Ein Phänomen dabei ist die Ansteckung mit Stress. Was wir im Großen von Massenpaniken kennen, die glücklicherweise nicht allzu oft vorkommen, spielt sich im Kleinen in vielen täglichen Begegnungen ab. Die eine Person ist entspannt, die andere angespannt. Selbst wenn die Begegnung nur oberflächlich und kurz ist, wie auf einer Rolltreppe, kann sich schnell der Stress übertragen. Z.B. beginnt sich die entspannte Person über die hektische Person zu ärgern, die sie rempelt. Schon ist die Entspannung weg, und der Stress hat sich schon übertragen, wie ein Grippevirus durch das Husten.
Unsere Ansteckungsfähigkeit hängt ab vom Grundzustand unseres Stress-Immunsystems. Ähnlich wie beim Abwehrsystem des Körpers gegen Krankheitskeime, das andauernd aktiv ist, sodass wir nur dann krank werden, wenn es überfordert oder überlastet ist, hängt auch unsere Stressabwehr von aktuellen und „konstitutionellen“ Faktoren ab. Akute Anstrengungen und Leistungsanforderungen machen uns reizbarer und empfindlicher. Zu den „konstitutionellen“ Faktoren zählen die Stresserfahrungen aus den Früherfahrungen, ihre Intensität und ihre Dauerhaftigkeit, die die Robustheit oder Anfälligkeit unserer Stressabwehr beeinflussen.
Projektion und Stressübertragung
Was passiert, wenn sich Stress überträgt? Es läuft ähnlich wie bei Projektionen. Bei Projektionen wird ein Trauma innerlich aktiviert. Ein wichtiger gefühlsmäßiger Anteil daran wird nicht wahrgenommen und statt dessen abgespalten und bei anderen Menschen wahrgenommen. Wir reagieren emotional auf das Verhalten dieser Personen, mit Furcht, Verletztheit oder Ärger. Und wir bemühen uns, die anderen Personen dazu zu bringen, ihr Verhalten, das uns so aufregt, abzustellen und sich in unserem Sinn zu ändern. Jedoch haben wir meist nur einen beschränkten Erfolg. Auch wenn sich die andere Person bemüht, ihr Verhalten zu ändern, kommt es immer wieder zu Rückfällen. Es kann aber auch sein, dass sich im Maß unserer Bemühungen, die andere Person zu ändern, deren Verhalten sogar verstärkt.
Wir müssen erst einmal einsehen, dass es unser Unterbewusstsein ist, das andere Menschen zu dem Verhalten einlädt, damit wir das eigene Trauma nicht spüren müssen. Dann können wir in uns an der Aufarbeitung des Traumas arbeiten und werden erkennen, wie wir aufhören, auf das Verhalten der anderen Person, das uns früher so störte, emotional zu reagieren. Wir bleiben gelassen. Meistens führt es dazu, dass die andere Person ohne jede Aufforderung und ohne jeden Druck von unserer Seite mit ihrem Verhalten „von selber“ aufhört. Die unbewusste Einladung ist nicht mehr da, deshalb macht das Verhalten keinen Sinn mehr.
Mit Stress verläuft es ähnlich: Wenn sich eine Person im Stress fühlt, versucht sie unbewusst, andere Menschen anzustecken, damit sie sich in ihrem Stressmuster bestätigen kann. Stress wird durch Angst ausgelöst, und unbewusst suchen wir in der Angst Verbündete, die die Angst teilen. Wir erzählen deshalb anderen Menschen, wenn uns etwas Schreckliches passiert ist oder droht, und wollen, dass sich diese genauso aufregen wie wir selbst. Hilft das nicht, dann werden wir aggressiv auf die andere Person: Du verstehst mich nicht, du willst nur beschwichtigen, du ignorierst die Gefahr etc., bis wir die andere Person in einen Stresszustand versetzt haben. All das läuft natürlich nur in seltenen Fällen bewusst und geplant ab (z.B. bei politischer Propaganda), meist sind unbewusste Mechanismen am Werken. Je weiter wir in die Fänge dieser Abläufe geraten, desto schwerer ist der Weg wieder heraus zu finden.
Wenn also andere Personen auf die eigene Stress-Schwingung ansprechen und entsprechend reagieren, geraten sie, ohne es zu merken, in Stress. So bauen sich Stressfelder auf. Jede Person, die neu dazukommt, wird von immer mehr Menschen angedockt, sodass es immer schwerer wird, sich von der Ansteckung fern zu halten. So kann sich Stress wie eine Seuche ausbreiten, historische Beispiele gibt es genug, noch mehr zu denken geben sollten uns allerdings die Alltagsszenen, weil wir von diesen unmittelbar selber betroffen sind.
Paradox erscheint in diesem Zusammenhang, dass das rasante Ansteigen von nichtansteckbaren Krankheiten (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Asthma, usw.) möglicherweise gerade durch Ansteckung mit Stress hervorgerufen oder begünstigt wird.
Stressresilient werden
Zu lernen, trotz Stressangebot entspannt zu bleiben, ist eine wichtige Voraussetzung nicht nur für Berufe, die mit Notsituationen zu tun haben, sondern für alle Menschen einer stressanfälligen Gesellschaft. Auf der Ebene des Nervensystems formuliert, geht es darum, die Leistungsfähigkeit des Parasympathikus zu steigern. Dazu dienen alle Formen des Entspannungstrainings und der Meditation. Dazu gilt es, die Quellen der chronifizierten Stresserwartungen aufzuspüren und mit Hilfe von Therapie zu heilen.
So bauen wir eine Stresskompetenz auf, die uns hilft,
- Entspannung in uns zu kultivieren
- Stressangebote zu erkennen
- Auf Stressangebote nicht zu reagieren
- Bei Reaktion auf das Angebot schneller wieder in die Entspannung zu kommen.
Mit verbesserter Stresskompetenz tun wir uns selber viel Gutes: Bekanntlich ist unser Immunsystem stressabhängig, ergo bleiben wir gesünder, wenn wir uns gut entspannen können. Wir leben ausgeglichener, kreativer und leistungsfähiger, zugleich sozial offener.
Wir tun aber auch anderen viel Gutes: Wir helfen ihnen, aus dem eigenen Stressmuster schneller auszusteigen, wenn wir entspannt auf Stressangebote reagieren. Wir reduzieren damit den allgemeinen Stress in unserem Umfeld und setzen Domino-Effekte in der anderen Richtung in Gang: Menschen, die sich in unserer Gegenwart entspannen, entspannen Menschen, mit denen sie in Kontakt kommen.
Wenn wir den Weg der Meditation und Therapie gehen, die aus meiner Sicht in Kombination die wichtigsten Hilfsmittel zum Aufbau von Stressresilienz sind, leisten wir einen nicht unbeträchtlichen Teil zur Ausbalancierung einer Stressgesellschaft. Dafür können wir uns auch anerkennen. Wir können aber auch, angesichts der Offensichtlichkeit der hier angesprochenen Zusammenhänge, einen ethischen Imperativ formulieren, der lauten könnte: Handle so, dass du die anderen Menschen so gut du es vermagst, in einen Entspannungszustand versetzst, indem du alles, was in deinen Möglichkeiten liegt, tust, um dich zu entspannen.
Beginne damit, deinen Ausatem zu entspannen…
Vgl. Ansteckender Stress
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