Samstag, 11. Januar 2014

Geschlossene Systeme und ihr Zentrum


Geschlossene Systeme kreisen um ein Zentrum. Darin befindet sich etwas, das nicht in Frage gestellt, kritisiert oder verändert werden darf und kann. Das Zentrum wird absolut gesetzt und der relativen Sphäre entzogen. Es wird mit einer Sphäre des Glaubens umgeben. Das Wissen endet an der Schwelle zum Zentrum, Zutritt zu ihm hat nur, wer bedingungslos glaubt.


Zentren in den Religionen


Bei den Offenbarungsreligionen befindet sich die Offenbarung im Zentrum. Dort hat Gott zu Menschen gesprochen, und das, was er da gesagt hat, gilt absolut, darf also keiner Relativierung ausgesetzt werden. Bei (anderen?) Sekten ist es häufig das Wort des Sektengründers oder der Gründerin, das kritiklos akzeptiert werden muss. Und wenn er aus seiner höheren Eingebung befiehlt, dass sich alle Gruppenmitglieder umbringen müssen, dann wird dem auch kritiklos Folge geleistet.

Im geschlossenen System ist also das Zentrum absolut gesetzt, und alles herum ist relativ, auf das Zentrum bezogen. Das Zentrum entscheidet, was richtig und was falsch ist, und diese Entscheidungen gelten absolut. Das Zentrum ist vollkommen, und alle außerhalb davon ist unfertig und fehlerhaft. Meist gilt auch: Je näher jemand dem Zentrum kommt, desto näher kommt sie der Vollkommenheit. Wer sich daran hält, kann Karriere machen (z.B. im geschlossenen System einer Diktatur), wer sich nicht daran hält, muss mit schlimmen Konsequenzen rechnen (z.B. ein längerfristiger Aufenthalt in der Hölle im Fall des Christentums oder Islams). 

Das Zentrum generiert die Regeln, die das geschlossene System geschlossen halten, obwohl sich die Zeit weiterbewegt und dauernd neue Einflüsse auf das System einwirken. In der katholischen Kirche galt der Satz: "Roma locuta, causa finita." - Wenn Rom gesprochen hat, ist der Fall abgeschlossen. Innerhalb des geschlossenen Systems dürfen so lange unterschiedliche Meinungen vertreten werden, darf es also so lange offene Systeme geben, bis das Zentrum gesprochen hat, was die Wahrheit ist, dann müssen alle den Mund halten und gehorchen. Die Geschlossenheit ist wieder hergestellt.

Für die katholische Kirche gilt also Rom und damit der Papst (als Stellvertreter von Jesus Christus auf der Erde) als Zentrum. Er wurde ja im 19. Jahrhundert mit der Gabe zu unfehlbaren Lehrmeinungen betraut. Aus diesem Zentrum fließen alle Regeln, die der Gläubige für sein Leben braucht, um sich in den richtigen Bahnen zu bewegen. Jeder neue Einfluss muss geprüft werden und wird entweder gebilligt oder verworfen. Deshalb gab es einen Index mit verbotenen Büchern, Dogmen, die dadurch definiert waren, dass jeder als Ketzer gilt, der nicht an sie glaubt, Verfahren gegen Angehörige der eigenen Kirche, die abweichende Meinungen vertreten, Verurteilungen von Gedanken oder Ideen, die außerhalb der Kirche entstanden sind und vor denen die Gläubigen gewarnt werden müssen - defensive Maßnahmen mit dem Zweck der Absicherung der Geschlossenheit. 

Diese riesige Aufgabe kann natürlich angesichts einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr erfüllt werden. Deshalb scheint es, dass der neue Papst eine neue Richtung gewählt hat, sich mehr um die Anliegen der Menschen, vor allem der Benachteiligten, zu kümmern als um die Einhaltung von Lehrmeinungen, eine Richtung, die mehr Offenheit verspricht.

Gegen den Zentralismus der römischen Kirche, der ja auch das Zerwürfnis mit dem osteuropäischen Christentum bewirkt hat, ist auch Martin Luther aufgetreten. Es war ein Anliegen der Reformation, das römische Zentrum mit dem Papsttum aufzusprengen und durch das alleinige Zentrum der schriftlichen Ofenbarung zu ersetzen. Luther versprach sich durch die Etablierung einer abstrakteren Zentrumsidee mehr Öffnung, schuf aber keinen grundsätzlichen Ausweg aus der Geschlossenheit. Deshalb kam es zu einer enormen Aufsplitterung der Kirchen in diesem Sektor des Christentums, wobei jeweils das Ziel verfolgt wurde, einer bestehenden Zentrumsbildung durch die Bildung eines neuen Zentrums des "noch wahreren" Christentums zu entkommen. Offenbar ergab sich dadurch die Dynamik, dass, je kleiner das System wurde, das Zentrum umso absoluter gesetzt werden musste, sodass sich die engsten christlichen Fundamentalismen gerade in diesen evangelischen oder evangelikalen Teilkirchen finden. (vgl. Kreationismus).


Politischer Zentralismus


Auch im Bereich der Politik wird mit sakrosankten Zentren operiert. Viele politische Bewegungen versammeln sich um eine zentrale Idee, die für unantastbar erklärt wird. Um sie zu verwirklichen, wird mit allen Mitteln gekämpft, da ja der Zweck die Mittel heiligen soll. Ein Beispiel dafür lieferte Robespierre, der am Höhepunkt der französischen Revolution den Kult der Vernunft ausgerufen hat. Wer als Bedrohnung für diesen höchsten Wert angesehen wurde, wurde gnadenlos der Todesmaschinerie überantwortet. 

Ein einfacher Blick auf die Krisen- und Kriegsgebiete der heutigen Welt zeigt nicht nur die massiven und bedauernswerten Lebensvernichtungen, Zerstörungen und Entmenschlichungen, die dort stattfinden. Es zeigt sich auch leicht das Zentrum der jeweiligen Ideologie, die hinter dem Treiben der Konflikt- und Kriegsparteien als Zündkraft steckt. Manchmal sind in diesen ideologischen Zentren die historischen Fäden so dicht versponnen, dass sie sehr komplex wirken. Im Grund dreht es sich um Überlebensängste, aus denen die jeweilige Ideologie den einzig möglichen Ausweg verspricht und zu der sie den hauptsächlichen Widerpart und Erzgegner benennt, der bekämpft werden muss.

Als Beispiel aus der österreichischen Innenpolitik zeigen sich bei der Frage nach der Reform der Schulorganisation unübersehbar die ideologischen Festlegungen, die als wichtiger angesehen werden als alle inhaltlichen Erfordernisse einer zeitgemäßen Schulbildung. Bevor ein Wert in diesem Zentrum ausgegeben oder auch nur neu definiert wird, wird alles darangesetzt, um den gegenwärtigen Zustand einzumauern.


Sinnfindung ohne Zentrum


Auch im kleineren Rahmen einer immer pluraler werdenden Welt der Sinnangebote spielt diese Zentrumsbildung immer wieder eine wichtige Rolle. Zwar treten viele dieser Ansätze mit dem expliziten Anspruch der Öffnung an, übersehen aber allzu leicht die eigenen zentralen Vorannahmen und Festlegungen, die der Erfahrung, in der der Sinn gefunden werden soll, entzogen bleiben und statt dessen geglaubt werden müssen. Der Bogen reicht hier von Richtungen der Lebenshilfe, Psychotherapie zu den unterschiedlichen Schulen und Bewegungen, die es im esoterischen und spirituellen Bereich gibt. 

In der Psychotherapie sind es oft die Gründungspersönlichkeiten, deren Anliegen und Ausführungen wie ein Heiligtum im Zentrum aufbewahrt werden und an denen alles, was sich erneuern möchte, erst messen muss. Auch gibt es Leitkonzepte, die ein Therapeut einmal übernommen hat, weil sie ihm selber geholfen haben, und die er dann bei jeder Klientin anwendet, ohne darauf zu achten, ob sie passen oder nicht. Deshalb ist die fortlaufende Selbstüberprüfung wichtig, um die Therapie ideologiefrei zu halten. Der Leitsatz, gemeinsam mit jedem Klienten eine neue Therapie zu erfinden, hilft, aus der Tendenz zu geschlossenen Konzepten herauszuführen, weil er zur beständigen Offenheit für die Erfahrung im Moment ermutigt.

Die esoterische Szene ist geradezu dadurch definiert, dass sie ihre Anhänger mit versteckten Zentrumsideen gewinnt. Traue deiner Erfahrung, aber glaube alles, was drumherum als Erklärung angeboten wird. Wenn du eine gute Erfahrung gemacht hast, dann erkärt dir das jeweilige System, welchem Engel, Außerirdischem oder Aufgestiegenem du sie zu verdanken hast. Solltest du Zweifel an den entsprechenden Zentren der Lehre hast, wird an dir ein Mangel an Reife und Bewusstheit diagnostiziert, wofür das Zentrum auch die rechte Abhilfe anbieten kann.

Spirituelle Lehrer sollten sich von esoterischen Angeboten dadurch unterscheiden, dass sie ihre Schüler zur konsequenten Eigenerforschung anleiten. "Suche nach dem, was für dich im Innersten stimmig ist und befreie dich von allen Modellen und Konzepten." Solche Anregungen sind offen, weil sie nicht vorgeben, was das Ergebnis der Erforschung sein soll, sondern der Innenerfahrung der Schülerin jede Freiheit lassen.

Allerdings haben viele spirituelle Lehrer ein "Allerheiligstes", einen Kern ihrer Lehre, und häufig fordern sie von ihren Anhängern die Übernahme ihrer Konzepte, ohne dass sie bereit sind, die Zentren ihrer Anschauungen preiszugeben. Dort, wo sich innerhalb von spirituellen Bewegungen oder Gruppen Abhängigkeiten und Machtthemen entstehen, steckt ein unterschwelliges Zentrum dahinter, um das gekämpft wird.

Wenn wir uns auf ein systemisches Bewusstsein einlassen, stellen wir uns der Herausforderung, zu lernen, ohne absolutgesetzte Zentren zu leben. Wir erkennen dann die Wichtigkeit, solche Zentren innerhalb der geschlossenen Systeme, die uns begegnen, ausfindig zu machen, zu benennen und Alternativen zu entwerfen, die ohne Zentrum auskommen. Wir sind zwar daran gewöhnt, dass wir für unsere innere und äußere Sicherheit etwas brauchen, was sich nicht verändert, was immer gilt und was uns für jede Situation eine Orientierung vorgibt. Wir haben aber auch die Kraft und die innere Stärke, die Illusionen zu durchschauen, die uns solche scheinbar sicheren Orientierungspunkte und Kernkonzepte zu geben vermeinen. Jede dieser Illusionen, die wir verabschieden können, tauschen wir gegen ein wertvolles Stück innerer Freiheit ein.

1 Kommentar:

  1. Luther wollte, dass die Menschen begriffen von was die Kirche predigt, daher übersetzte er die Lateinische Schrift!
    Grundsätzlich begründet die Lehre Jesus auf der wunderbaren Schöfpung als zentralse System, wie es auch die Katharer seiner Zeit taten. Die Kirche hat sich ins Zentrum gesetzt also als zentralses System geschöpft!

    AntwortenLöschen