Samstag, 15. Oktober 2022

Tempo 80/100 und die Widerstände gegen eine Maßnahme zur Nachhaltigkeit

Eine persönliche Erfahrung vorweg: Neulich bin ich eine längere Strecke auf der Autobahn mit ungefähr 100 Stundenkilometer gefahren, fast immer auf der rechten Spur, während links die anderen Autos vorbeizischen. Es sind kaum Überholmanöver notwendig und es braucht kaum eine Aufmerksamkeit auf die Nachkommenden. Das Fahren ist subjektiv wesentlich entspannter als mit 130 km/h. Ich war länger unterwegs und dennoch erholter - ein Zugewinn an Lebensqualität.

Zunächst ein paar Zahlen und Fakten zur Thematik: 

Klimabilanz und Treibstoffersparnis

Laut österreichischem Umweltbundesamt können 460.000 Tonnen CO2-Äquivalente pro
Jahr durch ein Tempolimit 100 statt 130 vermieden werden (das entspricht einer Reduktion des Spritverbrauchs um rund 180 Millionen Liter pro Jahr und einer Ersparnis bei heutigen Spritpreisen von 360 Millionen Euro). Zum Vergleich: Wer 5.000 km mit dem Auto zurücklegt, emittiert dabei eine Tonne CO2. Mit einem Reisebus kommt man etwa 10.000 km weit. Mit dem Zug legt ein Reisender 450.000 km zurück, um auf einen CO2-Fussabdruck von 1 Tonne zu kommen. Ein Langstreckenflug und zurück verursacht 1 - 2 Tonnen CO2 pro Person. Anders formuliert: Mit einer 50-Liter Tankfüllung kommt ein Pkw mit Tempo 130 nur 714 Kilometer, mit Tempo 100 hingegen mit 925 Kilometer deutlich weiter. 

Tempo 130 km/h: 190 g CO2e / km (entspricht 7 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km)

Tempo 100 km/h: 146 g CO2e / km (entspricht 5,4 Liter Treibstoffverbrauch pro 100km – minus 23 Prozent)

Das Tempo 100 statt Tempo 130 auf Autobahnen reduziert den Stickstoff-Ausstoß (NOx) um rund 50 Prozent, den CO2-Ausstoß um 23 Prozent sowie die Feinstaub-Emissionen (PM10 motorisch) um rund 34 Prozent.

Höhere Leistungsfähigkeit der Fahrbahnen

Bei Tempo 100 beträgt die reale Leistungsfähigkeit einer Fahrbahn rund 2.440 Kfz pro Stunde; bei Tempo 130 hingegen nur rund 2.250 Kfz. Eine höhere Leistungsfähigkeit bedeutet weniger Staus und damit weniger Fahrzeit-Verzögerungen. Zusätzlich nimmt bei niedrigerem Tempolimit die Zahl der Verkehrsunfälle ab, was wiederum die Zahl der Staus verringert. Auch wenn es paradox klingen mag: In Summe kann ein niedrigeres Tempolimit dazu führen, dass die Kfz-Lenkenden schneller ans Ziel kommen. Staus werden oft dadurch verursacht,  dass Schnellerfahrende auf der Überholspur wegen Langsamerfahrenden abbremsen müssen.

Weniger Verkehrslärm

Eine Verringerung des Tempos von 130 auf 100 km/h führt zu einer Reduktion des Verkehrslärms um drei Dezibel. Eine Reduktion um drei Dezibel wird vom menschlichen Ohr wie die Halbierung der Verkehrsmenge wahrgenommen.

Was spricht dagegen?

Manche Autofahrerklubs biegen die Zahlen ein wenig um, womit sie ihr Klientel, aber nicht die Umwelt und die Klimaentwicklung bedienen. Aber an der massiven Macht der Berechnungen lässt sich nicht rütteln, auch wenn ein paar Prozente mehr oder weniger unterm Strich stehen. Tempo 130 oder noch darüber zu fahren, ist im Hinblick auf die Umwelt ein Luxus, den sich nicht einmal in einem reichen Land die Mehrheit gönnen kann. Es ist also immer eine Minderheit, die die schmalen Vorteile genießt, während die Folgen von der Gesamtheit der Menschheit getragen werden müssen. 

Realpolitisch betrachtet, wird sich in unserem Land der Benzinbrüder und Autofetischisten an 100/130 nichts ändern, solange die Klimakatastrophen anderswo zuschlagen. Grünenfeinde fürchten schon, dass ihnen die Politik das Autofahren verbieten will. Die Sprecherin der konservativen Partei wischte entsprechende Vorschläge mit der Bemerkung vom Tisch:  „Tempo 100 auf Autobahnen bringt wenig Nutzen und sorgt nur für Ärger bei den Betroffenen.“ Die Vertreter der Rechtsparteien sprechen von „reiner Frotzelei“, während die Liberalen an die „Eigenverantwortung“ appellieren. Die Grünen wiederum sind zwar für Tempolimits, resignieren aber angesichts der breitgefächerten politischen Gegnerschaft.

Die Macht der Gewohnheit und die Ärgerbürger

Die Macht der Gewohnheit, mit der vermeintlich Rechte ersessen wurden, ist zäh und schwer zu brechen. Jede neue Regelung führt bei vielen zunächst zu Ärger, bis sie irgendwann zur Selbstverständlichkeit wird. Nach dem Ärgerpegel Politik zu machen, ist sinnlos, weil es immer Menschen geben wird, die Veränderungen nicht gutheißen, genauso wie es immer Menschen geben wird, die mit dem Status quo unzufrieden sind.

Allerdings: Keine politische Partei will die Stimmen all jener verlieren, die ein Auto haben, mit dem sie locker 130 fahren können und jede Reduktion des Tempolimits als Einschränkung ihrer Freiheit und ihrer Rechte ansehen und einen Hass auf alle Politiker entwickeln, die sich erfrechen in ihre Gewohnheiten einzugreifen. Es ist aber reine Gewohnheit, die Zeiten mit den gegenwärtigen Höchstgeschwindigkeiten zu berechnen und sich nicht vorstellen zu können, für die gleiche Strecke ein paar Minuten länger zu brauchen, also z.B. am Morgen fünf Minuten früher außer Haus zu gehen.

Es ist zwar gegenwärtig eine Entwicklung zu beobachten, dass mehr und mehr Leute die Autoverwendung angesichts der hohen Spritpreise und den anderen Preissteigerungen einschränken: 47 Prozent fahren nun spritsparender, 45 Prozent gehen häufiger zu Fuß, 30 Prozent fahren häufiger Rad. (Quelle)

Sie erkennen, dass sie kurze Wege, die den Hauptteil des Autoverkehrs darstellen, auch anders billiger zurücklegen können. Es ist aber anzunehmen, dass dieser Trend wieder verschwinden wird, sobald die Benzinpreise auf das gewohnte Niveau zurückgehen.

Einschränkung der Freiheit?

Das Hauptargument gegen Tempolimits ist die Einschränkung der Freiheit. Bekanntlich sollte die eigene Freiheit soweit reichen, bis sie auf die Freiheit von jemand anderem stößt. Augenfällig ist dieses Prinzip, wenn man jemanden anrempelt. Die Freiheitszone der anderen Person wird verletzt, und sie wird sich dagegen zur Wehr setzen. Beim Autofahren sind diese Grenzen abstrakter. Wenn wir durch eine Gegend mit dem Auto fahren, merken wir nicht, welche Menschen wie unter dem Lärm und den Abgasen leiden. Wir merken auch nicht, wie sich unser Schadstoffausstoß auf die Atmosphäre auswirkt und wie diese Auswirkungen auf das Klima zurückwirken. Wir richten Schaden an, ohne dass wir es erkennen, und nehmen deshalb naiverweise an, dass wir nur unsere Freiheitsräume ausnutzen. Wir kennen zwar die Zusammenhänge, wollen dieses Wissen aber tunlichst von unserem Verhalten abkoppeln, um keine unangenehmen Scham- und Schuldgefühle zu entwickeln. Viele wehren sich deshalb so heftig gegen neue Regelungen, die sie als Einschränkungen erleben, weil sie nicht an die Folgen ihres Verhaltens für die Menschheit und den Planeten erinnert werden wollen.

Der Appell an die „Verantwortung“

Statt zwingende Maßnahmen zu erlassen, appellieren die Politiker an die „Eigenverantwortung“ der Autofahrer. Bei solchen Statements handelt es sich um bloße Leerformeln. Natürlich nimmt jeder die Verantwortung für sein Tun auf sich, und die meisten werden es sich so einrichten, wie es für sie am angenehmsten oder am gewohntesten ist. Was soll aber der Appell an die Verantwortung, wenn die Folgen des Tuns, nämlich der verursachte Schadstoffausstoß, keinerlei Konsequenzen haben? Niemand mahnt irgendwelche Wirkungen ein, die Natur nimmt sie zur Kenntnis und ändert sich, mit unabsehbaren Folgen. Die „Verantwortungsübernahme“ geht völlig ins Leere, weil wir einfach ausblenden können, was uns nicht angenehm zu wissen ist; wir sind niemandem irgendeine Rechenschaft schuldig und es gibt niemanden, der uns zur Rechenschaft zieht. Die nachkommenden Generationen, die uns vielleicht einmal anklagen werden, sind jetzt noch nicht auf der Welt oder haben noch keine Stimme und noch kein Wahlrecht.

So beißt sich die Katze in den Schwanz. Politiker nehmen lieber auf Menschen Rücksicht, die mit ihrem Verhalten nachhaltige Schäden anrichten und bestärken sie damit in ihrem Verhalten – und überlassen ihnen dann  noch großzügig ihre Verantwortung, obwohl sie selber sich aus der Verantwortung zur nachhaltigen Gestaltung der Gesellschaft, die ihnen übertragen wurde, schleichen. 

Die sogenannten betroffenen Menschen ärgern sich schon im Vorhinein und machen diesem Ärger oft lauthals Luft, um Regelungen, die ihnen mehr Zeit im geliebten Auto verordnen, aber nachweislich erhebliche Verbesserungen in der Schadstoffbilanz nach sich ziehen, möglichst im Vorfeld schon zu verhindern. Wer laut schreit, hat meistens nicht Recht. Aber dieses Recht hat keinen Kläger und keinen Richter, und damit kann sich jede/r seine Verantwortung zurechtzimmern, wie er/sie will.


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