Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte Paul Watzlawick
und brachte damit die konstruktivistische Sichtweise an die Leute. Wirklichkeit steht nicht einfach fest, sondern wird hergestellt und muss
fortwährend überprüft werden. Im
psychotherapeutischen Geschäft ist die Frage auch relevant, wird aber selten
diskutiert, vielleicht weil sie zu theoretisch klingt und weil viele Klienten
kein Problem haben, auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen Erfahrungen zu
sammeln und diese zu integrieren. Was aber, wenn ein Klient für seine geistige
und kognitive Klarheit wissen will, wo seine Erfahrungen hingehören und wie sie
mit dem eigenen Weltbild vereinbar sind?
Unser Wirklichkeitsbegriff ist streng materialistisch, das
haben wir von den Naturwissenschaften gelernt. Wirklich ist, was in Raum und Zeit
für uns wahrnehmbar ist, bzw. wahrnehmbar gemacht werden kann (wir nehmen z.B.
an, dass Viren wirklich sind, obwohl wir sie vielleicht noch nie gesehen haben,
oder dass der Neptun wirklich 13 Monde hat, obwohl wir auf noch keinem einzigen
waren). Wir schenken also der Wissenschaft großen Glauben, dass sie uns
Erkenntnisse über die Wirklichkeit geben kann.
Wenn es um unsere Innenerfahrungen geht, kommen wir in
Bereiche, die nicht so einfach mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild
kompatibel sind. Wenn wir träumen, haben wir ein Wirklichkeitserleben, das sich
erst beim oder nach dem Aufwachen relativiert. Im Traum erscheint uns als real,
dass wir verfolgt werden, Leute treffen, die anders ausschauen als sonst usw.
http://www.lilienthal-museum.de/olma /muse.htm |
Schon wenn wir uns entspannen und die Augen schließen,
können Bilder kommen, Gefühle auftauchen und Körperwahrnehmungen spüprbar
werden, die ihre eigene „andersartige“ Realität haben. Der Wirklichkeitsbegriff
der Naturwissenschaften funktioniert also nur, wenn wir im Wachzustand bei
klaren Sinnen sind und zusammenhängend denken können. Er erfordert, dass wir
uns auf diese eine Dimension reduzieren, dass wir also eindimensional erleben
(beschränkt auf die vier Dimensionen unserer sinnlichen Wahrnehmung).
In allen anderen Erlebnisbereichen befinden wir uns in
anderen Wirklichkeiten. Offenbar, wie schon Sigmund Freud herausgefunden hat,
regieren in unserem Unterbewussten ganz andere Mechanismen der Wirklichkeitsproduktion.
Er hat zwar versucht, auch diese Mechanismen naturwissenschaftlich zu erklären,
ist damit aber nicht weit gekommen. Zu unterschiedlich sind die Menschen, wenn
es um ihr inneres Erleben geht, sodass wir sagen müssen, dass jeder Mensch im Inneren
eine ganz und gar eigene Wirklichkeit hat, die ihm nur selber zugänglich ist
und die er auch nur sehr eingeschränkt mitteilen kann. Sie ist also privat und
einzigartig, Teil seiner Individualität.
Wenn wir eine systemische oder ganzheitliche Sichtweise
einnehmen, können wir nicht eine Wirklichkeitserfahrung über die andere
stellen, sondern müssen sie als grundsätzlich gleichrangig anerkennen. Wir
achten nur darauf, für welche Situationen und Erfordernisse des Lebens welche
Wirklichkeit brauchbar und sinnvoll ist. Wenn wir von einem Verkehrspolizisten
aufgehalten werden, wird der nicht an unseren Träumen oder inneren Zuständen
interessiert sein, sondern erwarten, dass wir ihm auf seiner Wirklichkeitsebene
begegnen. Begegnen wir einem Angehörigen des malaysischen Senoi-Stammes, bei
denen das Traumdeuten zur täglichen Routine gehört, so werden diesen unsere
Träume mehr als unser Führerschein interessieren.
Mit dieser
Einstellung tun wir uns leichter, wenn uns Menschen über Erfahrungen berichten,
die nicht in den naturwissenschaftlichen Rahmen passen, z.B. von
Wunderheilungen (siehe meinen Blogbeitrag vom März 2012 - http://wilfried-ehrmann.blogspot.co.at/2012/03/die-wunderheiler-und-die-skeptiker.html ) oder übersinnlichen
Wahrnehmungen. Wir brauchen sie auch, wie oben erwähnt, in der therapeutischen
Arbeit. Wenn es etwa um die Verarbeitung eines Verlustes geht (beim plötzlichen
Tod einer vertrauten Person wie auch beim Verlust eines Zwillingsgeschwisters
im Mutterleib), besteht ein wichtiger Schritt in der Heilung darin, mit der
verstorbenen Person Kontakt aufzunehmen. Im naturwissenschaftlichen Weltbild
ist das unmöglich. Wer tot ist, kann nicht mehr kontaktiert werden. Wenn wir
jedoch Klienten, die die Gefühle der Verlusterfahrung erlebt haben,
vorschlagen, sich mit der verstorbenen Person zu verbinden, „wo immer sie
gerade ist“, ist das den meisten Menschen leicht möglich, und dieser Kontakt
wird fast immer als sehr heilsam und wohltuend erlebt.
Es gibt also offenbar eine Wirklichkeitsform, in der die
Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben sind. Das ist ja insofern auch klar, weil die
Raum- und Zeiterfahrungen auf die naturwissenschaftliche Realität beschränkt
sind und dieses auf jene. Wir haben ein Erleben, „als ob“ die verlorene Person „wirklich“
noch irgendwo da ist und mit uns spricht. Wir wissen dabei, dass diese
Wirklichkeit eine andere Qualität hat, dass wir also, wenn wir die Augen
öffnen, die Person nicht mehr vor uns sehen und ihr nicht einfach die Hand
schütteln können. Aber dieses Wissen nimmt der Erfahrung nichts von ihrer
Gültigkeit und Bedeutsamkeit.
Auch bei der Arbeit mit Ahnen, die wir z.B. bei der
Aufstellungsarbeit oder bei der Auflösung von über die Generationen vererbten
Traumen nutzen, ist diese
Wirklichkeitsebene wichtig. Wir können dabei erleben, dass lange verstorbene
Vorfahren von uns einen belastenden Einfluss ausüben und dass die Begegnung mit
ihnen diesen Einfluss in eine positive Kraft ummünzen kann. Manche Vertreter
der Aufstellungsarbeit sind der Meinung, dass die Auflösung von solchen Themen
selbst den Verstorbenen eine Erleichterung bringt. Dabei wird angenommen, dass
es eine Wirklichkeit gibt, in der diese Personen in einer anderen als der uns
bekannten Form leben.
Wenn wir, aus „naturwissenschaftlicher Verantwortung“, sagen
würden, dass solche Phänomene reine Einbildung sind und es sie nicht geben
kann, weil ja die Wirklichkeit auf Raum und Zeit beschränkt ist, dann werten
wir die andere Wirklichkeitsebene ab, also die Subjektivität des Klienten, was
uns nicht zusteht. Schließlich wollen wir ja selber auch nicht, dass uns jemand
anderer bei unseren Innenerfahrungen dreinredet und uns weismachen will, dass
wir „in Wirklichkeit“ das, was wir erleben, gar nicht erleben, bzw. dass das,
was wir erleben, eine ganz andere Bedeutung hat als die wir ihr selber geben.
Kinder kennen die unterschiedlichen Wirklichkeiten sehr gut.
Sie halten sich gerne in Märchenwelten und Geschichten auf und stoßen damit
häufig auf Unverständnis oder Kritik bei den Erwachsenen, die ihnen ausreden wollen,
was sie innerlich erleben, wohl aus der Angst heraus, dass Märchenwelten zum
Funktionieren beim Meistern des Lebens in unserer Gesellschaft nutzlos wären.
So müssen die Kinder mit der Zeit lernen, die Ebenen auseinander zu halten,
indem sie die Abwertungen mitnehmen, die besagen, dass es eine „wirkliche“ =
gute oder nutzbringende Wirklichkeit gibt und eine „unwirkliche“=schlechte oder
unbrauchbare. Mit dem Eintritt in die Schule beginnt bei den meisten Kindern die
mehr oder weniger gründliche Reduktion auf das eindimensionale Weltbild der
Naturwissenschaften.
Statt dass wir uns in eine Form der Wirklichkeitserfahrung
einzementieren und diese mit allen Möglichkeiten verteidigen, scheint es
sinnvoller zu sein, unsere Fertigkeiten zu schulen, uns auf verschiedenen
Ebenen bewegen zu können und alle diese Ebenen in ihrem Eigenwert schätzen zu
können. Wichtig bei dieser Kompetenz ist die die Fähigkeit, zu wissen, wo wir
gerade sind. Psychotiker leiden unter der Abwesenheit dieser Fähigkeit. Sie
können nicht unterscheiden, was „Wirklichkeit“ und was „Wahn“ ist, wobei das,
was man als Wahn bezeichnet, nur eine andere Form der Wirklichkeitserfahrung
ist, die aber nicht eingeordnet werden kann. Psychose ist ein Zustand der
Verwirrung, auf welche Ebene der Wirklichkeit eine bestimmte Erfahrung gehört.
Diese Irritation kann große Ängste auslösen und die Kommunikationsfähigkeit
stark beeinträchtigen.
Üben wir uns dagegen im Unterscheiden der
Wirklichkeitsebenen, dann gewinnen wir an Einsichtsmöglichkeiten für die
verschiedenen Qualitäten des Lebens und Erlebens, unserer selbst und der
anderen Menschen. Ich empfehle dazu
auch, das Modell der Bewusstseinsevolution zu nutzen, weil es uns eine
Landkarte an die Hand gibt, mit deren Hilfe wir die jeweiligen Wirklichkeiten verorten
können.
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