Perfektion ist eine Idee, die wir uns bilden, eine Idee, die für ein Ideal steht. Ein Ideal ist etwas, wonach wir streben, ohne es je zu erreichen, wie ein Ort, an den wir unbedingt gelangen wollen, aber, auch wenn er in Sichtweite ist, dennoch nie erreichen. Denn, sobald erreicht, verschwindet das Ideal und ein neues tut sich auf.
Perfektion gibt es also nicht in der Wirklichkeit, ebenso wenig wie das Ideale, das den Gegensatz zum Realen bildet. Nur wir Menschen kommen auf den Gedanken, dass etwas nicht vollkommen ist und deshalb erst vollkommen gemacht werden müsste. Die Natur benötigt dieses Konzept offensichtlich nicht. Zumindest können wir in ihr nichts Perfektes, aber auch nichts Imperfektes finden. Bäume wachsen ähnlich und unterschiedlich, manche gefallen uns besser und andere weniger, aber könnten wir wirklich sagen, dass dieser hier der vollkommene Ahornbaum ist? Vielleicht finden wir eine Rose besonders schön, aber haben wir je die vollkommene Rose gesehen?
Jedes Naturwesen entwickelt sich gemäß dem ihm innewohnenden Programm, in Abstimmung mit den äußeren Umständen, den Hindernissen und Ressourcen, die vorhanden sind. Ein Entwicklungszyklus kann lange dauern, z.B. eine Löwin, die in freier Wildbahn zwanzig oder im Zoo dreißig Jahre alt wird und dann stirbt, oder kürzer, wie ein Eisbär, der mangels Nahrung schon nach zwei Jahren verendet. Auch hier ergibt der Begriff der Perfektion keinen Sinn.
Also ist stammt Idee der Perfektion aus den Überschüssen, die unser Großhirn durch seine reiche Ausstattung mit frei gestaltbaren Bereichen produzieren kann. Es kann zu jedem wahrnehmbaren Zustand einen besseren fantasieren. Die Blüte könnte noch größer, der Apfel noch runder sein, der Sonnenuntergang noch prächtiger und der Himmel noch blauer.
Leiden am Perfektionismus
Die Idee der Vollkommenheit kann uns zum Problem werden, wenn wir sie auf uns selber anwenden. Das nennen wir dann Perfektionismus. Die Vorstellung, vollkommen sein zu müssen, und die Erkenntnis, es nicht zu sein, schaffen eine Spannung, die unerträglich werden kann und damit krank macht, also die betroffene Person noch weiter von der Vollkommenheit entfernt.
Die Psychologie unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus:
1. Perfektionistisches Streben: Damit sind die Eigenschaften, hohe persönliche Ziele mit einem ausgeprägten Maß an Organisiertheit anzustreben.
2. Perfektionistische Besorgnis: Hier sind Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit, hohe Erwartungen an Fehlerlosigkeit und auch die Angst vor Bewertungen gemeint.
Kommt beides zusammen, lähmt sich der Mensch selber. Er will alles in höchster Qualität verwirklichen und zweifelt gleichzeitig daran, es jemals zu schaffen. Bei jedem Fehler und bei jedem Versagen macht er sich selber fertig. Es entsteht ein Teufelskreis aus Selbstanklagen, die wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit so weit untergraben, dass Fehlschläge und Misserfolge unausweichlich werden.
Dahinter stecken Ablehnungen in unserem Sosein, die wir im Lauf unserer Entwicklung erlitten haben. Je früher, desto tiefer sitzt die Abwertung, weil wir über keine Filter, keine anderen Kontexte und keine Vergleiche verfügen. Ablehnende Botschaften gehen direkt in die tieferen Schichten unseres Bewusstseins und Unterbewusstseins und geben uns das Gefühl der Unvollkommenheit. Wir wundern uns dann nicht, wenn wir ähnlich lautende Botschaften in der Erziehung, Schule und im beruflichen Umfeld hören, die uns klarmachen, wie viel uns zur Perfektion fehlt.
Die Kultur ist durchtränkt von diesem Muster, so als wollte sie sich damit noch zusätzlich von der Natur unterscheiden. Wir wollen nicht einfach nur sein, wir wollen besser sein. Wir müssen mehr aus uns machen, wir müssen uns strebend bemühen, sonst gibt’s keine Erlösung. Leider gibt es niemanden, der uns zuverlässig mitteilen kann, wann wir uns genug bemüht haben. Also steht es uns nicht zu, uns irgendwann zur Ruhe zu setzen, denn wir haben immer noch zu wenig aus uns gemacht und sind noch immer nicht bei der Vollkommenheit angelangt.
So wird der Perfektionismus ein mächtiges Instrument der Selbstsabotage. Der Mechanismus wird uns eingebaut, und wir füttern ihn fleißig, und so wird er größer und größer. Wir können ihn auf einen Bereich beschränken, was z.B. unsere Arbeit anbetrifft, oder wir erweitern ihn auch auf andere Aspekte unseres Lebens, auf die Pflege der Zimmerpflanzen und der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Er ist der Versuch einer Selbstrettung, mit der wir uns wie Münchhausen aus dem Sumpf ziehen möchten. Er ist dysfunktional, weil er ein zusätzliches Hindernis aufbaut, dorthin zu gelangen, wo wir hinwollen. Er erzeugt eine innere Anspannung, die unsere Kräfte lähmt und unsere Kreativität versiegen lässt. So geraten wir in das Paradoxon, dass wir, je perfekter wir werden wollen, desto unvollkommener werden. Je näher wir uns an das Ideal heranmühen, desto weiter entfernt es sich von uns. Wir rennen einer Karotte nach, die vor unserer Nase baumelt, und wir wissen, dass wir sie nie erwischen werden, aber etwas in uns sagt, dass wir trotzdem weiter dranbleiben müssen, koste es, was es wolle.
Unter dem Stress, den uns der Druck des Perfektionismus macht, neigen wir dazu, auf die alten, immer gleichen starren Muster zurückzugreifen. Wir scheuen uns vor Experimenten, vor jedem Neuen, und behindern dadurch das, was aus unserem Inneren nach außen will. Was lassen wir da schon durch die Schranke unserer Selbstabwertungen durch? Wo geben wir dann noch unserer Kreativität eine Chance? „Ich kann ja nicht (oder nicht gut genug) singen, ich kann ja nicht malen, nicht tanzen oder Gedichte schreiben.“ Also halte ich lieber meinen Mund und riskiere keine Blamage, indem ich all die Ideen in mir begrabe.
Das Hirngespinst des Perfektionismus
Und doch ist unser Perfektionismus bloß auf eine Idee gegründet, die wir in unserem Kopf gebildet und genährt haben. Wenn es uns gelingt, diese Idee als Hirngespinst zu durchschauen, können wir sie hinter uns zu lassen. Dann stehen wir uns selbst nicht mehr im Weg. Vielmehr kann sich das Leben von selber entfalten, und wir wirken dabei mit unseren Fähigkeiten und Energien mit. Wo ein Stück der Anspannung, die uns der Perfektionismus auferlegt, abfällt, entsteht ein Freiraum für die Selbst-Entfaltung unserer Schaffenskraft, unserer Kreativität. Wenn wir loslassen, steigen die Ideen von selbst in diesem Raum auf. Wir brauchen uns nur dem Fluss des Lebens und seinem Wachsenwollen anzuvertrauen.
Wachstum geschieht aus sich heraus. Leben ist Veränderung, und bewusste Veränderung zielt auf Verbesserung. Was wir dazu beitragen können, ist vor allem, dass wir die hinderlichen Muster, die wir als Überlebensstrategien aus unserer frühen Kindheit mit uns schleppen, in unser Bewusstsein holen und uns dann ihrer entledigen. Dann finden wir zurück zu einem ganz ursprünglichen Wissen über uns selbst: Dass wir gut so sind, wie wir sind und dass wir uns gut in eine Richtung weiter entwickeln, die für uns und für die Welt gut ist.
Anmerkung zu den Worten
Im lateinischen Wort perfectio steckt das Tun, es liegt also eine Betonung auf der Aktivität, allerdings einer schon abgeschlossenen; im Deutschen enthält das Wort Vollkommenheit das Kommen: etwas Volles ist gekommen oder soll kommen. Damit wird weniger auf das Handeln, sondern eher auf das Zulassen verwiesen. Die Vollkommenheit ist nicht herzustellen, sie wird uns irgendwann einmal oder jetzt gerade, in diesem Moment, erreichen. Und dann ist das Leben voll.
Vgl. Das Drama des Perfektionisten
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