Mittwoch, 29. Mai 2024

Bedürftigkeit und Scham

Bedürftig kommen wir in die Welt, und in den meisten Fällen verlassen wir die Welt bedürftig, also angewiesen auf andere, die uns helfen und unterstützen. In der Zwischenzeit ist uns allerdings der Zustand der Bedürftigkeit äußerst unangenehm, viel unangenehmer als einzelne Bedürfnisse, die wir uns nicht gönnen wollen. Wir verbinden Bedürftigkeit mit dem unbedingten Angewiesensein auf Hilfe und Unterstützung. Wir könnten es alleine nicht schaffen, und das finden wir sehr beschämend. Wir denken dabei vielleicht an jemanden, der an den Rollstuhl gefesselt ist, und befürchten, dass es uns selbst auch einmal so gehen könnte.

Tatsächlich befinden wir uns viel häufiger in Zuständen der Bedürftigkeit als wir üblicherweise denken. Wenn wir in einer Sache nicht mehr weiter wissen, die uns wichtig ist, brauchen wir jemanden, der uns weiterhilft. Wir sind von diesen Personen abhängig, sonst können wir unser Problem nicht lösen.

Das ist der Fall, wenn wir einen Handwerker für die defekte Heizung brauchen, oder wenn wir wegen einer Krankheit eine Ärztin konsultieren müssen. Auch wenn wir uns emotional im Eck fühlen, sind wir auf Freunde oder Therapeuten angewiesen, damit sie uns wieder aufrichten.

Es sind also Situationen, die in jedem menschlichen Leben vorkommen und Teil des sozialen Austausches darstellen: Eine Person ist bedürftig und andere unterstützen sie, um sie aus dem Zustand der Bedürftigkeit herauszuholen. Einander helfen und einander helfen lassen, ist eine Grundkomponente des zwischenmenschlichen Austausches. Zu helfen (die aktive Seite dieses Austausches) bewirkt mehr Selbstkompetenz – mit jeder Hilfeleistung lernen wir etwas. Sich helfen zu lassen (die passive Seite dieses Austausches) bewirkt mehr Vertrauen in die helfende Person. Insgesamt werden die sozialen Bande gestärkt und die Menschen einander nähergebracht.

Aber viele Beobachtungen weisen darauf hin, dass diese Selbstverständlichkeit des Helfens und die Bereitschaft zum Sich-Helfen-Lassen schwinden, während die Autarkiebedürfnisse stärker werden. Jeder will seine eigenen Sachen selber schaffen können, ohne auf andere angewiesen zu sein. Vermutlich hängt diese Tendenz mit der Konditionierung zusammen, die der Kapitalismus in die Seelen der Menschen eingepflanzt hat: Jeder muss schauen, wie er sich alleine seinen Lebensunterhalt sichert. Die Idee des vereinzelten Menschenwesens, das sich abmüht und ab und zu dazwischen in Kontakt mit den Mitwesen tritt, ist eine Erfindung, die aus der Logik dieser Wirtschaftsweise entstanden ist. 

Zwischenmenschlicher Austausch, also auch das Hilfeleisten, ist in dieser Sichtweise ein Geschäft, bei dem Leistung und Gegenleistung bilanziert, also gegengerechnet werden. Er wird also in ökonomische Begriffe übersetzt und quantifiziert. Aus freiwilligen Hilfeleistungen im familialen und nachbarschaftlichen Umfeld sowie in Freundschaften werden Dienstleistungen, die nach bestimmten Tarifen abgerechnet werden. Die Beziehungen werden dadurch abstrakter, also unpersönlicher. Das kommt der Autarkiescham entgegen. Es fällt uns nicht auf, dass wir uns bei den verschiedenen Alltagsproblemen in Zuständen der Bedürftigkeit befinden. Also vermeiden wir die Schamgefühle, die mit der Bedürftigkeit verbunden sind. 

Denn in gewisser Weise rutschen wir ins kindliche Bewusstsein, wenn wir in praktischen Dingen oder auf der emotionalen Ebene anstehen und nicht weiter wissen. Und das mag unser Erwachsenen-Ich überhaupt nicht und schämt sich schnell dafür. Deshalb verdrängen wir unsere diversen kleinen Bedürftigkeitserfahrungen, die immer auch mit Abhängigkeiten verbunden sind. 

Die Bedürftigkeitskompetenz

Machen wir uns aber mehr bewusst, wie häufig wir und auch alle anderen bedürftig sind, dann brauchen wir uns auch nicht mehr darüber zu schämen. Es ist Teil des Menschseins und zugleich ein förderliches Mittel zur Verbesserung des sozialen Miteinanders. Wir sollten also unsere Bedürftigkeit mehr wahrnehmen und pflegen, statt nur unsere Autarkiebedürfnisse zu stärken. Das bedeutet nicht, dass wir nicht weiterlernen sollten, sondern umfasst auch die Bereitschaft, unsere Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen wir uns selbst helfen können. Die „Bedürftigkeitskompetenz“, also die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Bedürftigkeit zu erkennen und anzuerkennen und nach entsprechender Hilfe zu suchen, ist nicht mit erlernter Hilflosigkeit zu verwechseln, also mit einer Einstellung, sich selbst nichts zuzutrauen und andere mit den eigenen Problemen zu belasten. Wir brauchen ein gutes Gleichgewicht zwischen Selbstkompetenzen und der Bereitschaft, uns helfen zu lassen. 

Ein weiterer sozialer Gewinn von mehr Bewusstheit über das Bedürftigsein liegt darin, dass wir dann Menschen mit offensichtlicher Bedürftigkeit mit anderen Augen wahrnehmen. Wenn wir z.B. jemandem begegnen, der im Rollstuhl sitzt, dann sehen wir ihn in einer stärkeren Form von Bedürftigkeit als die, die wir von uns kennen, wenn wir das Glück haben, uns ohne Hilfsmittel fortbewegen zu können. Wir sind weniger bedürftig als dieser Mensch, aber nicht grundsätzlich verschieden. 

Die Scham-Stolz-Schaukel und die Bedürftigkeit

Das Bewusstmachen dieses feinen Unterschieds macht es uns möglich, aus einer Scham-Stolz-Schaukel herauszufinden, die sonst automatisch abläuft, wenn wir jemanden treffen, den wir als bedürftig einschätzen. Denn wenn es jemandem schlechter geht als uns selber gerade, befällt uns ein heimlicher Stolz, dass wir von dem Leid nicht betroffen sind. Auch wenn wir Mitgefühl mit dem Leid empfinden, gibt es noch einen inneren Anteil, der froh ist, nicht in dieser Lage sein zu müssen. Dieser egoistische Teil in uns trennt uns vom Leid der anderen, weil er um unsere Sicherheit bangt und uns auf ein Terrain bringen will, von dem aus wir die Not aus sicherer Distanz wahrnehmen. Wir schützen uns vor einer tieferen Betroffenheit, die auch das Mitgefühl verstärken würde, indem wir diese Position des Stolzes einnehmen. Aus dieser Perspektive meldet sich leicht auch ein Schuss von Verachtung, die sich darin äußern kann, dass wir manchmal denken, dass jeder für seine Not selbst verantwortlich ist, also selber schuld ist. Mit solchen Konzepten distanzieren wir uns noch mehr und richten es uns gemütlich auf unserer distanzierten Insel ein.

Es ist dieser Stolz, der die Betroffenen die Scham über ihre Lage spüren lässt. Ohne den überheblichen Stolz der Gesunden bräuchten sich die Kranken und Bedürftigen nicht zu schämen. Mit der Bewusstheit aber, dass wir all die Bedürftigkeit und das Angewiesensein auf andere kennen und oft schon erlebt haben, fällt der Stolz weg und wir können ein von jeder Überheblichkeit und Verachtung gereinigtes Mitgefühl empfinden.

Zum Weiterlesen:
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Vom Geben und Nehmen