Donnerstag, 12. November 2015

Der Neid-Mechanismus

Die gegenwärtige Thematik der Flüchtlingsbewegungen nach Europa gibt auch die Möglichkeit, die Mechanismen des Neides besser zu verstehen. Denn viele Menschen, die am Wohlstand unserer Gesellschaft weniger Anteil haben, reagieren mit Neid, wenn sie hören oder sehen, wie Flüchtlinge ohne „Gegenleistung“ versorgt werden. Und bestimmte politische Gruppierungen greifen das Thema gerne auf, um gegen „die Fremden“ Stimmung zu machen oder sogar zu hetzen.

Ein Szenario, das auch durch diverse Medien gegeistert ist: Ein Schaffner geht durch einen Zug und lässt eine Flüchtlingsfamilie, die keine Fahrscheine hat, mitfahren. Ein einheimischer Fahrgast, der keinen Fahrschein mithat, weil er vergessen hat, ihn zu lösen, muss neben dem Fahrschein auch noch eine Bearbeitungsgebühr bezahlen, wie das eben die Regelung vorsieht. Der Fahrgast fühlt sich benachteiligt: Die (noch dazu Fremde in unserem Land) dürfen gratis fahren, ich (einheimisch und sesshaft) muss noch draufzahlen. Oder: Die Mindestpensionistin schaut auf ihre magere Geldbörse, während sie im Fernsehen sieht, wie die Flüchtlinge an den Grenzen mit Mineralwasser und Bananen versorgt werden, und denkt sich, ich muss jedes Monat schauen, wie ich mit dem wenigen Geld zurechtkomme, und die kriegen einfach so, was sie zum Leben brauchen – wie ungerecht und gemein – ich sollte ja mehr auf mein Konto kriegen, nachdem ich so lange in dem Land lebe und gearbeitet habe.

Solche Reaktionen sind nachvollziehbar, weil wir alle den Neid-Mechanismus kennen. Nun ist ja die äußere Realität eine andere: Flüchtlinge kommen aus Not und Verzweiflung (selbst die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die zuhause nicht um ihr Leben fürchten müssen, nehmen nicht aus Jux und Tollerei die beschwerlichen Fluchtwege auf sich). Sie können nur hoffen, dass sie versorgt werden, aber sie sind so entschlossen, die Gefahren auf sich zu nehmen, dass sie das Risiko des Scheiterns, also des Todes, auf sich nehmen, weil sie sonst keine Perspektive für ihr Leben und das ihrer Familien sehen. Ihr Kalkül dabei ist sicherlich, dass sich die reichen Länder in Europa nicht leisten können, Menschen einfach verhungern zu lassen. Aber das ist nur eine Hoffnung, denn viele sind auf den Fluchtwegen schon umgekommen.

Die andere Seite der Realität ist, dass ein Fahrgast, der vergessen hat, seinen Fahrschein zu lösen, damit rechnen muss, mehr zu zahlen. Die Regelung gibt es, ob nun Flüchtlinge im Zug sind oder nicht. Zum Unterschied von den Flüchtlingen kann er sich die zusätzliche Gebühr leisten und muss nicht deshalb zwei Tage auf sein Essen verzichten.

Die Pensionistin kriegt ihre Pension, und sie wird nicht weniger, wenn Flüchtlinge ins Land kommen. Deren Versorgung wird nicht von ihrer Pension abgezogen. Wenn sich die Krise aufgelöst hat und die Flüchtlingsströme versiegt sind, kriegt sie deshalb auch nicht mehr. Zum Unterschied von Flüchtlingen kann sie damit rechnen, dass sie das Wenige, was sie kriegt, wenigstens Monat für Monat kriegt, wie schon seit Jahren.

An diesen Punkten setzt der Neid an, der ja ein innerer Prozess ist. Die äußeren Gegebenheiten werden gemäß den inneren Erfordernissen arrangiert: Die eigene Frustration (die Mehrgebühr im Zug, die geringe Pension) wird in Relation gesetzt zu einer Beobachtung im außen, die eigentlich mit der Frustration nichts zu tun hat, aber eine innere Ähnlichkeit aufweist. So wird ein neuer Kontext erschaffen, und das eigene Schicksal wird neben das Schicksal anderer Menschen gestellt. Dann wird in einer Weise verglichen, die einen selber als Verlierer aussteigen lässt: Die zahlen nichts für ihr Essen oder für ihre Beförderung, ich hingegen schon. Ausgeblendet werden andere Faktoren, die den Vergleich anders ausgehen ließen: zum Beispiel das Ausmaß an Sicherheit, das der Fahrgast hat, der weiß, wohin er fährt und wo er, wenn er ankommt, übernachten kann und wie sein Leben danach weitergehen wird. Oder das Ausmaß an Selbständigkeit: Die Pensionistin kann mit ihrem Geld machen, was sie will, und sie kriegt es ohne jede Bedingung. Flüchtlinge kriegen nur das, was sie am Notwendigsten brauchen, und solange sie nicht andere Einkünfte haben. Oder das Ausmaß an Ressourcen und Vertrauen, usw.

Es gibt also viele Faktoren, die den Vergleich der eigenen Situation mit der der Flüchtlinge zu den eigenen Gunsten ausgehen ließen, aber der Antrieb des Neides engt das Bild darauf ein, wie man selber schlechter abschneiden kann. Es ist also eine typische Anleitung zum Unglücklichsein. Ich leide an der zusätzlichen Zahlung oder an der geringen Pension. Der Neid bewirkt, dass ich noch mehr daran leide. Denn der Vergleich mit anderen, die es scheinbar besser haben, vermehrt meine Frustration und verbittert mich. Ich entwickle eine Abneigung gegen die Menschen, die sich in Aggression und Hass steigern kann. Diese Gefühle verstärken meine Missstimmung und schränken mich ein in meinen Möglichkeiten, die Wirklichkeit umfassend wahrzunehmen. Damit verliere ich an innerer Freiheit, ohne irgendetwas dazu zu gewinnen. Einzig das Gefühl, eine Scheinbegründung für das eigene Unglück zu haben, kann der Gewinn sein, doch ist der Preis dafür ein hoher. Es ist der Preis, den ich für meine Emotionen zahlen muss, die meine Lebensfreude einschränken.

Es ist klar, dass die Flüchtlinge (die für die meisten Menschen bei uns nur virtuell vorhanden sind) bloß als Auslöser verwendet werden, um über einen unbewussten selbstschädigenden Prozess das eigene Unglück zu vermehren. Der Mangelzustand herrscht im eigenen Inneren, und er sucht sich Angelpunkte im Außen, um sich beklagen zu können und den Hass darüber ausdrücken zu können. Wenn das eigene Leid und die Klagen darüber Verbreitung finden, bei den Nachbarn und Verwandten, oder wenn sie von den Freunden im sozialen Netzwerk geliket und retweedet werden, entsteht ein Gefühl von Solidarität, das die Hoffnung nährt, dass dem eigenen Mangelzustand doch einmal abgeholfen wird. Wenn der Auslöser beseitigt ist (alle Ausländer raus!), dann könnte die Bahn ihre Tarife senken und die Regierung die Pensionen anheben.

Doch der innere Mangel wird nicht behoben, wenn der Schaffner auf die Zusatzgebühr verzichtet und die Pension substantiell erhöht wird. Denn es ist ein Wunsch nach bedingungsloser Liebe, der auf die Flüchtlinge projiziert wird. Dieser Wunsch kommt aus unserem Grundbedürfnis nach Angenommensein, das wir ganz am Anfang unserer Existenz brauchen, um uns sicher zu fühlen. Ohne diese Bedingungslosigkeit müssen wir um unser Leben fürchten. Denn wir können nichts tun, um unser Überleben zu sichern und können nur hoffen, dass unsere Überlebensbedürfnisse von außen gestillt werden.

Diese Furcht tritt uns entgegen, wenn wir Flüchtlingen begegnen, und unser Unbewusstes löst unsere eigenen Überlebensängste aus. Der Neid hilft uns, dass wir diese Angst nicht spüren müssen, sondern sie in Aggression und Hass ummünzen können. Damit gewinnen wir ein Stück Kontrolle zurück, bezahlen aber dafür mit innerer Anspannung und Verbitterung, die unseren Geist verdunkelt und die Wahrnehmung trübt.

Wenn wir jedoch die Wurzeln des Neides und der Frustration freilegen und uns die damit verbundenen Ängste bewusst machen, dann können wir uns befreien: Von Frustration, Neid, Hass und Aggression. Der Lohn dafür sind die Genien von Zuversicht, Lebensfreude und Liebe.


Zum Weiterlesen:
Wann ist das Boot voll?

Großprobleme und der Drang zum Irrationalisieren
Die Flüchtlinge in unseren Köpfen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen