Samstag, 15. November 2025

Gaben und Aufgaben

Was wir können, verdanken wir vielen Ursachen, die nicht in unserer Macht liegen. Die genetische Ausstattung, das familiäre Umfeld und die soziale Schicht, in die wir hineingeboren sind, die Anregungen und Bildungschancen, die wir erhalten haben, die Motivationsfaktoren, die wir entsprechend dieser Bedingungen entwickeln konnten, all das sind Faktoren, aus denen sich unsere Begabungen zusammensetzen und die nicht unserem Einfluss unterliegen. Unsere Begabungen sind Gaben, die uns geschenkt wurden, für die wir also Dankbarkeit schulden.  

Auch das, was wir aus unseren Begabungen machen – ob wir sie brach liegenlassen oder fördern, hängt von Kräften ab, die in uns angelegt sind. Denn selbst die Willensstärke und die Fähigkeit zur Disziplin sind nicht das Ergebnis von bewusst gesetzten Entscheidungen, sondern strukturelle Bedingungen in unserer Psyche, die bei Menschen ganz unterschiedlich ausgeprägt sind. Vielmehr sind die bewussten Entscheidungen durch diese Bedingungen vorbestimmt, und ihre Umsetzung hängt von Energien ab, die unsere Stoffwechselsysteme erst einmal hervorbringen müssen. Allenfalls sorgen wir für gute Rahmenbedingungen, aber auch dafür müssen wir eine hilfreiche Motivation aufbauen, die wieder von Umständen abhängig ist, die nur zum Teil von uns gesteuert werden können. 

Wenn wir den berechtigten Stolz über die eigenen Leistungen und Errungenschaften ein wenig zurückstellen, müssen wir einbekennen, dass unser Tun viel mehr von fremden, äußeren wie inneren Triebkräften gesteuert wird als wir gemeinhin annehmen. Wir haben viel mehr bekommen als das, was wir daraus gemacht haben. Denn jedes Machen beruht auf Bekommenem. 

Toleranz für die Fehler der anderen 

Wir entwickeln mit solchen Einsichten auch mehr Verständnis und Toleranz für die Fehlerhaftigkeit unserer Mitmenschen. Auch sie handeln, wenn sie Unrecht begehen oder Böses tun, überhaupt nicht oder nur zum Teil aus böser Absicht. In wesentlichen Bereichen sind sie der Spielball von inneren Kräften, die sie nur zu einem geringen Teil kontrollieren können. Das heißt nicht, dass wir Böses verharmlosen oder einfach entschuldigen sollten. Böse Handlungen sollen Konsequenzen nach sich ziehen, damit sie nicht wiederholt werden und andere Menschen schädigen. Aber wir brauchen andererseits die Täterperson als Person nicht abwerten, sondern sollten ihr weiterhin eine grundsätzliche Achtung entgegenbringen, die wir für uns selbst erwarten. 

Wir haben mit diesen Einsichten auch keine Ausreden für unsere eigenen Handlungen, wenn deutlich wird, dass sie schädigende Einflüsse auf andere ausüben. Es gilt nicht, dann zu sagen, ja, aufgrund meiner schweren Kindheit oder aufgrund meiner mangelhaften Gene kann ich nicht anders, und das sollten gefälligst alle verstehen. Vielmehr müssen wir Verantwortung für unser Tun übernehmen, auch wenn es nur zum Teil unserer bewussten Kontrolle unterliegt, ebenso wie wir den anderen die Verantwortung für ihr Tun zumuten. Anders kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, denn nur aus der Verantwortungsübernahme für die eigenen Fehler resultiert eine mögliche Verhaltensänderung. Wir sind lernfähig, doch nur, wenn wir für unsere Fehler einstehen. 

Gaben sind Gegebenes 

Gaben sind Gegebenes, und den Dank für das Gegebene leisten wir am besten, indem wir aus der Gabe eine Aufgabe machen. Unsere Gaben haben wir zu dem Zweck, das eigene Leben und das unserer Mitmenschen zu bereichern. Wer die Gabe hat, gute Speisen zubereiten zu können, macht sie zu einer Aufgabe, wenn er ein Festessen für andere kocht. Wer eine gute Hand für Blumen hat, gestaltet einen Garten, an dem sich andere erfreuen können.  

Von der Gabe zur Aufgabe 

Gaben, die wir in Aufgaben umwandeln können, geben unserem Leben einen immanenten Sinn. Wenn wir spüren können, dass dieses Tun, das uns aufgrund unserer Gaben gelingt, andere Menschen beglücken kann, dann haben wir unsere Aufgabe erkannt und es fällt uns leicht, sie auszuüben und zu verbessern. Die Verbindung von Gabe und Aufgabe führt zu dem, was als Flow bezeichnet wird, als das Erleben des Fließens, in dem das Ich zurücktritt und das Tun wie von selbst vonstattengeht. 

Sobald sich ein von außen auferlegtes Müssen in die Aufgabe einmischt, verliert sie ihren Zauber und ihre immanente Kraft. Das Fließen kann nur von innen kommen, aus einer Übereinstimmung des Wollens und des Könnens. Es ist das innere Wesen, das nach außen drängt, um in der Welt Gestalt anzunehmen. 

Wir können diese Aufgabe auch als unsere Berufung erleben. In der Berufung steckt ein Ruf, der von einer höheren Instanz kommt, die uns daran erinnert, was unser Beitrag ist, den zu leisten wir gerufen werden. Berufung ist eine Botschaft, die wir mit einer besonderen Klarheit übernehmen, verbunden mit dem Gefühl, einen einzigartigen Beitrag zur Welt zu leisten. Es ist ein Beitrag, den nur wir selbst in dieser Weise einbringen können. Etwas, das aus der Individualität unseres Wesens fließt, kann niemand anderer so zuwege bringen wie wir selbst. Und wenn wir es nicht tun, bleibt es ungetan, und dann fehlt dieses Stück in dem riesigen bunten Teppich der Welt.  

Das Finden der Berufung 

Manche wissen ganz genau, was ihre Aufgabe und was ihr Auftrag ist, manche tun genau das, ohne zu wissen, dass sie damit ihre Individualität verwirklichen, und manche tun sich schwer zu finden, wo ihre Berufung liegt. Die eigene Aufgabe nicht identifizieren können, ist oft Anlass für Sinnkrisen oder Selbstzweifeln. Und umgekehrt, ist es die Neigung zu Selbstzweifeln, die das Finden der Berufung erschweren. Sie müssen überwunden werden, damit sich der Sinn des eigenen Lebens in Form der genuinen Aufgabe zeigen kann. Es kann auch sein, dass der Ruf überhört wurde, dass er im Getriebe des Alltags untergegangen ist. Denn der Ruf kommt aus der Stille, er wird im Verweilen hörbar, im Heraustreten aus der Hektik. 

Dienlich ist der Blick auf das, was jemand gerne in einer gestalterischen Weise macht, um eine Spur zur Berufung zu finden. Welche Gaben habe ich bekommen, was sind die Fähigkeiten, die mich auszeichnen? Es kann dabei hilfreich sein, die Unterstützung anderer in Anspruch zu nehmen, um den Ruf zu hören und damit einen wichtigen Teil des Lebenssinns zu gewinnen.  

Es ist dabei zweitrangig, ob die Ergebnisse des kreativen Selbstausdrucks bestimmten Maßstäben genügen. Solche Bewertungen sind immer willkürlich ausgewählt; oft wählen wir Maßstäbe, die gar nicht mit unserer Berufung zusammenpassen, sondern von anderen entlehnt sind. Wichtig ist nur die Selbstbewertung, die aus der Übereinstimmung der eigenen Ansprüche und der eigenen Fähigkeiten stammt.  

Deshalb sollte das Ausmaß an Anerkennung, das von anderen kommt, kein absolutes Kriterium für die Bewertung der eigenen Ausdruckskraft sein. Maßgeblich ist das eigene schöpferische Gefühl, der eigene Schaffensdrang, der sich in dem Werk Bahn bricht, um es der Welt zu gebären und ihr ein neues Kind zu schenken. Das Universum wird die Anerkennung geben, die jedem Beitrag zu seiner Bereicherung und Verschönerung gebührt. 

Zum Weiterlesen:
Ego-Bestätigung und Berufung