Freitag, 28. Dezember 2018

Die "Schande" und ihre Rolle bei der sozialen Kontrolle

In Märchen und Sagen wird oft ein entlarvter Missetäter „mit Schimpf und Schande“ verjagt. Das bedeutet eine ganz schlimme Demütigung, die den Ausschluss aus der Gemeinschaft verdient hat. Jede Würde ist verloren, und das Leben muss irgendwo anders von vorne begonnen werden. Was hat es mit der Schande auf sich?

Die Schande ist eine enge Verwandte der Scham. Sie trägt einen offizielleren Charakter, der viel mit öffentlicher und moralischer Bewertung zu tun hat. (Im Englischen oder Französischen gibt es übrigens diese Unterscheidung gar nicht.) Schande ist gewissermaßen die explizite, von außen kommende Form der Scham. Sie wird angewendet, wenn etwas geschehen ist, wofür sich jemand (innerlich) schämen müsste, während sich die Öffentlichkeit verpflichtet fühlt, das Geschehene als Schande zu brandmarken und den Täter der allgemeinen Verachtung preiszugeben.

Es gilt schon als Schande, wenn jemand sein Potenzial nicht ausschöpft und die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Es gilt erst recht als Schande, wenn jemand absichtlich und unverfroren Böses tut. Und ganz besonders gilt es als Schande, wenn jemand moralische Normen übertritt. Jedes angeprangerte Fehlverhalten, für das sich jemand schämen sollte, kann von den Mitmenschen als Schande bezeichnet werden.

Aber nicht nur Einzelpersonen können Schande auf sich laden. Es wird von vielen als Schande angesehen, wie die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus schutzsuchende Juden abgewiesen hat. Ebenso können wir es schändlich finden, wenn reiche Länder asylsuchende Jugendliche ausweisen, die sich jahrelang im Integration bemüht haben, die Sprache erlernt und Ausbildungen absolviert haben. Und es darüber hinaus grenzt es an ein schändliches Verbrechen, wenn Behörden solche Schritte setzen, wissend, dass abgeschobene Asylsucher in manchen Rückkehrländern mit hoher Wahrscheinlichkeit bald umgebracht werden.


Schändliche Sexualität


Eine enge Verbindung gibt es zwischen dem Sexualverhalten und der Schande, vor allem dort, wo dieses Verhalten einer starken moralischen Kontrolle unterliegt. In ländlichen Gegenden galt es durch den Einfluss der katholischen Kirche vor einigen Jahrzehnten noch als schändlich, wenn Kinder unehelich empfangen und geboren wurden. Im katholischen Irland wurden den Müttern unehelich geborene Kinder systematisch von der Kirche weggenommen und in Heimen ausgebeutet, wenn nicht überhaupt umgebracht. Soweit die Macht der katholischen Kirche reichte: Wer aus welchen Gründen auch immer die Norm nicht einhielt, dass Kinder in einer aufrechten Ehe empfangen und geboren werden müssen, wurde sozialer Verachtung und Ausgrenzung ausgesetzt, die bis zur physischen Vernichtung reichte.

Hier spielt die seltsame Einschränkung und Moralisierung der Sexualität in der christlichen Tradition die maßgebliche Rolle, die man selber schändlich finden kann. Sexualität gilt nach dieser – ca. 300 Jahre nach Jesus Christus in das junge Christentum eingeführten – leibfeindlichen Auffassung als sündige Fleischeslust, die einzig zur Fortpflanzung als notwendiges Übel gerechtfertigt ist und dafür den Bestand einer ehelichen Gemeinschaft erfordert. Im Grund beginnt nach dieser Theorie die Schande schon dort, wo jemand die Sexualität als solche genießt, ohne mit ihr einen Vermehrungszweck zu verfolgen. Doch öffentlich sichtbar und damit zur Schande wird das Fehlverhalten, wenn es zur Schwangerschaft ohne ehelichen Kontext kommt.


Der Schatten fällt auf das Kind


Welche Auswirkungen kann die Schande auf das empfangene Kind haben? Wenn die Umstände des eigenen Lebensanfangs unter einem moralischen Problemdruck standen, weil sie von den Eltern und ihrer Umgebung als Schande erlebt wurden, kann sich dieses dunkle Gefühl über die Seele des Kindes breiten und dessen Leben überschatten. Das menschliche Zellgedächtnis speichert die Gefühle und Einstellungen der Eltern am Anfang des neuen Lebens und bewahrt sie im Unterbewusstsein auf. Von dort aus wirken sie als Hemmungen und Blockierungen später im Leben weiter. 

Als Folge kommt es zu Beeinträchtigungen für den Selbstwert und das Selbstvertrauen. Betroffene Personen haben auf einer tiefen Ebene das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist und dass sie keinen vollwertigen Platz in der Gesellschaft einnehmen dürfen. Sie müssen sich dauernd beweisen und denken dennoch, dass sie nicht genug tun. Ihre Aufmerksamkeit ist stark auf das Außen bezogen, auf die Angemessenheit des eigenen Tuns und die Reaktionen der anderen Menschen darauf. Sie neigen dazu, sich selber zu überwachen und leiden an einer latenten Angst, etwas Unrechtes oder zu wenig des Guten zu tun. 

Der Schatten der Schande kann eine destruktive Lebensspannung in Gang setzen, die in manchen Phasen stärker und in anderen schwächer aktiviert wird: Wegen des mangelnden Selbstvertrauens gelingt wenig im Leben, und in der Eigenwahrnehmung sehen alle Anderen diesen Mangel überdeutlich mit ihren kritischen und abwertenden Augen, was wiederum die eigene Motivation schwächt. Es kann über einige Zeit gelingen, sich immer wieder anzustrengen, um in der Gesellschaft Anerkennung zu gewinnen, aber viele Bemühungen werden oft vor dem Erfolg abgebrochen, wie z.B. bei einem Studienabbruch – gleichsam um der Außenwelt zu beweisen, dass man es nicht Wert ist, Erfolg zu haben. 

Diese selbstquälerische Dynamik kann dann schließlich in Burnout und Depressionen versiegen. Damit stellt sich erst recht ein Zustand her, der subjektiv stark mit Scham verbunden wird und, von außen betrachtet, als Schande. Ähnlich wie bei der Scham, entfaltet die Schande ihre selbstschädigende Wirkung, indem von den anderen Leuten vermutet wird, dass sie heimlich mit dem Finger auf einen zeigen und „Was für eine Schande!“ rufen, wodurch dann die eigenen Gefühle der Minderwertigkeit und moralischen Unzukömmlichkeit ausgelöst werden. Es findet keine Realitätsprüfung statt, indem nachgefragt würde, was andere Menschen wirklich über einen selbst denken, wie sie werten und urteilen. Die vermuteten Verurteilungen werden ohne Widerspruch angenommen. Da diese Vorgänge unbewusst ablaufen, findet auch keine Konfrontation mit der Realität statt, in der geklärt werden könnte, wem überhaupt ein Urteil über die eigene Person zusteht und nach welchen Wertkriterien dieses gerechtfertigt wäre.


Die ererbte Schande


Die ererbte Schande gehört zu den Eltern, die sich durch ihre Handlungen einem sozialen Druck ausgesetzt haben. Wenn jemand, der von dieser Form der Schande betroffen ist, erkennt, dass die Last auf dem eigenen Leben eigentlich ins Leben der Eltern gehört, löst sich der Schatten. Aus Liebe zu den belasteten Eltern nehmen die Kinder die Lasten der Eltern auf sich, in diesem Fall die Schande. In einem nächsten Schritt darf und muss den Eltern die Last zurückgegeben werden, wodurch das eigene Leben erleichtert und befreit wird.

Aus dieser Einsicht heraus wird dann erst deutlich, in welcher Zwangslage zwischen Leidenschaft und rigider Sexualkontrolle sich die Eltern befanden. Das Verständnis für den Mut der Eltern, sich für ihre Gefühle gegen die gesellschaftlichen Zwänge zu entscheiden, kann den Weg zur Dankbarkeit für das eigene Leben öffnen: trotz widriger Anfangsbedingungen sind viele Kräfte und Potenziale mit auf den Weg gegeben worden, die es, unbeschadet aller Schatten, zu nutzen gilt.

Das Einnehmen und Verstehen dieser Perspektive fördert das Engagement, mit dem solche menschenfeindlichen sozialen Normierungen und Kontrollvorkehrungen angeprangert und relativiert werden können. Mit diesem Bewusstsein wird der Vergangenheit mit ihren moralischen Verengungen die Macht über das eigene Leben genommen. 


Repressive Normen


Generationen haben unter Normen gelitten, die einem stark reduzierten und repressiven Menschenbild entsprungen sind. Eigentlich gehört dieses Menschenbild zu einem System gesellschaftlicher Zwänge, das in vormodernen Zeiten maßgeblich war. Damit das Erbrecht im landwirtschaftlichen Bereich das Weiterbestehen von ausreichenden Flächen gewährleisten kann, wurden die ehelichen und die unehelichen Kinder strikt unterschieden („mit Kind und Kegel“). Die einen erbten, die anderen nicht; die einen waren geachtet, die anderen verachtet. Den unehelichen Kindern wurde gewissermaßen die „Schandtat“ der Eltern umgehängt, als wären sie schuld daran, und sie waren deshalb dazu verurteilt, ein Leben lang die untersten Arbeiten zu verrichten, ohne jede Chance, selbst heiraten und einen Hof führen zu können. 

Immer wieder im Verlauf der Geschichte können wir solche Produktionen und Proklamationen von schändlichem Verhalten zum Zweck der Herrschaft und des Machterhalts beobachten. Den beherrschten Menschen werden Ängste eingeredet, damit sie ihre spontanen oder auch überlegten Impulse unterdrücken und kontrollieren und damit sie ein Misstrauen untereinander sowie zu sich selbst entwickeln. Menschen, die einander nicht vertrauen können, sind leichter zu beherrschen. Vor allem in Hinblick auf die Sexualmoral hat die Kirche dabei eine Schlüsselfunktion in der Machtausübung übernommen und über viele Jahrhunderte ausgespielt.

Die fehlende Einsicht in die historische Bedingtheit dieser Zusammenhänge ist mit verantwortlich dafür, dass die kirchlich verordnete Sexualkontrolle weiter wirken konnte, auch wenn sich die sozioökonomischen Umstände schon lange verändert hatten und das bäuerliche Erbrecht kaum mehr eine Rolle spielte. Umgekehrt haben die gesellschaftlichen Veränderungen, die der Landwirtschaft und den damit verbundenen sozialen Regulierungen nur mehr eine Randfunktion überließen, auch zum rapiden Einflussverlust der Kirchen und der von ihnen vertretenen Moralvorstellungen geführt. Immer weniger Menschen billigen der Religion eine Mitsprache bei ihren Entscheidungen und Werten zu, offenbar unter dem Eindruck des massiven Schadens an den Seelen der Menschen, den die beschränkten und beschränkenden Gebote, die mit Hilfe des Instruments der Schande durchgesetzt wurden, hinterlassen haben. Niemand will sich heute noch wegen sexueller Vorlieben und Leidenschaften an einen moralischen Pranger stellen lassen, noch dabei mitwirken, dass gegen andere so verfahren wird. Solange sich die involvierten Personen mit Respekt und Achtung begegnen und solange die Verantwortung für entstehende Schwangerschaften gemeinsam übernommen wird, braucht es auch keine übergeordnete Normierungen und braucht es keine Vorgabe von Beschämung und keine Erklärungen von Schande in diesem Bereich.


Die „Rassenschande“


Als besonders bösartiges Beispiel des Missbrauchs der Schande für ideologische Zwecke sei hier der von den Nationalsozialisten propagierte Begriff der „Rassenschande“ erwähnt. Der Geschlechtsverkehr zwischen „Ariern“ und Juden wurde als „Schändung des deutschen Blutes“ (damit auch als Blutschande) dargestellt und ab 1935 unter Strafe gestellt. Der Begriff der Rassenschande diente zur Vorbereitung der systematischen Vernichtung der Juden im Dritten Reich.  Erfolgreich wurden mit den Mitteln der Propaganda soziale Ängste aufgebaut, indem Handlungen auf einmal massiv in aller Öffentlichkeit als Schande bezeichnet wurden, die vorher niemanden gestört hätten. Menschen auf dieser Weise mit Schimpf und Schande der öffentlichen Beschämung preiszugeben, war ein erster Schritt, sie ihrer Menschenwürde zu entkleiden; wer keine Würde hat, dessen Leben ist nichts mehr wert.

Mit dieser Indienstnahme der Schande als politisches Machtmittel griff der Nationalsozialismus, wie auch in anderen Bereichen, auf vormoderne gesellschaftliche Konventionen zurück. Damit wurden vor allem bei verunsicherten Menschen tiefer liegende Gefühlsschichten angesprochen, die dann als zerstörerische Brutalität zum Ausdruck kamen. Der Faschismus wird von vielen Forschern als Reaktion auf die Modernisierung der Gesellschaft und Wirtschaft verstanden, und von daher wird es auch verständlich, warum er sich extrem konservativer Wertvorstellungen bedient. Denn zur Modernisierung gehört die Schwächung der traditionellen freiheitsbeschränkenden Werte und der Aufbau und die Verbreitung der grundlegenden Menschenrechte.


Befreiung durch Modernisierung


Der Modernisierungsschub durch die Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert hat viele Menschen aus den Fesseln von moralischen Zwängen befreit und dem personalistischen Bewusstsein mit den Werten der Toleranz und der Entdiskriminierung zum Durchbruch verholfen. Der kreativen menschlichen Individualität wurde dadurch mehr Einfluss auf die Kulturentwicklung gegeben. Der Preis war allerdings die Entfremdung von der Natur, mit der frühere Gesellschaften noch enger verbunden waren.

Der Begriff der Schande hat seinen Anwendungsbereich seither von der Bewertung des individuellen Tuns mehr in den kulturellen und politischen Bereich verlagert, ausgenommen der Bereich der Kriminalität und Gewalttätigkeit. Was die Varianten der menschlichen Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität anbetrifft, herrscht heutzutage viel mehr Toleranz, sodass Beurteilungen, die hier mit Schade operieren, antiquiert und verschroben klingen. Damit steigt der wechselseitige Respekt und die Achtung der Menschen füreinander, ein Beitrag zum sozialen Frieden.

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