Samstag, 20. Juni 2015

Ich weiß, was für dich gut ist

„Ich weiß besser, was für dich gut ist als du selber.“ Eltern gebrauchen diesen Satz ihren Kindern gegenüber. Er wird oft verbal geäußert, noch öfter aber implizit in Handlungen übersetzt, nach dem Muster: „Du machst es jetzt so, wie es sich gehört, was ich weiß und du nicht.“

Eltern wissen mehr als Kinder, das ist nun mal sonnenklar, und sie wollen nur ihr Bestes für ihre Kinder. Also müssen sie ihnen auf den Weg mitgeben, wie es richtig und wie es falsch gemacht wird im Leben.

Was sollen Kinder gegen diese Argumentation sagen? Schließlich sind sie vergleichsweise noch kurz auf der Welt und können bei vielen Themen nicht mitreden. Es fehlt ihnen an Wissen und Erfahrung. Deshalb übernehmen sie notgedrungen ungeprüft die Aussagen der Eltern.

Doch gibt es zweierlei Arten von Wissen, die hier eine Rolle spielen. Die eine Art von Wissen handelt von den Dingen und Umständen dieser Welt: Wenn die Ampel auf Rot steht, darf die Straße nicht überquert werden. In der Nacht wird es dunkel, weil die Sonne nicht mehr scheint. Zwei und zwei ergibt vier. Das wissen Kinder von Anfang an nicht, das müssen sie lernen, und da müssen sie sich denen anvertrauen, die es besser wissen.

Die andere Art von Wissen bezieht sich darauf, was ein gutes und ein richtiges Leben ist. Da schöpfen die Eltern aus ihrer Lebenserfahrung, die aber auf ihr Leben beschränkt ist. Ihre Kinder haben viel später, in einer anderen Zeit, mit ihrem Leben begonnen und sind mit gänzlich anderen Voraussetzungen gestartet – genetisch, innerpsychisch, sozial, politisch, ökologisch usw. Die Ähnlichkeiten, die wir an unseren Kindern erkennen, haben nichts damit zu tun, dass diese ganz neue Menschen sind, die in dieser Weise noch nie da waren. Und deshalb ist ihnen unsere Lebenserfahrung nur beschränkt von Nutzen. Sie können sie in ihre Lebensgestaltung als Möglichkeit hineinnehmen, müssen aber selber entscheiden, was ihnen daran nachahmenswert erscheint und was davon sie nicht brauchen können.

Wir haben also in Wirklichkeit überhaupt kein Wissen darüber, was für jemand anderen gut ist. Manchmal maßen wir uns ein solches Wissen an, stülpen dabei aber den anderen unsere Sicht der Welt über – aus Angst, dass wir selber leiden würden, wenn die Person nicht macht, was wir für sie als optimal bestimmen. Wir haben aus unserer Lebensperspektive heraus Erwartungen, und wollen nicht, dass sie von anderen enttäuscht werden, weil wir dann unsere Planungen ändern müssten.

Es sind vor allem die unbewussten elterlichen Erwartungen, die das Erziehungsverhalten steuern. Diese Erwartungen sind oft von den Frustrationen der Eltern gesteuert: Was sie selber in ihrem Leben erreichen wollten und nicht erreichen konnten, erwarten sie von ihren Kindern. Unbewusst erleben sie ihre Kinder aus Erweiterungen ihres Selbst, das mit deren Erfolgen wächst und mit den Misserfolgen schrumpft. Solche Eltern erzählen dann z.B.: „Auf die Mathematik-Schularbeit haben wir eine Zwei bekommen“, als hätten sie selber die Schularbeit geschrieben und als könnten sie den Erfolg aufs eigene Konto verbuchen. Im Fall des Misserfolgs leiden sie mit dem Kind, aber vor allem mit sich selbst, und machen dem Kind den Druck, die Leistung zu erbringen, weil es eigentlich um sie selber geht.

Solche Eltern können sich auch schwer von ihren Kindern lösen. Sie wollen zwar ihren Kindern eigene Fehler und Umwege ersparen, lassen sie aber nicht voll in ihr eigenes Leben. Denn sie können ja nur ein gutes Leben leben, wenn es nach den elterlichen Maßstäben gestrickt ist. Sie halten ihre Kinder damit in Abhängigkeit und bleiben ebenso von ihnen abhängig, es entsteht also eine wechselseitige Dependenz. Mit „bestem Wissen und Willen“ wird den Kindern ein eigenständiges Leben verweigert oder schwergemacht.

Sollen Kinder dagegen mündige und selbstbewusste Erwachsene werden, müssen wir sie in ihrer Eigenwahrnehmung stärken, sodass sie mehr und mehr für sich selber entscheiden können, was für sie gut ist und was nicht. Sie erwerben damit die Sicherheit mit ihrem inneren Sinn, sodass sie spüren können, in welche Richtung sie gehen wollen. Dieses Vertrauen in sich können sie nur entwickeln, wenn ihnen die Eltern vertrauen – bedingungslos, aber nicht blind.

„Keiner weiß besser, was ihm gut tut und für ihn notwendig ist, als der Betroffene selbst. Wir können einander also nicht beibringen, was für uns gut ist. Nicht mit noch so ausgeklügelten Techniken. Aber wir können einander dabei unterstützen, es selbst herauszufinden,“ schreibt der personzentrierte Psychotherapeut Peter F. Schmid.

Unmündigkeit in der Gesellschaft


Wir finden das Modell des Besserwissens in unserer Gesellschaft, und es ist da weit verbreitet, offenbar weil es auch in der Erziehung nach wie vor eine große Rolle spielt. Nehmen wir als Beispiel das Gesundheitssystem. Was eine gute Therapie für ein Leiden darstellt, wird von der etablierten Medizin bestimmt, möglichst, aber praktisch nur in seltenen Fällen, gestützt auf evidenzbasierte Medizin. Denn zur größten Zahl der Behandlungen gibt es nur Erfahrungswerte, aber keine empirische Daten. Jedenfalls bestimmt der medizinische Experte, was gut für den Patienten ist. Der Patient mit seinem eigenen Wissen über seinen Organismus und seine Persönlichkeit kommt dagegen nicht oder kaum zur Sprache. Das Gesundheitssystem weiß, was für seine Zugehörigen das Beste ist, auch wenn es nur statistische Daten oder herkömmliche Verfahrensweisen sind, die zur Verfügung stehen.

Es ist die Dritte-Person-Perspektive, die hier eingenommen wird: Es gibt ein objektives Wissen, dem gefolgt werden muss, damit das Heil erlangt wird. Die Person selber und ihr Wissen spielt keine Rolle und ist nicht gefragt. Sie wird behandelt wie ein unmündiges Kind, dessen unmündiger Status bewahrt werden soll. Das ist der Preis der Auslieferung an den Standard der Dritten-Person-Perspektive als einzig vertrauenswürdigen Quelle von sinnvollem Wissen: Die Irrelevanz des subjektiven Wissens und des inneren Sinns als Informationsquelle. Patienten, die ihre Befindlichkeit und ihr Wissen über sich selbst einbringen, stören und sind lästig, wie kleine Kinder, die zuviele Fragen stellen anstatt zu tun, was man ihnen sagt.

Der Aufruf an die Aufklärung, den Immanuel Kant im 18. Jahrhundert formuliert hat:

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, müsste heute lauten: „Habe Mut, deinem inneren Sinn zu vertrauen.“ Zu diesem Mut gehört, aus dem Vertrauen selbstbestimmt zu handeln und im eigenen Leben beide Perspektiven zu verbinden: Das objektive Wissen, das die Wissenschaften liefern, und das subjektive Wissen, das der innere Sinn zur Verfügung stellt. Zu dem Mut gehört auch, anderen Menschen diesen Mut zuzumuten. Dann kommen wir unseren Kindern und auch allen Mitmenschen gegenüber nie mehr auf die Idee, besser als sie selber zu wissen, was für sie gut ist.

Vgl. Die Erste-Person-Perspektive als Wissenschaft
Die Innenperspektive

1 Kommentar:

  1. Wenn sich alle an die Regel halten würden, dass jeder Mensch selbstbestimmt sein kann und darf, hätten wir (fast) eine wunderbare Welt.

    Meine Mutter hat mich auch sehr geprägt mit Ihren „Anweisungen“, wie ich mein Leben zu leben habe. Mit viel versteckten Botschaften hat sie mir beigebracht, wie man sich verhält, um nicht aufzufallen (keiner durfte merken, dass der Vater Alkoholiker war) und das Leben geniessen ging schon gar nicht.

    Nach bald 500 Stunden Psychoanalyse sehe ich den grössten Gewinn in der Einsicht, dass jeder am besten für sich entscheiden kann, nicht nur ich, sondern auch meine ganze Umgebung. Nur ich weiss, was ich jetzt brauche, will, nicht will. Das weiss nicht der beste Therapeut, der Pfarrer in der Kirche oder der Meister in Aikido.

    Diese Einsicht bedeutet auch, dass die Akzeptanz aller Entscheidungen meiner Mitwelt mich davon befreit, die Kontrolle über das Wohlbefinden der ganzen Welt übernehmen zu müssen. Die vermeintliche Kontrolle über die Gefühle der anderen haben zu wollen, ist ja meist die Abwehr der schlechten Gefühle, die man hat, wenn es unseren Liebsten (oder den Freunden oder allen Menschen oder gleich noch allen Tieren) schlecht geht.

    Es bedeutet aber auch, dass jeder für seine Entscheidungen, die er getroffen hat, verantwortlich ist. Also auch eine Mutter, die sich entschieden hat, mit ihren Kindern bei einem Alkoholiker auszuharren, ist verantwortlich für das Leid der Kinder. Denn diese sind bis zu einem gewissen Alter von den Eltern abhängig und können noch nicht selbstbestimmt sein.

    Mit der Einsicht über die Selbstbestimmung des Menschen muss ich also meine Mutter nicht mehr in Schutz nehmen und denken, dass sie nicht anders handeln konnte. Sie hätte durchaus können. Unbewusst war mir das schon als Kind klar und es hat sich eine riesige innere Wut angestaut, die ich bisher verdrängt habe mit dem lapidaren Satz (den ich übrigens von allen Verwandten immer hören muss) „sie konnte nicht anders, sie hat ihr Bestes getan“.

    In diesem Sinne: Selbstbestimmt handeln, aber sich der Verantwortung bewusst sein, die man sich selber und anderen gegenüber hat.

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