Samstag, 29. November 2025

Liebe und Tod des Cornets und der Patriarchalismus

Rainer Maria Rilke zum 150. Geburtstag

In dem Prosagedicht „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ von Rainer Maria Rilke finden sich einige symbolträchtige Stellen, die aus einer rätselhaften Welt zwischen Wachen und Träumen zu stammen scheinen.

An einer dieser Stellen lesen wir:

„Einer, der weiße Seide trägt, erkennt, dass er nicht erwachen kann; denn er ist wach und verwirrt von Wirklichkeit. So flieht er bange in den Traum und steht im Park, einsam im schwarzen Park. Und das Fest ist fern. Und das Licht lügt. Und die Nacht ist nahe um ihn und kühl. Und er fragt eine Frau, die sich zu ihm neigt: 

'Bist Du die Nacht?' 

Sie lächelt. 

Und da schämt er sich für sein weißes Kleid. Und möchte weit und allein und in Waffen sein. Ganz in Waffen.“

Dieser Text wird meist als Selbstfindung der Hauptfigur der Erzählung interpretiert. Der junge und unerfahrene Cornet sucht die Bestätigung in seiner Männlichkeit und findet zu seinem ersten (und letzten) Abenteuer in der Turmstube des Schlosses, mit der Gräfin. Der obige Text beschreibt die Anfänge dieser Begegnung.

Das Leiden am Patriarchalismus

Hier stelle ich eine Interpretation vor, die das Spannungsfeld des Patriarchalismus ins Blickfeld rückt. Das Prosagedicht ist an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden, in einer Zeit, in der die traditionellen Geschlechtsrollen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ins Wanken geraten sind. Aus dieser Perspektive könnte der Ausbruch des 1. Weltkriegs (die „Stahlgewitter“ nach Ernst Jünger) als ein Aufbäumen des Patriarchalismus gegen seinen drohenden Verfall verstanden werden. Im „Cornet“ kündigen sich diese Entwicklungen an und werden mit feiner Hand vorgezeichnet.

Der als „Einer“ Bezeichnete ist der in die Anonymität eines Traumgebildes abgerutschte Cornet, der weiße Seide, ein „unmännliches“ Gewand trägt. Er ist noch nicht ganz Mann und hat deshalb keinen festen Platz in der patriarchalen Ordnung inne. Er will zwar dazugehören und schämt sich, weil er nicht dabei ist. Zugleich aber spürt er auch, dass der Eingang zur Männerwelt über die Frauen geht und dass er diesen Eingang nur finden kann, wenn er die Weiblichkeit in sich zulassen kann. Das gelingt erst, wenn die Ablösung von der Mutter vollzogen ist. Er denkt ein paar Seiten vorher an sie und schreibt ihr einen Brief, von dem er hofft, dass er ihr überbracht wird, auch wenn ihm etwas zustößt. Er bittet sie, auf ihn stolz zu sein, weil er als Cornet die Fahne tragen darf. Die Mutter wird dann nicht mehr erwähnt, bis auf den Schluss, wo ihr Leid über den verlorenen Sohn kurz erwähnt wird.

Im Niemandsland

Da er wohl nicht im Traum ist, weiß er nicht, weshalb er diese Bekleidung trägt und was sie bedeutet. Das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein ist so verwirrend wie das Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit. Die reife Vernunft und der ordnende Verstand stehen nicht zur Verfügung. Ganz in den Traum abzutauchen, soll helfen, der verstörenden Wirklichkeit zu entkommen. 

Im Traum, also in der Welt seines Unbewussten steht er alleine in einem „schwarzen Park“, abgeschnitten von den anderen. Der schwarze Park kann ein Symbol für das Totenreich sein, das im Schlafzustand näher rückt. Sein weißes Gewand steht im Kontrast zur Düsternis des unheimlichen Parks, aber nur scheinbar, denn die Leichen werden auch in weißes Leinen gekleidet. Denn er ist allein in dem Park, fern vom Fest der Unbeschwerten. 

Das Licht lügt, es scheint nur zum Schein, tut nur so, als würde es scheinen. Die Helligkeit gibt keine Sicherheit, sondern nur die Illusion. Die Lüge besteht im Hochhalten einer Moral, die schon längst brüchig ist, weil sie auf Macht und Gewalt beruht und mit der Liebe Schindluder treibt.

Nahe spürt er nur die Nacht, die sich wie eine Frau zu ihm neigt, denn die Nacht ist ein Symbol für das Weibliche. Er ist also dem Geheimnis auf der Spur. Er fragt sie, ob sie die Nacht ist. Ihre Antwort ist ein Lächeln. Ein Lächeln kann viel bedeuten: Wertschätzung, Zuwendung, Verführung, Trost, Entlarvung oder Verachtung. Er kann ihr Lächeln aber nicht lesen, weil ihm dafür die Sensibilität fehlt. Wo hätte er sie je lernen können? Das Aufwachsen im Patriarchalismus fordert von den Männern, ihre Verletzlichkeit durch Härte zu kompensieren.

Die Scham über die Anima

Deshalb trifft ihn von all den Bedeutungen des Lächelns nur eine: Er sieht sich erkannt, in seinem weißen Kleid, in seiner Unschuld und in seiner „Unmännlichkeit“. Dieser Scham will er entrinnen, indem er in eine trotzige Männlichkeit flüchtet: Allein und ganz in Waffen sein. So unerträglich ist die Weichheit und Verletzbarkeit unter der Last des patriarchal verordneten Mannseins. Die Flucht in die Symbole der Gewalt soll ihm Sicherheit vor seinem Unbewussten geben, in dem die Weiblichkeit, seine Anima, ihren Platz beansprucht. In einer von starrer Männlichkeit dominierten Welt muss er sich für die Weichheit und Zartheit, für die weiße Seide schämen und alle diese Strebungen in sich unterdrücken, damit er vor Verachtung und Ausgrenzung geschützt bleibt.

Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Sie haben sich ja gefunden, um einander ein neues Geschlecht zu sein.“ Deshalb ist es gar nicht wichtig, die Umstände ihrer Begegnung zu wissen. Es spielt keine Rolle, was mit dem Mann der Gräfin ist noch welchen Namen der Geliebte trägt, denn: „Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.“

Es ist ein neues Geschlecht, weil es nicht an die herrschenden Rollenbilder angepasst ist. Es ist also ein neues Geschlechterverhältnis, das die Normen des Patriarchalismus hinter sich lässt. Es entsteht aus dem Moment der Begegnung und bleibt auf ihn beschränkt. Und es ist von kurzer Dauer, wie alles Vergängliche. Aber es trägt alle Namen in sich.

Liebe und Tod

Die Verbindung von Liebe und Tod, die bei Rilke oft auftaucht, ist ein Erbe des Patriarchalismus. Liebe ist in diesem System begrenzt und beschränkt. Die zugeteilten Geschlechtsrollen erweisen sich als mächtiger als die Liebe, sodass sie dem Tod geweiht ist, kaum dass sie erblühen konnte. Der typische Verlauf einer Liebesbeziehung im Patriarchat beginnt mit Verliebtheit und endet in einem dumpfen ehelichen Nebeneinander-Her-Leben. Wo der Fluss der Gefühle war, herrscht Stillstand und Leblosigkeit. Das ist die milde Form des Todes der Liebe, die brutale findet dort statt, wo die Gewalt  Einzug hält, indem der Hass die Liebe ersetzt. Die Allgegenwart des Todes als Ausfluss von Hass und Gewalt ist die unvermeidliche Nebenwirkung des Geschlechterungleichgewichts im Patriarchalismus. Wenn die Achtung fehlt, bricht sich unweigerlich die Bosheit ihre Bahn, um sich zu rächen. Der Kampf der Geschlechter ist ein Ringen um Anerkennung und Achtung, die beide Seiten schmerzlich vermissen. Es gibt aber kein Entrinnen, solange die Macht der Rollenfixierungen weiter besteht. 

Die postpatriarchale Utopie

Das Zwischenreich, das in dem Zitat vorherrscht, deutet auf die noch lange nicht real gewordene Utopie einer neuen, postpatriarchalen Ordnung hin, in der zwischen Männern und Frauen die Anerkennung der Unterschiede und die Obsorge für die Gemeinsamkeiten im Rahmen von Respekt und Achtung stattfinden. Es ist eine Zukunft, in der die Geschlechter die Geheimnisse der Liebe ohne Machteinflüsse und starre Rollenbilder erkunden können. Diese Utopie umfasst alle Formen der Geschlechtlichkeit, befreit von den Fesseln der patriarchalen Ideologie.

Der Eine, der seine Anima nicht aushalten und sich mit ihr nicht anfreunden kann, der nicht zu seiner Verletzlichkeit stehen darf, muss dann, wieder einsam und verlassen, im Kampf sterben. Die Tragik des männlichen Geschlechts im Patriarchalismus ist in ihrer vollen Tragweite eingetreten. Der männliche Held, der sich auf der Flucht vor der Weiblichkeit (seiner eigener und der in Gestalt der Frauen) der Gewalt verschreibt, muss durch sie umkommen. Zurück bleiben Frauen, die trauern.

Zum Weiterlesen:

Genderspektrum und "Dekadenz"
Geschlechtsidentität - genetisch - biologisch - sozial
Animus und Anima im 21. Jahrhundert
Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus


Dienstag, 25. November 2025

Genderspektrum und „Dekadenz“

Die Rechtspropaganda will uns glaubhaft machen, dass die LBTQ+-Phänomene Folge und Ausdruck von Dekadenz und Verweichlichung wären. Sie nutzt ein Verunsicherungsgefühl, das viele Menschen beschlichen hat, die den Eindruck haben, dass die Fundamente der westlichen Gesellschaftsordnung brüchig werden, wenn die Geschlechtsidentität uneindeutig wird. 

Tatsächlich war die Frage des Geschlechts nie so eindeutig, wie es früher den Anschein hatte. Die Phänomene der von der Norm abweichenden sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten hat es immer schon gegeben, ihre Ursachen sind in der Biologie zu finden. Im Lauf der gesellschaftlichen Öffnung und der wachsenden Toleranz haben aber immer mehr Menschen begonnen, sich zu ihrer abweichenden Geschlechtsidentität zu bekennen. Manche konservativ gestimmte Menschen meinen deshalb, das Wechseln des Geschlechts wäre ein modernes Phänomen, und sie wünschen sich eine Vergangenheit zurück, in der es diese Unsicherheiten nicht gegeben habe. Allerdings übersehen sie, dass in den früheren Zeiten viel mehr Unterdrückung und Kontrolle bestanden hat, sodass von der Norm abweichende Geschlechtsidentitäten, von schweren Strafen bedroht,  im Verborgenen bleiben mussten. Die Homosexualität war lange Zeit unter Strafe gestellt, noch unter den Nazis wurden Homosexuelle ins Konzentrationslager gesteckt, und in Österreich wurde die Gleichgeschlechtlichkeit in der Sexualität erst 2002 völlig straffrei. Inzwischen sind in vielen Ländern Eheschließungen für gleichgeschlechtliche Partner möglich, und selbst rechte Parteien rütteln nicht mehr an diesen Liberalisierungen.

Transidentitäten als ideologisierte Angriffsfläche aus dem rechten Eck

Das Thema in diesen Zusammenhängen, das aber noch immer für Aufregung, Aggression und Gewaltaufrufe sorgt, ist das der Trans-Identitäten. Hier geht es um Menschen, die sich, obwohl „als männliches Wesen geboren“, eher als Frau fühlen, bzw., obwohl als „weibliches Wesen geboren“, als Mann fühlen. Es geht auch um Menschen, die sich zu beiden Kategorien hingezogen fühlen, und um solche, die sich weder als das eine noch als das andere definieren. Es gibt Menschen, die sich im Verhalten und in Äußerlichkeiten an das andere Geschlecht anpassen und solche, die sich durch Hormontherapien und Operationen in das andere Geschlecht verwandeln. Es handelt sich zahlenmäßig um eine noch geringere Minderheit als die Homosexuellen. Geschätzt werden 0,5 Prozent der Bevölkerung weltweit, die sich als transgender verstehen; das wären 40 bis 50 Millionen Menschen. In Österreich dürfte die Zahl der Betroffenen unter 1000 liegen. Gemessen an individuellen Schicksalen sind das enorm viele; gemessen an der Gesamtzahl der Erdbewohner verschwindend wenige. Also ist es ziemlich unverständlich, woher die Bedrohungsgefühle kommen, die auf diese winzige Minderheit projiziert werden. In verschiedenen Kreisen, die vor allem von rechtsgerichteter Propaganda aufgeladen werden, wird das Thema heiß diskutiert. 

Die Ideologen in Osteuropa bis Russland haben dieses Thema entdeckt, um ein altes historisches Narrativ auszugraben, das auf der Grundlage von nationalheroischen Ideologien erstellt wurde: Großreiche gehen zugrunde, weil ihre Gesellschaft und damit auch ihre Führungsschicht verweichlicht und dekadent wird. Also wird nach dieser ideologiegeladenen Sicht der Westen untergehen und Großrussland mitsamt seinen Vasallen endlich dominieren.

Diesen Gemeinplatz von moralischer Dekadenz und gesellschaftlichem Niedergang hört man oft in Bezug auf den „Untergang des römischen Reiches“, den Historiker lieber mit einem Transformationsprozess beschreiben, in dem die römische Welt im Zentralraum von Europa schrittweise in eine germanisch-römische Kultur umgewandelt wurde (eher wurden die Germanen romanisiert als umgekehrt). Denn es gilt festzuhalten, dass das römische Reich trotz fragwürdiger Kaiser wie Caligula oder Nero noch einige Jahrhunderte Bestand hatte und lange nach diesen Figuren seine größte Ausdehnung erreichte. Außerdem bestand das oströmische Reich bis ins 13. Jahrhundert. Eher können wir aus der römischen Geschichte lernen, dass bestimmte Moralvorstellungen und sexuelle Praktiken in der Gesellschaft nichts mit der Resilienz von politischen Strukturen zu tun haben.

„Dekadent“ und Normabweichung

Diesen Erkenntnissen zum Trotz haben rechtsgerichtete Kreise den Gegensatz von Dekadenz und Reinheit als Kulturkampfschema ausgegraben. Als dekadent, oder, aktueller ausgedrückt, als woke werden geschlechtliche Identitäten bezeichnet, die nicht in die vom Patriarchalismus vorgegebenen Normen passen. Damit wird klar, dass die Kritik an Trans-Identitäten den Dekadenzbegriff an den Patriarchalismus koppelt. Es handelt sich also bei dieser Richtung der Propaganda um eine Unterstützung der patriarchalen Ideologie. Mit diesem Werkzeug können Aufweichungen der bestehenden Geschlechtsrollen(-zuschreibungen) als dekadent gebrandmarkt werden. 

Das Wort dekadent kommt vom Lateinischen „decadere“, wörtlich herabfallen, niedergehen, verfallen oder herunterkommen. Es verweist auf einen kulturellen und/oder moralischen Standard, der höher ist, zum Vergleich mit einem niedrigeren Standard, und diese Abweichung ergibt dann die Bezeichnung dekadent. Im gegenständlichen Fall wird also behauptet, dass die Standards des Patriarchalismus höher zu werten sind als jene, die vom binären patriarchalen Schema abweichen. Eine verstärkte Toleranz für unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten wird als Niedergang bewertet und nicht als Öffnung und Inklusion von unterschiedlichen Lebensentwürfen. 

Dekadenter Patriarchalismus

Wir können aber mit gutem Recht argumentieren, dass gerade der Patriarchalismus für eine längst überkommende Form der Moral steht, weil er die Gleichheit der Geschlechter verleugnet, und dass ein Beharren auf dieser Ideologie dekadent ist, weil es höhere moralische Standards gibt als jene, mit denen die Frauen grundsätzlich gegenüber den Männern abgewertet werden und es keinerlei Toleranz für das LBTQ+-Spektrum gibt. Eine Ideologie, in der die Misogynie einen Stammplatz einnimmt, kann auch gar keinen Spielraum für geschlechtliches Verhalten außerhalb des binären Schemas zulassen. 

Diese eingeengte und starre Sichtweise verfügt über keinerlei Merkmale, die sie für eine übergeordnete Position in einer Hierarchie von moralischen Urteilen und kulturellen Modellen qualifizieren würde. Sie bildet nur ein kleines Segment der sozialen Landschaft in modernen Gesellschaften ab, in denen die Produktivität der Menschen für die Erfordernisse des Kapitalismus im Vordergrund steht. Für das übermächtige Wirtschaftssystem sind die Fragen der Geschlechts- und Transidentität völlig belanglos. Selbst die patriarchalen Strukturen stellen Hindernisse für die Produktivität dar, und aus diesem Grund ist die Ideologie seit mindestens einem halben Jahrhundert beständig auf dem Rückzug.

Einzig die Rechtsparteien und die Autokraten (fast immer Männer) halten ihm noch die Stange. Immer wieder gelingt es ihnen, über Themen, die mit der Geschlechtlichkeit zu tun haben, Unsicherheiten zu verbreiten und damit an politischem Einfluss zu gewinnen. Widersprüche zwischen dem Modernisierungsdruck der Wirtschaft und einer patriarchalen Moralorientierung interessieren sie nicht, solange ihnen die Wähler zulaufen. Ebenso wenig nehmen sie zur Kenntnis, dass es primär die Biologie ist, die für Uneindeutigkeit in der Geschlechtlichkeit sorgt, und dass die betroffenen Personen selbst am meisten unter der Abweichung von der Norm leiden und viel dazu tun müssen, um damit zurechtzukommen. Es sind also Schicksale, die viel mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Selbstzweifeln zu tun haben und Mitgefühl und Unterstützung verdienen, statt dass die soziale Ausgrenzung mit boshaften und hasserfüllten Abwertungen verstärkt wird.

Zum Weiterlesen:
Geschlechtsidentität - genetisch - biologisch - sozial
Woke - ein Beispiel für kulturelle Aneignung
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Muster der rechtsorientierten Propaganda


Donnerstag, 20. November 2025

Geschlechtsidentität genetisch - biologisch - sozial

Das mit dem Geschlecht ist einfach nicht so einfach wie es sich das einfache Gemüt vieler Einfacher, die nur normal denken wollen, vorstellt. Es gibt doch nur Männer und Frauen, das weiß man seit Menschengedenken. Dann kommt noch ein bisschen Bildung dazu: Das Y-Chromosom macht die Männer zu Männern, während das X-Chromosom die weiblichen Anlagen erhält. XX heißt also weiblich, XY männlich.

Das ist das „chromosomale Geschlecht“. Allerdings, und da wird die Bildungslage schon spärlicher, gibt es noch ein biologisches Geschlecht. Denn, genauer betrachtet, ist ein einziges Gen auf dem Y-Chromosom für das Geschlecht relevant. Das ist das SRY-Gen, das männlich assoziierte Gene aktiviert. Es ist also der primäre genetische Schalter für die männliche Geschlechtsentwicklung. Soweit so klar. 

Allerdings liebt die Biologie die Abweichungen mehr als die Regelmäßigkeit und hält sich nicht an unsere Bedürfnisse nach Einfachheit: Manchmal nämlich springt dieses SRY-Gen vom Y-Chromosom auf ein X-Chromosom. Diese Übertragung geschieht meistens während der Meiose, also während der Spermienbildung im Hoden des Vaters. Das Spermium bringt also diese Kombination zur Eizelle mit, was dann zu folgenden Konstellationen führt: Plötzlich gibt es da ein X mit einem SRY und ein Y ohne SRY. Was bedeutet das? Ein Y ohne SRY bedeutet, dass jemand körperlich weiblich, chromosomal männlich (XY) und genetisch weiblich (ohne SRY) ist. Ein X mit einem SRY bedeutet, dass jemand körperlich männlich, chromosomal weiblich (XX) und genetisch männlich (SRY) ist.

Wie schaut es dann mit den Hormonen aus? Schließlich sind es ja diese Botenstoffe, die die männlichen bzw. weiblichen Körperformen bis hin zu den geschlechtstypischen Gefühlslagen herstellen. Jemand ist dann ein hormoneller Mann, wenn er das „normale“ Maß an männlich assoziierten Hormonen produziert. Gleiches gilt für die Frauen. Allerdings verfügen nicht wenige Frauen über einen höheren Gehalt an „männlichen“ Hormonen als nicht wenige Männer, und wieder gilt das Gleiche für Männer mit mehr weiblich interpretierten Hormonen als viele Frauen. Es kann dann sein, dass ein Körper im Lauf der weiteren Entwicklung nicht genügend Hormone für das genetische Geschlecht entwickelt. Dann ist jemand genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell nicht binär und körperlich nicht binär.

Wenn es da schon keine Einfachheit gibt, hilft vielleicht noch der Blick auf die Zellen. Die Zellen verfügen über Rezeptoren, die die Signale der Sexualhormone zwar wahrnehmen, aber nicht immer darauf reagieren. Also nicht einmal dort finden wir zu klaren Zuordnungen, vielmehr wird es noch komplexer: Jemand kann genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell männlich / weiblich / nicht binär sein, mit Zellen, die die männlichen / weiblichen / nicht-binären Signale hören können oder nicht, und all dies führt zu einem Körper, der männlich / nicht binär / weiblich sein kann.

Je näher man hinschaut, desto komplexer wird die Situation und desto mehr Varianten gibt es. Dabei sind hier die sozialen Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder noch gar nicht erwähnt. In der Geschlechtsidentität eines jeden Menschen ist die ganze lange Geschichte des Patriarchats eingespeichert, mit all ihren Zwängen und oft gewaltsam durchgesetzten Normierungen.

Da es also mit dem biologischen und erst recht mit dem sozialen Geschlecht so kompliziert ist, sollten wir endlich damit aufhören, unsere Mitmenschen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Geschlechtsidentität zu beurteilen oder gar zu diskriminieren. Wir sollten auch aufhören, diese Fragen zu politischen Kampf- und Streitthemen zu machen und mit ihnen Unsicherheit, Misstrauen und Gewaltbereitschaft zu verbreiten. Wir wissen ja nicht einmal über unsere eigenen Chromosomen oder über die Empfangsbereitschaft unserer Zellen genau Bescheid, geschweige denn wissen wir diesbezüglich etwas über die Menschen um uns herum. 

Also sollten wir uns nicht anmaßen, andere abwerten, die nicht einer „Norm“ entsprechen, einer Norm, die wir für selbstverständlich halten, ohne sie überprüft zu haben. Auch wenn die Biologie kompliziert ist, können wir ein freundliches  menschliches Verhalten mit Verständnis und Respekt wählen, das sollte ja nicht so kompliziert sein.

Zum Weiterlesen:
Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus
Gendern und die Wunden des Patriarchalismus


Samstag, 15. November 2025

Gaben und Aufgaben

Was wir können, verdanken wir vielen Ursachen, die nicht in unserer Macht liegen. Die genetische Ausstattung, das familiäre Umfeld und die soziale Schicht, in die wir hineingeboren sind, die Anregungen und Bildungschancen, die wir erhalten haben, die Motivationsfaktoren, die wir entsprechend dieser Bedingungen entwickeln konnten, all das sind Faktoren, aus denen sich unsere Begabungen zusammensetzen und die nicht unserem Einfluss unterliegen. Unsere Begabungen sind Gaben, die uns geschenkt wurden, für die wir also Dankbarkeit schulden.  

Auch das, was wir aus unseren Begabungen machen – ob wir sie brach liegenlassen oder fördern, hängt von Kräften ab, die in uns angelegt sind. Denn selbst die Willensstärke und die Fähigkeit zur Disziplin sind nicht das Ergebnis von bewusst gesetzten Entscheidungen, sondern strukturelle Bedingungen in unserer Psyche, die bei Menschen ganz unterschiedlich ausgeprägt sind. Vielmehr sind die bewussten Entscheidungen durch diese Bedingungen vorbestimmt, und ihre Umsetzung hängt von Energien ab, die unsere Stoffwechselsysteme erst einmal hervorbringen müssen. Allenfalls sorgen wir für gute Rahmenbedingungen, aber auch dafür müssen wir eine hilfreiche Motivation aufbauen, die wieder von Umständen abhängig ist, die nur zum Teil von uns gesteuert werden können. 

Wenn wir den berechtigten Stolz über die eigenen Leistungen und Errungenschaften ein wenig zurückstellen, müssen wir einbekennen, dass unser Tun viel mehr von fremden, äußeren wie inneren Triebkräften gesteuert wird als wir gemeinhin annehmen. Wir haben viel mehr bekommen als das, was wir daraus gemacht haben. Denn jedes Machen beruht auf Bekommenem. 

Toleranz für die Fehler der anderen 

Wir entwickeln mit solchen Einsichten auch mehr Verständnis und Toleranz für die Fehlerhaftigkeit unserer Mitmenschen. Auch sie handeln, wenn sie Unrecht begehen oder Böses tun, überhaupt nicht oder nur zum Teil aus böser Absicht. In wesentlichen Bereichen sind sie der Spielball von inneren Kräften, die sie nur zu einem geringen Teil kontrollieren können. Das heißt nicht, dass wir Böses verharmlosen oder einfach entschuldigen sollten. Böse Handlungen sollen Konsequenzen nach sich ziehen, damit sie nicht wiederholt werden und andere Menschen schädigen. Aber wir brauchen andererseits die Täterperson als Person nicht abwerten, sondern sollten ihr weiterhin eine grundsätzliche Achtung entgegenbringen, die wir für uns selbst erwarten. 

Wir haben mit diesen Einsichten auch keine Ausreden für unsere eigenen Handlungen, wenn deutlich wird, dass sie schädigende Einflüsse auf andere ausüben. Es gilt nicht, dann zu sagen, ja, aufgrund meiner schweren Kindheit oder aufgrund meiner mangelhaften Gene kann ich nicht anders, und das sollten gefälligst alle verstehen. Vielmehr müssen wir Verantwortung für unser Tun übernehmen, auch wenn es nur zum Teil unserer bewussten Kontrolle unterliegt, ebenso wie wir den anderen die Verantwortung für ihr Tun zumuten. Anders kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, denn nur aus der Verantwortungsübernahme für die eigenen Fehler resultiert eine mögliche Verhaltensänderung. Wir sind lernfähig, doch nur, wenn wir für unsere Fehler einstehen. 

Gaben sind Gegebenes 

Gaben sind Gegebenes, und den Dank für das Gegebene leisten wir am besten, indem wir aus der Gabe eine Aufgabe machen. Unsere Gaben haben wir zu dem Zweck, das eigene Leben und das unserer Mitmenschen zu bereichern. Wer die Gabe hat, gute Speisen zubereiten zu können, macht sie zu einer Aufgabe, wenn er ein Festessen für andere kocht. Wer eine gute Hand für Blumen hat, gestaltet einen Garten, an dem sich andere erfreuen können.  

Von der Gabe zur Aufgabe 

Gaben, die wir in Aufgaben umwandeln können, geben unserem Leben einen immanenten Sinn. Wenn wir spüren können, dass dieses Tun, das uns aufgrund unserer Gaben gelingt, andere Menschen beglücken kann, dann haben wir unsere Aufgabe erkannt und es fällt uns leicht, sie auszuüben und zu verbessern. Die Verbindung von Gabe und Aufgabe führt zu dem, was als Flow bezeichnet wird, als das Erleben des Fließens, in dem das Ich zurücktritt und das Tun wie von selbst vonstattengeht. 

Sobald sich ein von außen auferlegtes Müssen in die Aufgabe einmischt, verliert sie ihren Zauber und ihre immanente Kraft. Das Fließen kann nur von innen kommen, aus einer Übereinstimmung des Wollens und des Könnens. Es ist das innere Wesen, das nach außen drängt, um in der Welt Gestalt anzunehmen. 

Wir können diese Aufgabe auch als unsere Berufung erleben. In der Berufung steckt ein Ruf, der von einer höheren Instanz kommt, die uns daran erinnert, was unser Beitrag ist, den zu leisten wir gerufen werden. Berufung ist eine Botschaft, die wir mit einer besonderen Klarheit übernehmen, verbunden mit dem Gefühl, einen einzigartigen Beitrag zur Welt zu leisten. Es ist ein Beitrag, den nur wir selbst in dieser Weise einbringen können. Etwas, das aus der Individualität unseres Wesens fließt, kann niemand anderer so zuwege bringen wie wir selbst. Und wenn wir es nicht tun, bleibt es ungetan, und dann fehlt dieses Stück in dem riesigen bunten Teppich der Welt.  

Das Finden der Berufung 

Manche wissen ganz genau, was ihre Aufgabe und was ihr Auftrag ist, manche tun genau das, ohne zu wissen, dass sie damit ihre Individualität verwirklichen, und manche tun sich schwer zu finden, wo ihre Berufung liegt. Die eigene Aufgabe nicht identifizieren können, ist oft Anlass für Sinnkrisen oder Selbstzweifeln. Und umgekehrt, ist es die Neigung zu Selbstzweifeln, die das Finden der Berufung erschweren. Sie müssen überwunden werden, damit sich der Sinn des eigenen Lebens in Form der genuinen Aufgabe zeigen kann. Es kann auch sein, dass der Ruf überhört wurde, dass er im Getriebe des Alltags untergegangen ist. Denn der Ruf kommt aus der Stille, er wird im Verweilen hörbar, im Heraustreten aus der Hektik. 

Dienlich ist der Blick auf das, was jemand gerne in einer gestalterischen Weise macht, um eine Spur zur Berufung zu finden. Welche Gaben habe ich bekommen, was sind die Fähigkeiten, die mich auszeichnen? Es kann dabei hilfreich sein, die Unterstützung anderer in Anspruch zu nehmen, um den Ruf zu hören und damit einen wichtigen Teil des Lebenssinns zu gewinnen.  

Es ist dabei zweitrangig, ob die Ergebnisse des kreativen Selbstausdrucks bestimmten Maßstäben genügen. Solche Bewertungen sind immer willkürlich ausgewählt; oft wählen wir Maßstäbe, die gar nicht mit unserer Berufung zusammenpassen, sondern von anderen entlehnt sind. Wichtig ist nur die Selbstbewertung, die aus der Übereinstimmung der eigenen Ansprüche und der eigenen Fähigkeiten stammt.  

Deshalb sollte das Ausmaß an Anerkennung, das von anderen kommt, kein absolutes Kriterium für die Bewertung der eigenen Ausdruckskraft sein. Maßgeblich ist das eigene schöpferische Gefühl, der eigene Schaffensdrang, der sich in dem Werk Bahn bricht, um es der Welt zu gebären und ihr ein neues Kind zu schenken. Das Universum wird die Anerkennung geben, die jedem Beitrag zu seiner Bereicherung und Verschönerung gebührt. 

Zum Weiterlesen:
Ego-Bestätigung und Berufung