Donnerstag, 18. Oktober 2018

Wahrheit und Illusion

Die wirkliche Wirklichkeit 


Der Begriff der Illusion ist beliebt bei spirituellen Lehrern. Er geht zurück auf die Gestalt der indischen Göttin Maya, die unter anderem für geistige Verblendung, Illusion und Zauberei steht. In der Advaita-Tradition bezeichnet der Begriff den Zustand des begrenzten Ichs, das die Welt nur über die Sinne wahrnehmen kann, während die “wirkliche” Wirklichkeit, das wahre Selbst, erst im Zustand der Befreiung erfahren werden kann. Demnach gibt es ein Leben in der Illusion, bei dem die Menschen den Täuschungen der Sinne und des Geistes unterworfen sind, und als Kontrast dazu ein Leben in der Wahrheit, bestimmt von der wirklichen Erkenntnis des Seins. 


Das Höhlengleichnis 


Aus der westlichen Geistesgeschichte ist das Höhlengleichnis aus der Politeia des griechischen Philosophen Platon überliefert. Das Gleichnis beschreibt den inneren Läuterungsweg eines Menschen, der zuerst mit den anderen Menschen in der Höhle lebt und Schattenbilder, die dort gezeigt werden, für die Wirklichkeit hält. Nachdem er aber aus der Höhle geführt wird und am Sonnenlicht die Dinge in ihrer farbenfrohen Wirklichkeit sieht, kann er die Schattenbilder in der Höhle nur als täuschende Illusionen abtun. Allerdings glauben ihm die Menschen nicht, denen er von seinen Erfahrungen im Sonnenlicht erzählt, so stark sind sie in ihre Gewohnheiten eingebunden. 

Das Vermittlungsproblem, um das es in diesem Artikel gibt, wurde auch schon von Platon thematisiert. In ihrem festsitzenden Unglauben machen sich die Unwissenden über den Wissenden lustig und drohen sogar damit, alle, die sich von der Unwissenheit befreien wollen, umzubringen. Historisch wird damit auf den Tod von Sokrates angespielt, der von den “Unwissenden” wegen seiner Art der Wissensvermittlung angeklagt wurde und den Freitod wählte. Lieber halten die Menschen mit Gewalt an ihren Illusionen fest, als dass sie sich von einer neuen Perspektive überzeugen lassen, so die pessimistische Schlussfolgerung von Platon.  


Wahrheit und Illusion in der aktuellen Lehre 


Weniger von Platon, aber mehr von der Tradition des Vedanta-Advaita  ist die zeitgenössische spirituelle Szene geprägt, aus der hier ein paar Zitate zum Thema folgen. Der spirituelle Lehrer Mooji spricht von der Illusion in jeder spirituellen Suche: “Auf die Suche nach dem Selbst (als Ziel) zu gehen, ist eine Illusion.” Der Advaita-Meister Ramesh Balsekar sagte: “Der eigene Eindruck des Agierens ist eine Illusion, der freie Wille ist eine Illusion.” Und Osho meinte: “Was immer du siehst, hörst, fühlst, alles ist Illusion. ... Die ganze Welt ist Illusion, du bist es nicht.” Eckart Tolle spricht davon, dass alle Probleme Illusionen des Verstandes sind. Es wären Folgen von Konditionierungen, die uns vorspiegeln, dass wir wichtig sind, dass wir etwas darstellen und auf uns selber eingebildet sein können.  

Viele Menschen, die die Erfahrung der profunden Befreiung erlebt haben, sei es auch durch Nahtoderfahrungen, Meditationserlebnisse oder spirituelle Krisen, beschreiben einen klaren Unterschied von vorher und nachher als Unterschied von Illusion und Wirklichkeit, eben wie ein Aufwachen aus einem Traum oder eine Erleuchtung aus einer Dunkelheit. In diesem Zusammenhang wird die Rede von der Illusion oder der Täuschung sinnvoll, weil sie einen subjektiv erlebten Erfahrungsprozess beschreibt. 

Das Belehrungsgefälle 


Problematisch wird der Begriff der Illusion allerdings dort, wo er in die Kommunikation mit Menschen eingebracht wird, die solche oder ähnliche Erfahrungsprozesse nicht erlebt haben. Denn in diesem Zusammenhang fließt sofort eine Bewertung in die Unterscheidung von Illusion und Wahrheit ein. Einer Illusion verfallen zu sein ist im allgemeinen Verständnis einfach dumm oder naiv, während über die Wahrheit zu verfügen als weise gilt. Die Unterscheidung schafft ein Gefälle: Oben ist, wer über die Wahrheit verfügt, und unter ihm befinden sich jene, die in einer Illusion feststecken. Wer oben ist, ist überlegen, die unteren fühlen sich beschämt. Ihnen fehlt etwas Wesentliches, und sie sollten sich anstrengen, um auch nach oben zu kommen. Eine spirituelle Überlegenheit kann leicht zu einer spirituellen Überheblichkeit werden. 

Natürlich verwenden Lehrer provokative Begriffe, um die Schüler an ihren Schwachpunkten und Fixierungen zu erreichen und sie darauf aufmerksam zu machen. Sie wollen die Menschen aufwecken, um ihnen zu verdeutlichen, dass sie nur über eine limitierte Erfahrungsweise verfügen, die an ihren Problemen und ihrem Leiden beteiligt ist. Dazu nutzen sie auch plakative Unterscheidungen und verwenden Begriffe, die aus ihrer Sicht genau beschreiben, worum es geht, oft ohne darauf zu achten, wie diese Begriffe verstanden werden und welche Funktion sie auf der Vermittlungsebene bekommen.  

„Wenn du ein Problem hast, unterliegst du einer Illusion. Du bildest dir das Problem nur ein. Ich weiß das, weil ich mehr über die Wirklichkeit verstanden habe als du.“ Das mag aus der Perspektive einer absoluten Einsicht stimmen, ob es allerdings ein hilfreiches Wissen ist oder als herablassende Belehrung ankommt, die verstört, kann nur der jeweilige Adressat für sich entscheiden. 


Absolutes kann nur relativ kommuniziert werden 


Auf der Vermittlungsebene ist jeder Lehrer nur ein Lehrer, gleich ob er über Relatives oder Absolutes spricht. Das Absolute ist also auf der Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation immer ein Relatives, denn jeder Empfänger hat sein individuelles vorpräpariertes Empfangssystem. Dazu kommt, dass jeder Lehrer des Absoluten unterschiedliche Erklärungsmodelle und Zugangsweisen verwendet. Sobald ein Inhalt aus dem holistischen Bewusstsein öffentlich und kommunikativ mitgeteilt und dargestellt wird, spielt sich das schon auf einer anderen Bewusstseinsstufe ab, im besten Fall im systemischen Bewusstsein, wo die Relativität jeder Aussage als kommunikatives Grundprinzip erkannt und etabliert ist. 


Illusionen als Überlebenshilfen 


Andererseits behauptet der Lehrer, der über Illusionen spricht, von einem absoluten Standpunkt aus zu sprechen, von dem aus alle relativen Sichtweisen „unwirklich“ sind, also als wertlose Einbildungen des verwirrten menschlichen Verstandes erscheinen. Bei dem, was als Illusionen bezeichnet wird, handelt es sich freilich um wichtige Errungenschaften der Evolution und der innerpsychischen Entwicklung, notwendig zur Realitätsbewältigung in einer relativ strukturierten Welt, in der zunächst einmal überhaupt keine absoluten Wahrheiten vorkommen. Psychodynamisch betrachtet, haben wir es bei dem, was als Illusion etikettiert wird, im weitesten Sinn mit Überlebensprogrammen und den daraus abgeleiteten angstgesteuerten Schlussfolgerungen zu tun, die sich als Folge von Traumatisierungen faktisch bei allen Menschen zeigen. In vielen Fällen spielen sie schon lange keine konstruktive Rolle in der aktuellen Lebensgestaltung mehr, sind aber dennoch weiterhin als unbewusste Antriebe wirksam, solange, bis die zugrundeliegenden Verletzungen und Traumatisierungen bearbeitet sind.  

Folglich tragen wir viele dysfunktionale Denkstrukturen und Motive in uns herum, viel psychisches Gerümpel, das wir eigentlich schon längst nicht mehr brauchen. Es kann uns einleuchten, wenn da jemand kommt, der uns darauf aufmerksam macht. Aber wir sollten uns deshalb nicht abgewertet fühlen und schämen, wenn uns jemand sagt, wir befänden uns in einem Käfig von Illusionen und wären unfähig, die eigentliche Wahrheit zu erkennen. Denn das gilt für alle, die sich in der relativen Welt bewegen und mit ihren Komplexitäten umgehen müssen. Auch ein erleuchteter Mensch kommt nicht umhin, den Lastwagen als Realität anzuerkennen und am Straßenrand zu warten, bis er vorbei ist; die Ansicht, dass der Lastwagen nur eine Illusion ist, ist dazu relativ belanglos und unter Umständen lebensgefährlich. 


Erkenntnis und Mitgefühl 


Ein spiritueller Lehrer sollte darauf achten, ob und wo er in seinem Lehren in eine subtile Abwertung der Schüler kippt. Die Vermittlung des Absoluten ist in Worten nicht möglich, denn Worte führen immer direkt ins Dickicht der menschlichen Relativität. Es sind die kommunikativen Zusammenhänge, die die Bedeutungen festlegen, und dieser Dynamik kann sich kein spiritueller Lehrer entziehen. Ein Lehrer ist nur so gut, als er die Befindlichkeiten und Aufnahmekapazitäten seiner Rezipienten berücksichtigen kann.  

Platon drückt das in Hinblick auf das Höhlengleichnis folgendermaßen aus: “Wenn einer Vernunft hätte, (…) würde er (…), wenn er eine (Seele) verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Licht kommt.” (Politeia 106 c nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher). wir brauchen die Vernunft, um zu erkennen, ob ein Wissen, das uns begegnet, aus einer verengten oder einer geweiteten Perspektive kommt, d.h. ob wir es vernachlässigen oder ob wir von ihm lernen können. 

Die Rede vom Illusionären der phänomenalen Wirklichkeit, also der Welt der Alltagswahrnehmung, trifft genau auf diese Welt mit all ihren Verstrickungen. Der Schleier auf dieser Welt verschwindet nicht dadurch, dass er benannt wird. Allenfalls wird durch das Aufzeigen der Wunsch im Zuhörer ausgelöst, dass sich der Schleier lüften möge, er muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es dazu keinen Weg gibt. Es ist nämlich gleich darauf die Rede davon, dass jeder Weg in diese Transzendenz ebenso illusionär ist. Auf diese Weise führt das Aufzeigen der getäuschten Weltsicht zu einem Koan, einem unauflöslichen Widerspruch. Du befindest dich im Gefängnis der Selbsttäuschung, und die einzige Erkenntnis ist, dass es sinnlos ist, einen Ausweg zu suchen.  

Wenn es dem Adressaten der Rede gelingt, die Spannung dieses Widerspruchs aufrecht zu erhalten, dann erreicht die Botschaft, was sie erreichen will. Die Lösung des Rätsels liegt darin, sich selber in seiner Kleinheit wahrnehmen zu können, in einer Haltung der Demut zu akzeptieren, wie sich der Widerspruch anfühlt und auf das zu vertrauen, was nun von selber geschieht. Spirituelle Einsicht trifft sich mit dem Mitgefühl und der Hingabe, die Kräfte von Dhyana (Erkenntnis) und Bakthi (Liebe) nach der hinduistischen Terminologie vereinigen sich. Im Annehmen dessen, was gerade ist und was sich daraus entwickelt, ist auf einmal der Schleier der Illusion durchbrochen.

Zum Weiterlesen:
Die Illusion des bewussten Selbst
Illusion und Lebenspraxis

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