auch inmitten des Reichtums nicht gelöst.

Aber die relative materielle Sicherheit, der sowohl durch die kapitalistische Produktionsweise wie auch durch deren politische Regulierung erreicht werden konnte, hat bei vielen zur Trübung des Blickes geführt. Dort, wo keine Fronten sind, braucht es keine Ideale, um sie zu überwinden. Wenn in unseren Gesellschaften fast alle zwar ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, aber dafür permanent die Substanz ihres Körpers aufzehren müssen, indem der Erwartungsdruck an die Leistungsfähigkeit stetig erhöht wird, fallen viele auf die Kämpfermentalität zurück. Das gesellschaftspolitische Ideal verblasst als Korrektiv, weil der Daseinskampf in der Leistungsmaschinerie nur mehr Platz lässt für die von Konsumsystem angebotenen Erholungsmöglichkeiten. Um diese Angebote zu nutzen, die punktgenau auf die Bedürfnisse der Selbstausbeuter eingestimmt sind, braucht es keine Ideale, vielmehr schwindet ihre Attraktivität, je kurzfristiger die Konsumanreize ausgetauscht werden. Wie im Arbeitsleben die fordernden Reize immer mehr werden und immer schneller kommen, ist das Freizeitangebot vom gleichen Druck geprägt, in dem die permanent sich erneuernden Spielzeuge auf den Markt geworfen und gekauft werden, um kurze Glücksmomente zu bescheren.

Die inneren Horizonte werden in dem Maß enger, wie wir es uns leisten können, jeden beliebigen Ort dieser Erde zu bereisen. Die kreative Spannung, die das Erleben eines unbefriedigenden Ist-Zustandes mit dem als Ideal angestrebten Soll-Zustand verbindet, schrumpft bei vielen Menschen, die ihr inneres Getriebensein nicht mehr loswerden können, auf die Spannung zwischen dem außengesteuerten Zustand in der Arbeitswelt und dem Konsumparadies der Freizeitwelt. Da braucht es keine Visionen mehr, die über die nächsten Einkaufs- oder Reiseziele hinausweisen.

Die absoluten Grenzen des Kapitalismus


Nachdem Bewusstseinsstufen immer mit kollektiven Ängsten verbunden sind, zeigt sich an diesem Beispiel, dass „alte“ Ängste mobilisiert werden, wenn das Neue vom Alten überholt wird. Doch sollte das, wenn wir auf die Kraft der Evolution vertrauen können, nur ein kurzfristiges Phänomen bleiben. Denn innerpsychisch laufen sich die Kreisläufe von Gier und ihrer konsumatorischen Befriedigung irgendwann tot, und der Wunsch nach dem Ausbrechen in neue Dimensionen erwacht. Wir bleiben Menschen, auch wenn wir scheinbar im Meer der geschürten Begierden versinken. Menschen sind immer mehr als das, was sie tun und was sie im Moment für wichtig erachten. Immer, wenn Ängste vorherrschen, ist uns der Blick auf die Fülle unserer Möglichkeiten verstellt. Doch wirkt tiefer in uns eine Kraft, die sich von den Ängsten befreien und in die Weite wachsen will.

Ich vermute, dass der Kapitalismus so lange weiter wachsen muss, bis eine absolute Grenze erreicht ist. Denn er hat so viele selbstbelohnende Mechanismen eingebaut, die alle ein suchterzeugendes Potenzial haben, wie wir z.B. an den Mechanismen von Werbung und Konsum erkennen können. In ihrer Raffinesse sind sie der Gutgläubigkeit der gestressten Menschen meist einen Schritt voraus, sodass wir immer wieder auf die Schleifen von Gier und Belohnung hereinfallen werden.

Diese absolute Grenze liegt einerseits in der „großen Natur“, in der Begrenztheit unseres Heimatplaneten. Wenn die Regelsysteme der Erde, ihrer Oberfläche und der Atmosphäre durch den Einfluss der industriellen Produktion und Lebensweise soweit durcheinandergebracht worden sind, dass das Überleben der Menschheit gefährdet wird, kommt es entweder zu einem Umdenken, zu einer umfassenden Bewusstseinsentwicklung oder zum Siechtum und langsamen Tod der Menschheit, dieser wunderbaren Einzigartigkeit in den Weiten des Alls..

Die andere Grenze liegt in der Körperlichkeit der Menschen, für welche das gegenwärtige Wirtschaftssystem in den meisten Bereichen eine extreme Herausforderung darstellt. Denn die Belastung verschiebt sich zunehmend vom Körperlichen ins Physische. Die hart geforderten und physisch ausgebeuteten Arbeiter der Industrie werden immer weniger, und die Leute, die an ihren Schreibtischen immer mehr erledigen müssen, werden zunehmend mehr

Um die innere Überlastung zu spüren, brauchen wir die ausgeprägte Fähigkeit des inneren Sinnes, der inneren Wahrnehmung. Diese zu trainieren und zu verfeinern wird deshalb zu einer der wichtigsten Überlebensstrategien in der aktuellen Phase des Kapitalismus. Denn nur in unserem Inneren können wir erkennen, wann wir uns überfordern und wann wir gegen unsere eigenen Wünsche und Interessen handeln. Mit dieser Fähigkeit finden wir den Ausweg aus der Selbstausbeutung und aus den Schleifen der angestachelten Gier.

Jeder, der diesen Weg geht, verliert das drängende Interesse an den Konsumverlockungen und ersetzt sie durch personalistische Werte. Die kurzfristigen Glücksverheißungen der Warenwelt werden unwichtiger, und die Freude an einfachen Erlebnissen und Erfahrungen wächst. Dann kann es auch gelingen, die starre Trennung von belastender Arbeitszeit und befreiender Freizeit zu lockern.

Wie das gehen könnte, zeigt das folgende Zitat des vietnamesischen Achtsamkeitsmeisters Thich Nhat Hanh: „Üblicherweise machen wir einen Unterschied zwischen ‚Arbeitszeit‘ und Freizeit‘. Doch mindert ein solches Denken unsere Freude und unseren Erfolg bei der Arbeit. Wir können so arbeiten, dass wir Wahlmöglichkeiten erkennen in dem, was wir tun und wie wir es tun. Wir können arbeiten und dabei Gelegenheiten zur Freude finden; wir verharren nicht in der Gewohnheit, uns unter Druck und Stress zu versetzen und darunter zu leiden.“ (Thich Nhat Hanh: Achtsam arbeiten, achtsam leben. O.W. Barth 2013, S. 27)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen