Donnerstag, 25. April 2024

Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln

Vielen geht es so, dass sie eine eigentümliche Angst empfinden, wenn sie vor einem Abgrund stehen: Es ist nicht nur die Angst vor der Tiefe, die sich vor einem auftut, sondern die Angst, die Kontrolle zu verlieren, sodass ein unbeherrschbarer innerer Impuls plötzlich das Kommando übernimmt und befiehlt, sich hinunterzustürzen. Es handelt sich also um eine Angst vor einem Kontrollverlust, die im Gegensatz zur Realwahrnehmung steht, nach der der eigene Körper auf einem sicheren Grund steht und es keinen Impuls gibt, den Schritt in den Abgrund zu setzen. 

Woher könnte dieser seltsame Angstgedanke kommen? Wir haben alle schon in unserem Werdegang ähnliche Situationen erlebt. Die eine hat sich noch vor der Befruchtung abgespielt, als die Eizelle, aus der wir entstanden sind, aus dem Verband der Eizellen in den Eileiter „gesprungen“ ist – der sogenannte Eisprung. Die andere hat sich in der ersten Zeit der Schwangerschaft ereignet: Beim Übergang vom Eileiter in die Gebärmutter, also vor der Einnistung.

Der Eisprung (Ovulation)

In den Eierstöcken reifen nach jeder Monatsblutung Eizellen in mehreren Eibläschen (Follikeln) heran. Etwa 10 bis 14 Tage vor der nächsten Monatsblutung kommt es in der Regel bei einer der Eizellen zum Eisprung. Das Eibläschen platzt und gibt die Eizelle frei. Sie wird vom trichterförmigen und beweglichen Ende des Eileiters aufgefangen. Muskelbewegungen und feine Härchen (Zilien) transportieren die Eizelle dann im Eileiter langsam weiter, wo sie dann auf Samenzellen wartet.

Die reife Eizelle muss sich also auf einen Sprung ins Unbekannte einlassen. Es gibt eine Kraft, die zu diesem Schritt drängt und vermutlich eine Kraft, die zurückhält, die Angst vor der Ungewissheit. Die weitertreibende Kraft setzt sich durch, sonst könnte es zu keinen Schwangerschaften kommen. 

Die Einnistung (Nidation)

Die Einnistung geschieht zwischen dem 5. und 10. Tag nach der Empfängnis. In dieser Zeit hat sich der Embryo entwickelt und zum Ende des Eileiters bewegt. Er verfügt bereits über eine Plazenta, die dann die Aufgabe der Einnistung übernimmt und anfangs stärker wächst als der Fötus. 

Zilien (Flimmerhaare), Muskelkontraktionen und peristaltische Prozesse sorgt dafür, dass der Transport und der Zeitablauf stimmen. Die Bewegung erfolgt dabei nicht linear und zielstrebig, sondern zeigt Kreisbewegungen und zeitweiliges Steckenbleiben an Verengungen des Eileiters. Falls die Reise des Embryos im Eileiter aufhört, entwickelt sich eine Eileiterschwangerschaft, die der Embryo nicht überleben kann und die auch viele Risiken für die Mutter mit sich bringt. 

Auch hier können wir von zwei widerstrebenden Kräften ausgehen. Einerseits will die Lebenskraft den für die erfolgreiche Fortpflanzung notwendigen Schritt bewirken, andererseits besteht die Angst vor dem Fallen mit einem ungewissen Ausgang. Wenn kein geeigneter Platz zum Einnisten gefunden werden kann, bedeutet das den Tod. Wir können spekulieren, dass der Embryo den nächsten Schritt seiner Reise hinauszögert, weil er sich in der Gebärmutter nicht willkommen fühlt. Dann gibt es nur die Möglichkeit, dass die Weiterentwicklung im Eileiter stattfindet, wo aber der Platz viel zu klein ist und bald platzt, was dann zu massiven Bedrohungen für die Mutter führt und die Schwangerschaft beendet, oder dass der Embryo gleich abstirbt.

Wird aber der Schritt vollzogen, und das ist bei jeder gelungenen Schwangerschaft der Fall, dann setzt sich die vorwärtstreibende Kraft des Lebens gegen die Angst durch, und das Leben entwickelt sich nach Plan weiter.

Die Höhenangst und ihre Überwindung

Wir können nun annehmen, dass wir uns an diese Momente (vor dem Eisprung und vor der Einnistung) erinnern, wenn wir vor einem gähnenden Abgrund oder auf dem Dach eines Hochhauses stehen. Wir erleben eine Kraft, die uns vorwärts drängt – es ist die Lebenskraft, die uns in den frühen Momenten unseres Lebens zum Weitergehen motiviert hat. Sie war damals notwendig, um unsere Entstehung, unser Überleben und unser Wachstum zu gewährleisten. Jetzt, in der Erfahrung am Rand eines Steilhangs, ist sie fehl am Platz. Sie kommt aus den unbewussten Tiefen unseres Angstgedächtnisses, in dem die frühen Entwicklungsmomente abgespeichert sind. Sie stößt im aktuellen Erleben auf die reale Angst, die uns davor warnt, in den Abgrund zu stürzen. Sie setzt sich immer durch, außer es mischen sich in diese Situation suizidale Impulse ein, die aus dunklen Quellen von Scham und Verzweiflung herrühren. Im Normalfall weiß unser Körper, dass er auf einem sicheren Boden steht und dass ihm nichts passieren kann. Es ist nur der Gedanke, der uns Angst macht und der wieder verschwindet, sobald wir uns von dem Blick in die Tiefe gelöst haben. Wir vergessen in diesem Moment auf unseren Körper und seinen festen Stand sowie auf unser Lebensvertrauen, das den verhängnisvollen Schritt nie zulassen würde, weil wir von einer alten, unbewusst aufbewahrten Erinnerung übermannt werden.

Wenn wir uns diese Zusammenhänge bewusst machen, kann es uns helfen, die Erfahrung des Stehens an Abgründen im direkten und übertragenen Sinn in unserem Leben besser zu ertragen und ohne Angst zu erleben. Es zeigt uns auch, dass wir schon Momente überstanden haben, in denen eine Überlebensangst aufgetaucht ist, die wir aber mit Hilfe unseres Lebensvertrauens überwunden und bewältigt haben.

In der akuten Situation können wir die auftauchende Angst beruhigen, indem wir uns auf unsere Füße fokussieren und den sicheren Untergrund wahrnehmen, auf dem sie stehen, unsere Atmung spüren und uns kognitiv klarmachen, dass alles in Ordnung ist und dass wir die volle Kontrolle über unsere Impulse haben.


1 Kommentar:

  1. Vielen Dank, Wilfried Ehrmann, für diesen interessanten Artikel! Herzliche Grüße aus der Klingenstadt Solingen, Bernd

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