Dienstag, 4. Dezember 2012

Katastrophenphantasien und kindliches Erleben



Ein französisches Dorf am Fuße der Pyrenäen wird laut angeblicher Maja-Prophezeiung den Weltuntergang am 21. Dezember überleben. Dieses Dorf heißt Bugarach, und die 180 Einwohner sind überhaupt nicht erfreut. Nachdem Weltuntergangsflüchtlinge aus aller Welt das Dorf stürmen, haben sie ihr Gebiet zum Sperrgebiet erklären lassen.

Der Dorfschmied Emile will sie alle wegschicken: "Wer war bloß der Illuminierte, der gesagt hat, dass dieses Dorf, und nicht ein anderes verschont wird? Warum schickt man nicht die Geistesgestörten nach Lourdes?" (ORF-Morgenjournal, 4.12.2012)

Wie kommen Menschen aufIdeen von Weltuntergängen (und Überlebenden derselben)? Wir wissen alle, dass wir kein sicheres Wissen über die Zukunft haben, dass die Wirklichkeit so vielgestaltig ist und sich nie ganz in die Karten schauen lässt. Und doch glauben wir an Prophezeiungen, und offenbar, je absurder sie den Gang der Dinge kontrastieren, umso tiefer der Glaube.

Wir legen unsere Erwachsenenvernunft, unseren common sense beiseite, der uns durch den Alltag einer komplexen Welt begleitet und verhalten uns wie Kleinkinder, die mit offenem Mund über das staunen, was ihnen die Erwachsenen erzählen, ohne Unterscheidungskraft über das, was in die Welt der Fantasien und was in die Welt der wahrnehmbaren Dinge und Sachverhalte gehört. Wir knüpfen an das magische Denken an, das uns in diesen frühen Jahren vertraut war und vielleicht immer wieder auch als eine tröstliche Zuflucht diente, wenn uns die Welt der Menschen und Dinge rau und grob begegnete.

Wir sollten auch bedenken, was sich im Inneren eines Kleinkindes abspielt, wie sich ein Gehirn entwickelt und zugleich die Repräsentation der gesamten Außenwelt in ihm, im schrittweisen wechselseitigen Kennenlernen. Was dabei langsam mitwächst, ist die integrative Kraft, die das alles zusammenhält, und immer wieder neu zusammen halten muss. Da kann es zu Engpässen und Überforderungen kommen, vor allem dann, wenn die Einflüsse von außen in Widerspruch zur inneren Realität kommen, z.B. wenn Bedürfnisse, die der Organismus anmeldet, überhaupt nicht oder nicht adäquat erwidert werden. Solche Diskrepanzen überfordern die integrative Kraft, und die innere Erfahrung ist die einer überwältigenden Katastrophe.

Vielleicht wundern wir uns weniger, wenn Menschen Katastrophenfilme anschauen, um sich zwei Stunden lang zu fürchten und dann erleichtert rausgehen, um zu sehen, dass das alles nicht wirklich war, sich aber möglicherweise innerlich (unbewusst) zu bestätigen, dass die Welt ja ohnehin ein gefährlicher Ort ist und dass niemandem zu trauen ist, nicht einmal der Natur, was z.B. eine Prägung aus einer nicht aufgearbeiteten Geburtserfahrung sein kann. Wer sich nie auf solche Erfahrungsebenen eingelassen hat, wird immer wieder unbewusst nach dem Kitzel solcher Reinszenierungen in der Welt suchen, sei es im Kino oder verdeckter in allen Bereichen des gestressten Alltagslebens.

Esoterik und Kindlichkeit

Warum allerdings gerade Menschen, die sich als besonders bewusst bezeichnen, für Katastrophenfantasien anfällig sind und diese Formen des esoterischen Glaubens oft noch vehement als Zeichen ihrer besonderen inneren Entwicklung verteidigen, ist schwerer nachvollziehbar und hat möglicherweise damit zu tun, dass sich in den Untergangsszenarien unerlöste Themen aus der kindlichen Perspektive in die Erwachsenenwelt einblenden. 

Im Überlebensstil "Verbindung" nach dem NeuroAffectice Relational Model (Laurence Heller) gibt es einen "spiritualisierenden" Untertypen. Geprägt durch frühe Traumatisierung und Bedürfnisfrustration, entwickelt sich als Überlebensstrategie eine dissoziative Abspaltung, mit der alles, was im Leben fehlt, in der spirituellen Dimension gefunden werden kann. Da das Grundvertrauen ins Leben und in die Wirklichkeit nur schwach ausgeprägt ist, reflektiert die Angst vor Katastrophen eine dauernd wirksame innere Anspannung, und die Bemühung um spirituelle Absicherung verspricht die einzige Rettung - wenn die Welt zusammenbricht, werden die Aliens mit ihrem Raumschiff kommen und mich retten.

Jedenfalls können wir deutlich sehen, dass die Esoterik durch einen hohen Anteil an unbewusster Kindlichkeit geprägt und damit aufgeladen ist. Die Vermischung von kindlicher Denkweise und Erwachsenenvernunft ist geradezu ein grundlegendes Merkmal des esoterischen Denkens und Fühlens. Wohl hat die kindliche Lebens- und Erlebensart etwas Wunderbares und Bezauberndes an sich, das wir unser ganzes Leben nicht verlieren sollten. Aber wir sollten darob nicht vergessen, dass wir erwachsen sind (sobald wir es sind) und dass wir deshalb in der Welt und der Welt gegenüber Verantwortung tragen.

Die Unterscheidung von dem, was in die magische Welt des Kinderglaubens und was in die nüchterne Welt der Erwachsenen gehört, wird uns nicht immer klar sein, und manchmal können wir da auch durcheinander kommen. Doch gehört es zu den Herausforderungen des Wachsens, diese Unterscheidung immer wieder neu zu erkennen und zu formulieren. Dann können wir bewusst in die Kinderwelt ein- und wieder aussteigen, wie es uns beliebt. Nur so bekommen wir ein klares Gefühl für die Grenzen von Spiel und Ernst, von Fantasie und Wirklichkeit.

Verantwortung und Verantwortungslosigkeit

Ein Wissenschaftler muss seine Ergebnisse vor der Forschergemeinschaft rechtfertigen. Er muss seine Methoden und Berechnungen verbessern und verfeinern, wenn er als Wissenschaftler gelten will. Wenn er falsche Prognosen liefert, muss angeben können, wo der Fehler liegt. Sind die Prognosen immer wieder falsch, so verliert er bald seinen Ruf als Wissenschaftler und muss sich einen neuen Beruf suchen. Wenn ein Meteorologe Regen voraussagt und es scheint die Sonne, muss er überlegen, was schief gelaufen ist und wie er die Prognose verbessern kann. Passiert ihm das fortlaufend, heißt das, dass er ein schlechter Wissenschaftler ist und dass er seinen Beruf wechseln sollte. So nimmt die Wissenschaft ihre Vertreter in die Verantwortung, und die Gesellschaft kann sich im Großen und Ganzen darauf verlassen.

Ein Illuminierter, der seine Voraussagen in die Welt posaunt, übernimmt dagegen keine Verantwortung für seine Aussagen und was sie auslösen. Er muss nicht einmal darüber Rechenschaft ablegen, ob seine Eingebungen aus tiefer Meditation entsprungen sind oder Ausfluss vom Genuss von Glühwein oder anderem Prozentigem.

Trifft nicht zu, was er prophezeit hat, wurde er entweder missverstanden, oder er sieht sich darin bestätigt, dass sich alle jetzt spirituell so angestrengt haben, dass statt der Prophezeiung ein Bewusstseinssprung stattgefunden hat, den ja niemand nachweisen kann. Jedenfalls hat seine Prophezeiung nur Gutes bewirkt und war deshalb sinnvoll und notwendig. Er kann sich ausreden, wie ein kleines Kind, das die Milch verschüttet hat. Es gibt keine Öffentlichkeit, vor der er Rede und Antwort stehen muss, keine Gemeinschaft, vor der er Rechenschaft ablegen muss. Es wird Menschen geben, die sich von ihm abwenden und andere, die ihn weiter verehren. Die Bücher werden sich schlechter verkaufen, aber der Hauptumsatz vor der angesagten Katastrophe ist schon eingefahren, und das nächste Buch mit dem klingenden Namen findet wieder genügend naive Leser, die schon vergessen haben, was im vorigen Buch stand.

Geschlossene und offene Systeme

Solche Menschen bauen sich geschlossene Systeme auf: Für alles, was passiert, gibt es eine innere Erklärung, und Einflüsse von außen dienen nur zur Bestätigung der Innenansicht. Trifft die Prophezeiung ein, ist sie sichtbares Zeichen für übernatürliche Fähigkeiten, trifft sie nicht ein, ist sie spürbares Zeichen noch höherer übernatürlicher Fähigkeiten, nämlich die prophezeiten Katastrophen verhindern zu können.

Zu solchen geschlossenen Systemen fühlen sich alle hingezogen, die nach derartigen unwiderlegbaren Sicherheiten suchen. Auf diese Art entstehen die manifesten Sekten, aber auch die unsichtbaren, die in der virtuellen Welt aus ähnlichen Motivationen und Visionen zu den gleichen Denkformen kommen, ob sie sich kennen oder nicht, ähnlich wie die Fans von Tanz- oder Musikstilen oder Modetrends. Sie verhalten sich wie die Kinder, die in die Fantasiewelten von Geschichten und Märchen flüchten, wenn es in der Wirklichkeit zu stressig und unangenehm wird.

Offene Systeme bieten keine derartigen Sicherheiten, weil sie sich dauernd an neue Umweltbedingungen anpassen müssen, die nicht vorhersehbar sind. Wenn wir uns auf offene Systeme (in unserer Innen- und Außenwelt) einlassen, müssen wir mit der Ungewissheit leben, dass die Zukunft offen ist und dass auf längere Sicht keine verlässlichen Prognosen möglich sind. Dafür sind offene Systeme zum Unterschied von geschlossenen außerordentlich lernfähig und flexibel. Sie sind die Motoren und Motivatoren für die Evolution des Bewusstseins, während in den geschlossenen Systemen alte Ängste weiterschwelen, die die Entwicklung hemmen.

Doch sie können sich auf den Schuster Knieriem berufen, der seinen Kometen sicher nur deshalb überleben konnte, weil ihm trotz all der Ängste der Humor nicht abhanden gekommen ist. So kann er uns heute noch sein Couplet anbieten:

Es is kein' Ordnung mehr jetzt in die Stern',
D' Kometen müssten sonst verboten wer'n;
Ein Komet reist ohne Unterlass
Um am Firmament und hat kein' Pass;
Und jetzt richt' a so a Vagabund
Uns die Welt bei Butz und Stingel z'grund.
Aber lass'n ma das, wie's oben steht,
Auch unt' sieht man, dass's auf n Ruin losgeht.
»Ja, a Kontroll' muss halt sein, sonst gibt's kein' Kredit!«
So hab'n s' g'sagt, doch sie wer'n mit uns anders noch quitt.
Was ein richtiges Schaf is, gibt auch so seine Woll':
Jetzt krieg'n ma an' Dreck und dazu a Kontroll'!
Da wird einem halt angst und bang,
Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang lang lang lang lang lang,
Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang.
(Karl Kraus nach Johann Nestroy)

(Vgl. den Blog vom 13.1.2012: Zum Jahresbeginn 2012 - eine Anprangerung) 

Literatur: Laurence Heller: Healing Developmental Trauma. Berkeley, North Atlantic Books, 2012

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