Mittwoch, 13. Dezember 2017

Illusion und Lebenspraxis

Wie können wir die Erkenntnisse der Wissenschaften, die uns zeigen, dass unser Unbewusstes sowohl zeitlich wie logisch vor unserem Selbst-Bewusstsein kommt, für unser Selbst-Bewusstsein nutzen? Es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, was sich in uns abspielt, auch wenn es mit Konzepten, die wir von uns selber aufgebaut haben, nicht zusammenpasst. Es ist aber auch wichtig, dass wir wissenschaftliche Theorien als Versuche verstehen, die Wirklichkeit besser einzuschätzen, das zwingt uns aber nicht dazu, das wissenschaftliche Modell als die bessere Wirklichkeit anzusehen. Vielmehr gilt es, jedes dieser Modelle mit unseren anderen Lebensmodellen und mit unserer subjektiven und sozialen Lebenspraxis in Verbindung zu bringen.

Selbst-Vertrauen


Unser Leben wurde und wird mit großer Kompetenz von unserem Unbewussten gestaltet. Alles, was wir bisher geschafft und erreicht haben, verdanken wir den inneren Systemen, die Tag und Nacht arbeiten und einen Bruchteil ihrer Tätigkeit unserem Bewusstsein weitergeben. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, können wir uns ein wenig zurücklehnen und unsere Sorgen einbremsen. Wir können (und müssen) unserem Unbewussten vertrauen und anerkennen, was es leistet. Wir brauchen uns selber nicht mehr so wichtig zu nehmen und können leichter mit dem Leben und seinen Herausforderungen mitschwingen, wenn wir zugeben, dass wir eher Zuschauer als Gestalter sind. Die zentrale exekutive Struktur wird es schon richten.


Selbst-Schätzung


Da wir uns viel in unserem Denken aufhalten, das wir alles unserem bewussten Selbst zuschreiben, nehmen wir uns enorm wichtig. Wir bestätigen uns fortlaufend, dass wir das Zentrum der Welt sind. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass unser Leben eigentlich von unserem Unbewussten geführt wird und wir nur die Kommentatoren oder Zuschauer dabei sind, können wir ein Stück bescheidener werden und unser Ich in seiner Wichtigtuerei milde belächeln. Da habe ich zu wenig Wertschätzung bekommen, dort hat jemand nicht bemerkt, wie toll ich bin usw. – all diese Kränkungen, die wir uns immer wieder selbst zufügen, weil wir ein überspanntes Konzept von uns selbst aufgebaut haben, können wir leichter loslassen, wenn wir anerkennen, dass wir eine recht einfache und kleine Rolle in unserem Leben spielen verglichen mit den enormen Aktivitäten, die unsere unbewussten Abläufe regeln. Wir sind so gut oder so schlecht, wie es unser Unbewusstes und seine Verfasstheit zulässt. Schätzen können wir, was da alles zu unserer Zufriedenheit läuft, ohne unser bewusstes Zutun.



Unser Ego ist vielleicht beleidigt, weil es mit der Kränkung seiner Wichtigkeit nicht einverstanden ist. Es schwankt mit Vorliebe zwischen Über- und Unterschätzung und sieht das als wichtige Anpassungsleistung. In Wirklichkeit sind es nur meist unbeholfene Versuche, sich an die Erwartungen anderer anzupassen, gesteuert von unbewussten Ängsten, auf die sich das Ego um keinen Preis einlassen will.

Erweiterung der Toleranz


Wenn wir die Theorie ernstnehmen, kann sie eine Grundlage für eine Erweiterung von Toleranz als zwischenmenschlichem Prinzip liefern. Wir unterstellen uns gegenseitig oft Absichten hinter den Handlungen, die uns missfallen. „Du wolltest mir wehtun.” „Du hast absichtlich nicht an mich gedacht.” usw.  Laufend machen wir Fehler, aber die Absicht spielt dabei keine Rolle, wir wären ja blöd, Fehler machen zu wollen. Ebenso laufend vermuten wir hinter den Fehlern anderer, die uns betreffen, schlechte Motive.

Wir sollten allerdings zur Kenntnis nehmen, dass es mit dem Wollen und den Absichten nicht weit her ist. Wir können eigentlich die bewusste Person nicht beschuldigen, sie kann nichts für die von ihrem Unbewussten initiierte Handlung oder Nichthandlung. Wenn wir psychologisch geschult sind und Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens” gelesen haben, neigen wir dazu, die Klage an das Unbewusste der anderen Person zu richten: „Du bist so unbewusst, so achtlos, so rücksichtslos” usw. Allerdings geht diese Klage ins Leere, weil das Unbewusste keine Verantwortung tragen kann, sondern sich nur aus gesammelten Informationen speist, die zu Mustern zusammengefasst sind. Wenn man die Theorie ins eigene innere Verstehen überträgt, kann sie helfen, den Fehlern anderer mit Toleranz und Verständnis zu begegnen, statt sie mit Beschuldigungen, Abwertungen und Anklagen zu überschütten.

Freilich wenn Böses getan wird, Gesetze und wichtige Regeln des Zusammenlebens verletzt werden, muss der Täter mit aller Konsequenz darauf aufmerksam gemacht werden. Das stärkt den sozialen Zusammenhalt, fordert eine Verhaltensänderung und übt Druck aus. Dieser Einfluss wirkt auf die unbewusste exekutive Struktur im Täter und kann dort eine „Einsicht” bewirken, die allerdings nur wirksam werden kann, wenn sie auf der unbewussten Ebene ins persönliche Narrativ aufgenommen wird. Und, so müssen die Vertreter der Theorie argumentieren, alle Handlungen, die Böses mit Konsequenzen und Strafen eindämmen wollen, stammen selber wieder aus dem Pool der unbewussten Systeme, die auch alle sozial förderlichen Impulse beinhalten. 


Verbundensein


In unserem Unbewussten sind Unmengen von Informationen aus unserer Umwelt gesammelt. Wir tragen die Informationen aus all unseren Begegnungen mit anderen Menschen in uns, und sie tragen das, was sie mit uns erlebt haben, in sich. Wir können schwer auseinanderhalten, was von dem, was wir denken, fühlen oder tun, genuin aus uns selber kommt oder aus anderen Quellen gespeist ist. Genauer gesagt, gibt es so etwas wie das eigentliche Selbst gar nicht, weil das, was wir sind, immer schon ein Sammelsurium von äußeren und inneren Einflüssen darstellt. Einzig die Ordnung und Gewichtung all dieser Prägungen ist es, die uns besonders macht. Die Inhalte hingegen sind Allgemeingut. In diesem Sinn sind wir mit allen um uns herum in beständiger Verbindung und in fortlaufendem Austausch, und die Vorstellung von der selbständigen Abgetrenntheit von den anderen, die sich unser Bewusstsein zimmert, ist eine maßlose Übertreibung.


Willenskraft und Dankbarkeit


Wie oben erwähnt wurde, haben wir alle vielfältige Erfahrungen über unser Wollen, seine Möglichkeiten und Grenzen gesammelt. Wir brauchen die subjektive Geltung unserer Willenskraft nicht zu suspendieren, selbst wenn wir wissen, dass sie eine nachträgliche Rolle ausübt; sobald wir den Impuls spüren, eine üble Angewohnheit abzustellen, folgen wir einem unbewusst wirksamen Vorgang. Aber warum nicht? Wir können mit unserem Unbewussten zufrieden sein, wenn es sich in eine von uns als sinnvoll und förderlich empfundene Richtung entwickelt. Und wir können für uns die Annahme hegen und pflegen, dass das Wohlwollen und die Dankbarkeit, die wir uns selbst angedeihen lassen, solche Reaktionsweisen unserer inneren Systeme verstärkt, ob das nun wissenschaftlich haltbar ist oder nicht. Denn das Wohlgefühl, das eine positive Einstellung zu uns selber begleitet, ist auch etwas, das unser unbewusstes System anstrebt und schätzt.
Und für unser Leben gilt immer, dass die Praxis vor der Theorie kommt.


Therapie: Bewusste Umgestaltung des Unbewussten


Beim therapeutischen Arbeiten zielen wir mit bewusster Intention darauf, das Unbewusste zu verändern, Hintergrundaktivitäten und ihre Muster zu beeinflussen. Bloß an der Oberfläche mit verbaler Interaktion zu arbeiten, in der das Bewusstsein sich selber beleuchtet, kann nicht weit führen. Es gleicht zwei Menschen, die nach einem Kinofilm darüber reden, wie der Film anders hätte laufen können. Therapie kann nur verändernd wirken, wenn sie auf die unbewusst operierenden Systeme Einfluss nimmt, also Techniken nutzt, die das Bewusstsein umgehen, indem sie Zugänge zu den unbewussten Strukturen öffnen. Wann immer der innere Sinn, das Nach-innen-Spüren eingesetzt wird, kommen Informationskanäle zum Tragen, die den Kontakt zum Unbewussten aufbauen.

Wenn wir diese Kanäle nutzen, bekommen wir einen Einblick in die Funktionsweise unseres Unbewussten. Wir erkennen die Muster, nach denen unsere Reaktionsweisen geformt sind. Wir spüren, welche Gefühle sich dabei aktivieren. Sobald wir das tun, kommen wir zur Erfahrung, dass dieses Bewusstmachen des Unbewussten das Unbewusste in uns verändert. Wir sind auf der Ebene des Unbewussten lernfähig, und Psychotherapie kann als das Unterfangen verstanden werden, durch Einsatz von bewusster und fokussierter Aufmerksamkeit solche Lernprozesse in Gang zu setzen.

An dem Ansatz von Oakley und Halligan kann ich nicht verstehen, warum gerade diese Perspektive des Lernens ausgelassen wurde. Die sozialen und kulturellen Einflussgrößen auf unser Unbewusstes werden anerkannt, nicht jedoch die Einflussmöglichkeiten, die von unserem eigenen Bewusstsein kommen. Selbst wenn dieses von unserem Unterbewusstsein abhängig ist, hat es vielfältige Möglichkeiten, zurückzuwirken.

Therapie ist immer ein soziales Geschehen, bei dem viele Faktoren im interpersonellen Austausch eine Rolle spielen. Sehr wichtig scheint nach der hier diskutierten Theorie die Einflussnahme auf das Unbewusste zu sein, die vom Unbewussten des Therapeuten ausgeht, also die Abläufe der Übertragung und Gegenübertragung. Was geredet wird, ist offensichtlich weniger wichtig als wie es gesagt wird, die Atmosphäre wichtiger als die Inhalte.

Setzen wir in der Therapie die Körpererfahrung als Informationsquelle ein, so ist in diesem Zusammenhang interessant, was passiert, wenn wir z.B. das autonome Nervensystem, das „unterhalb“ des Exekutivzentrums operiert und dieses in grundlegender Weise beeinflusst, durch verstärktes Atmen auf ungewöhnliche Weise aktivieren. Wir können vermuten, dass es dadurch zu vielfältigen Anpassungsprozessen in den exekutiven Strukturen kommt, die uns ermöglichen, neue unbewusst gesteuerte Erlebens- und Verhaltensweisen aufzubauen.


Ohne Top-Down-Kontrolle keine sinnvolle Lebenspraxis


Was wir für viele Situationen unseres Lebens brauchen, ist die Verbesserung der Top-down-Kontrolle, also der Möglichkeit, über unser Bewusstsein unser Unbewusstes zu regulieren. Wir wollen unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert sein, wir wollen, wenn wir voll gestresst sind, wieder runterkommen können. Wir wollen Reaktionsweisen ändern, mit denen wir unseren Mitmenschen auf die Nerven gehen.

Auch wenn die Oakley-Halligan-Theorie diese Möglichkeit leugnet, sollten wir der Praxis den Vorzug vor der Theorie geben, also zumindest die Als-ob-Schleife als Hypothese annehmen: Wir setzen unser Bewusstsein für unsere Ziele ein, als ob wir dazu in der Lage wären. Offensichtlich üben wir eben damit einen informativen Einfluss auf unser Unbewusstes aus, das von diesem vor allem dann prominent aufgezeichnet wird, wenn wir ähnliche Aktionen wiederholen. Übung macht die Meisterschaft, d.h. die Kontrolle von oben nach unten. Je öfter wir etwas durchführen, desto stärker wird die Bereitschaft unseres Unbewussten, diese Aktionen von sich aus zu initiieren und desto selbstverständlicher werden sie.

Häufig ist die Verhaltensänderung besonders dann wirksam, wenn sie sozial unterstützt ist, wenn also Anregungen, Ermutigungen und Bestätigungen von anderen Menschen kommen, die dann ins Unterbewusste einfließen und dort motivierende narrative Strukturen aufbauen.

Wir können die Oakley-Halligan-Theorie nur dann in unserem Leben verwenden, wenn wir sie mit unserer Lebenspraxis verknüpfen. Dann können wir auch gar nicht anders, als von einer intensiven Kooperation und Kommunikation zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten auszugehen und diese permanent zu nutzen. Es läuft dabei eine wechselseitige Einflussnahme ab, die zwar aus der theoretischen Perspektive permanent relativiert werden kann, weil jede Aktivität Potenziale voraussetzt, die nur unbewusst  zugänglich sind. Aber offenbar gelingt es, gerade diesen Potenzialen und ihrer tragenden Struktur wichtige Impulse aus einer bewussten Intention zu geben. 


Eine Theorie ist eine Theorie


Die hier diskutierte Theorie will theoretische Annahmen korrigieren und einem neuen Menschenbild zum Durchbruch verhelfen, das das Bewusstsein als nachträgliches Epiphänomen darstellt. Sie liefert aber keine Beiträge für das Verständnis der gegenläufigen Prozesse, in denen das Bewusstsein die unbewussten Systeme verändert. Die Herabstufung des Bewusstseins zu einem Nebenprodukt und Seitenphänomen erweist sich nur solange gültig, als die vielfältigen Erfahrungen von bewusstseinsinitiierten Erlebens- und Verhaltensveränderungen nicht berücksichtigt werden. Nehmen wir zur äußeren Perspektive (Dritte-Person-Perspektive) die innere (Erste-Person-Perspektive) hinzu, wird ihre Einseitigkeit klar. Wir, für uns selbst, in unserem unmittelbaren bewussten Erleben, können mit der Nachträglichkeitstheorie des Bewusstseins nichts anfangen. Wir sind wie die

Nehmen wir die aktive Rolle unseres Bewusstseins für unsere Lebensgestaltung hinzu, so wird auch verständlich, warum uns die Evolution mit diesem „Nebenprodukt“ ausgestattet hat, das im Modell von Oakley und Halligan in seiner Nutzlosigkeit etwas einsam inmitten einer Welt voll von sinnvollen Phänomenen herumhängt.


Zum Weiterlesen:
Erzeugen wir unsere Gedanken?
Die Illusion des bewussten Selbst
Die Ko-Produkion der Wirklichkeit und das Absolute

1 Kommentar:

  1. Nun was Du hier schreibst ist sehr tröstlich für den Einzelnen und mich auch, allerdings ist dabei die wichtigste Vorrausetzung, das eine Offenheit sowie eine diziplinierende Fokusierung auf dieses Thema gerichtet ist.
    Die kollektive Praxis schaut leider anders aus, hier herrscht der funktionierende Automatismus vor und die beschriebene Möglichkeit kann kaum zur Wirckung kommen, in dieser Hinsicht hat die die Oakley-Halligan-Theorie peinlich unangenehm recht.
    Nun erfreulich ist, das Wir dieses Stückchen Freiheit geniesen können ... auch wenn hier wahrscheinlich das Unterbewußtsein auch Regie darin führt und Uns dadurch diesen Fokus ermöglicht.

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