Samstag, 18. August 2012

„Du spinnst ja!“ - Ebenen der Wirklichkeit

Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte Paul Watzlawick und brachte damit die konstruktivistische Sichtweise an die Leute. Wirklichkeit steht nicht einfach fest, sondern wird hergestellt und muss fortwährend überprüft werden. Im psychotherapeutischen Geschäft ist die Frage auch relevant, wird aber selten diskutiert, vielleicht weil sie zu theoretisch klingt und weil viele Klienten kein Problem haben, auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen Erfahrungen zu sammeln und diese zu integrieren. Was aber, wenn ein Klient für seine geistige und kognitive Klarheit wissen will, wo seine Erfahrungen hingehören und wie sie mit dem eigenen Weltbild vereinbar sind?

Unser Wirklichkeitsbegriff ist streng materialistisch, das haben wir von den Naturwissenschaften gelernt. Wirklich ist, was in Raum und Zeit für uns wahrnehmbar ist, bzw. wahrnehmbar gemacht werden kann (wir nehmen z.B. an, dass Viren wirklich sind, obwohl wir sie vielleicht noch nie gesehen haben, oder dass der Neptun wirklich 13 Monde hat, obwohl wir auf noch keinem einzigen waren). Wir schenken also der Wissenschaft großen Glauben, dass sie uns Erkenntnisse über die Wirklichkeit geben kann. 

Wenn es um unsere Innenerfahrungen geht, kommen wir in Bereiche, die nicht so einfach mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild kompatibel sind. Wenn wir träumen, haben wir ein Wirklichkeitserleben, das sich erst beim oder nach dem Aufwachen relativiert. Im Traum erscheint uns als real, dass wir verfolgt werden, Leute treffen, die anders ausschauen als sonst usw. 

http://www.lilienthal-museum.de/olma
/muse.htm
Während des Schreibens des Artikels hatte ich dazu einen witzigen Traum. Schon öfter hatte ich vom Fliegen geträumt, und das war immer so „traumhaft“, dass ich mir während des Träumens dachte, diesmal merke ich mir, wie das geht und mache das dann auch, wenn ich aufwache. Nun träumte ich wieder, dass ich fliegen kann und dass das ganz einfach ist und träume weiter, dass ich aufwache und es jetzt im aufgewachten Zustand noch immer kann, zwar nicht ganz so leicht, aber mit etwas Konzentration ziemlich locker. Dann bin ich allerdings wirklich aufgewacht, die Leichtigkeit war dahin und ich hatte überhaupt keine Idee mehr, wie ich mit den 70+ Kilo meines Körpers die Schwerkraft überwinden könnte. Der wache Wirklichkeitsbegriff hatte mich sofort wieder im Griff. So muss ich also auf den nächsten Flugtraum warten, um dieses besondere Freiheitsgefühl genießen zu können (oder auf eine Möglichkeit, die Traumwirklichkeit in die Wachwirklichkeit zu integrieren, was ja in vielfältiger Form ein alter „Traum“ der Menschheit ist).

Schon wenn wir uns entspannen und die Augen schließen, können Bilder kommen, Gefühle auftauchen und Körperwahrnehmungen spüprbar werden, die ihre eigene „andersartige“ Realität haben. Der Wirklichkeitsbegriff der Naturwissenschaften funktioniert also nur, wenn wir im Wachzustand bei klaren Sinnen sind und zusammenhängend denken können. Er erfordert, dass wir uns auf diese eine Dimension reduzieren, dass wir also eindimensional erleben (beschränkt auf die vier Dimensionen unserer sinnlichen Wahrnehmung).

In allen anderen Erlebnisbereichen befinden wir uns in anderen Wirklichkeiten. Offenbar, wie schon Sigmund Freud herausgefunden hat, regieren in unserem Unterbewussten ganz andere Mechanismen der Wirklichkeitsproduktion. Er hat zwar versucht, auch diese Mechanismen naturwissenschaftlich zu erklären, ist damit aber nicht weit gekommen. Zu unterschiedlich sind die Menschen, wenn es um ihr inneres Erleben geht, sodass wir sagen müssen, dass jeder Mensch im Inneren eine ganz und gar eigene Wirklichkeit hat, die ihm nur selber zugänglich ist und die er auch nur sehr eingeschränkt mitteilen kann. Sie ist also privat und einzigartig, Teil seiner Individualität. 

Wenn wir eine systemische oder ganzheitliche Sichtweise einnehmen, können wir nicht eine Wirklichkeitserfahrung über die andere stellen, sondern müssen sie als grundsätzlich gleichrangig anerkennen. Wir achten nur darauf, für welche Situationen und Erfordernisse des Lebens welche Wirklichkeit brauchbar und sinnvoll ist. Wenn wir von einem Verkehrspolizisten aufgehalten werden, wird der nicht an unseren Träumen oder inneren Zuständen interessiert sein, sondern erwarten, dass wir ihm auf seiner Wirklichkeitsebene begegnen. Begegnen wir einem Angehörigen des malaysischen Senoi-Stammes, bei denen das Traumdeuten zur täglichen Routine gehört, so werden diesen unsere Träume mehr als unser Führerschein interessieren. 

 Mit dieser Einstellung tun wir uns leichter, wenn uns Menschen über Erfahrungen berichten, die nicht in den naturwissenschaftlichen Rahmen passen, z.B. von Wunderheilungen (siehe meinen Blogbeitrag vom März 2012 - http://wilfried-ehrmann.blogspot.co.at/2012/03/die-wunderheiler-und-die-skeptiker.html ) oder übersinnlichen Wahrnehmungen. Wir brauchen sie auch, wie oben erwähnt, in der therapeutischen Arbeit. Wenn es etwa um die Verarbeitung eines Verlustes geht (beim plötzlichen Tod einer vertrauten Person wie auch beim Verlust eines Zwillingsgeschwisters im Mutterleib), besteht ein wichtiger Schritt in der Heilung darin, mit der verstorbenen Person Kontakt aufzunehmen. Im naturwissenschaftlichen Weltbild ist das unmöglich. Wer tot ist, kann nicht mehr kontaktiert werden. Wenn wir jedoch Klienten, die die Gefühle der Verlusterfahrung erlebt haben, vorschlagen, sich mit der verstorbenen Person zu verbinden, „wo immer sie gerade ist“, ist das den meisten Menschen leicht möglich, und dieser Kontakt wird fast immer als sehr heilsam und wohltuend erlebt. 

Es gibt also offenbar eine Wirklichkeitsform, in der die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sind. Das ist ja insofern auch klar, weil die Raum- und Zeiterfahrungen auf die naturwissenschaftliche Realität beschränkt sind und dieses auf jene. Wir haben ein Erleben, „als ob“ die verlorene Person „wirklich“ noch irgendwo da ist und mit uns spricht. Wir wissen dabei, dass diese Wirklichkeit eine andere Qualität hat, dass wir also, wenn wir die Augen öffnen, die Person nicht mehr vor uns sehen und ihr nicht einfach die Hand schütteln können. Aber dieses Wissen nimmt der Erfahrung nichts von ihrer Gültigkeit und Bedeutsamkeit. 

Auch bei der Arbeit mit Ahnen, die wir z.B. bei der Aufstellungsarbeit oder bei der Auflösung von über die Generationen vererbten Traumen nutzen,  ist diese Wirklichkeitsebene wichtig. Wir können dabei erleben, dass lange verstorbene Vorfahren von uns einen belastenden Einfluss ausüben und dass die Begegnung mit ihnen diesen Einfluss in eine positive Kraft ummünzen kann. Manche Vertreter der Aufstellungsarbeit sind der Meinung, dass die Auflösung von solchen Themen selbst den Verstorbenen eine Erleichterung bringt. Dabei wird angenommen, dass es eine Wirklichkeit gibt, in der diese Personen in einer anderen als der uns bekannten Form leben.

Wenn wir, aus „naturwissenschaftlicher Verantwortung“, sagen würden, dass solche Phänomene reine Einbildung sind und es sie nicht geben kann, weil ja die Wirklichkeit auf Raum und Zeit beschränkt ist, dann werten wir die andere Wirklichkeitsebene ab, also die Subjektivität des Klienten, was uns nicht zusteht. Schließlich wollen wir ja selber auch nicht, dass uns jemand anderer bei unseren Innenerfahrungen dreinredet und uns weismachen will, dass wir „in Wirklichkeit“ das, was wir erleben, gar nicht erleben, bzw. dass das, was wir erleben, eine ganz andere Bedeutung hat als die wir ihr selber geben.

Kinder kennen die unterschiedlichen Wirklichkeiten sehr gut. Sie halten sich gerne in Märchenwelten und Geschichten auf und stoßen damit häufig auf Unverständnis oder Kritik bei den Erwachsenen, die ihnen ausreden wollen, was sie innerlich erleben, wohl aus der Angst heraus, dass Märchenwelten zum Funktionieren beim Meistern des Lebens in unserer Gesellschaft nutzlos wären. So müssen die Kinder mit der Zeit lernen, die Ebenen auseinander zu halten, indem sie die Abwertungen mitnehmen, die besagen, dass es eine „wirkliche“ = gute oder nutzbringende Wirklichkeit gibt und eine „unwirkliche“=schlechte oder unbrauchbare. Mit dem Eintritt in die Schule beginnt bei den meisten Kindern die mehr oder weniger gründliche Reduktion auf das eindimensionale Weltbild der Naturwissenschaften.

Statt dass wir uns in eine Form der Wirklichkeitserfahrung einzementieren und diese mit allen Möglichkeiten verteidigen, scheint es sinnvoller zu sein, unsere Fertigkeiten zu schulen, uns auf verschiedenen Ebenen bewegen zu können und alle diese Ebenen in ihrem Eigenwert schätzen zu können. Wichtig bei dieser Kompetenz ist die die Fähigkeit, zu wissen, wo wir gerade sind. Psychotiker leiden unter der Abwesenheit dieser Fähigkeit. Sie können nicht unterscheiden, was „Wirklichkeit“ und was „Wahn“ ist, wobei das, was man als Wahn bezeichnet, nur eine andere Form der Wirklichkeitserfahrung ist, die aber nicht eingeordnet werden kann. Psychose ist ein Zustand der Verwirrung, auf welche Ebene der Wirklichkeit eine bestimmte Erfahrung gehört. Diese Irritation kann große Ängste auslösen und die Kommunikationsfähigkeit stark beeinträchtigen. 

Üben wir uns dagegen im Unterscheiden der Wirklichkeitsebenen, dann gewinnen wir an Einsichtsmöglichkeiten für die verschiedenen Qualitäten des Lebens und Erlebens, unserer selbst und der anderen Menschen.  Ich empfehle dazu auch, das Modell der Bewusstseinsevolution zu nutzen, weil es uns eine Landkarte an die Hand gibt, mit deren Hilfe wir die jeweiligen Wirklichkeiten verorten können.

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