Dies geht aus dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung von 2013 hervor. Dazu wurden 14000 Menschen aus 13 Staaten befragt (Deutschland, Frankreich, Schweden, Spanien, Schweiz, Türkei, Israel, Kanada, Brasilien, Indien, Südkorea, UK und USA). Der fallende Trend in Hinblick auf Religiosität ist in fast allen dieser Länder auffällig, insbesondere bei den Jugendlichen. Mit Ausnahme von Israel gilt für alle untersuchten Länder: Junge Menschen bezeichnen sich immer weniger als religiös.
Für Deutschland z.B. zeigt sich der Trend im Vergleich der Zahlen von 1950, als sich 95,6 % der christlichen Religion zugehörig fühlten, und 2010, wo dieser Wert auf 59,4 % gesunken ist. Stärker von dem Rückgang betroffen sind dabei die Evangelischen im Vergleich zu den Katholiken.
Beispiel Spanien: 85% der über 45-Jährigen bezeichnen sich als mäßig bis sehr religiös, aber nur 58% der unter-29-Jährigen. In vielen europäischen Ländern geben weniger als ein Drittel an, dass sie an Gott glauben.
Interessant sind die Befunde aus den USA, die manchmal auch als überreligiös etikettiert werden. Tatsächlich bezeichnen sich 31 % als „Nicht religiös oder nicht sehr religiös“, das sind immerhin 48 Millionen erwachsene US-Bürger. Über die Generationen zeigt sich ein deutlicher Trend:
Alter/Nichtglaubende:
86 – 100: 5%
68 – 85: 9%
49 – 67: 15%
48 – 33: 21 %
24 – 32: 30%
18 – 23: 34%
Ein Forscher hat den Trend hochgerechnet und ist auf das Jahr 2220 gestoßen, in dem es dann 100% Nichtglaubende in den USA geben müsste. Ob dann die US-Banknoten noch den Hinweis tragen: „In God we trust“ oder ob das dann nur mehr als Zynismus verstanden wird, werden wir sehen, sollten wir diese Tage noch miterleben.
Doch kein Gottesgen
Jedenfalls können diese statistischen Daten als klare Absage an alle verstanden werden, die meinen, dass sie irgendwo ein Gottesgen oder ein Gottesareal im Gehirn gefunden haben. Der Gottesglauben kann in der Biologie nicht gefunden werden, vor allem dann nicht, wenn man mit naturwissenschaftlichen Methoden sucht. In manchen Ländern (Schweden, Ostdeutschland) sind die „Gläubigen“ schon eine Minderheit, und es wäre absurd anzunehmen, dass so viele Menschen gegen ihre eigene genetische Prägung eingestellt sind. Außerdem wäre schwer zu erklären, wie es dazu kommt, dass diese Zahl über die Jahrzehnte kontinuierlich ansteigt.
Deshalb ist es ratsam, die Fragen des religiösen Glaubens ganz aus der Sphäre der naturwissenschaftlichen Vergegenständlichung herauszuholen. Sie betreffen jeden Menschen auf andere Weise und finden ganz unterschiedliche individuelle Antworten. Außerdem unterliegen sie historischen Entwicklungen, die mit dem evolutionären Fortschreiten des kollektiven Bewusstseins zu tun haben. Dieser Trend ist, wie ich versucht habe, in meinem Buch "Vom Mut zu wachsen" zu begründen, unaufhaltsam, wenn auch weder geradlinig noch eindeutig geschichtet. Wir erleben es in unseren Lebenswelten.
Ist dieses Phänomen mit einem Gewinn oder Verlust an Lebensqualität verbunden? Auch hierauf kann es unterschiedliche Antworten geben. Die Vertreter der Religionen müssen naturgemäß die Entwicklung bedauern und weisen vielleicht darauf hin, dass mit dem Religionsbezug ein Verlust an Moral und Sinngebung, möglicherweise auch Gemeinschaftsgefühl und sozialen Verantwortung verbunden ist. Die Vertreter der Säkularisierung dagegen begrüßen den Zugewinn an Freiheit und das Wegfallen von einschränkenden Normen und Dogmen.
Religionsverlust und Bewusstseinsevolution
Aus der Sicht der Bewusstseinsevolution sind mehrere Schichten an diesem Prozess beteiligt, sodass er alles andere als eindeutig beschaffen ist. Hier folgt eine kurze Übersicht.
Religion und Glaube finden sich in den frühesten Zeiten der Menschen, in verschiedensten Praktiken und Vorstellungen, die bestimmte Phänomene als übernatürlich deuten, also nicht als Teil der alltäglichen menschengemachten Abläufe und ihrer äußeren Zusammenhänge.
Mit dem Zuwachs an Erfahrungswissen wurde diese überall gegenwärtige Übernatur, die Magie in die praktische Welt hereingeholt, von jedermann nachvollziehbar und zum Diesseits gemacht. Die Sphäre des Wunderbaren und heilsamen Geheimnisvollen finden die heutigen Menschen in technischen Spielzeugen. Niemand versteht, wie ein Mobiltelefon mit seinen vielfältigen Fähigkeiten funktioniert, wir wundern uns kurz darüber, wenn wir es erstmals in den Händen halten, und wissen dabei aber, dass das alles, weil menschengemacht, diesseitig erklärbar und verstehbar ist.
All die Kontingenzen, also alles, was nicht beherrschbar ist, was mächtiger ist als wir selber, all das, was schicksalshaft ins Leben der Menschen eingreift, verliert die Aura des Magischen. Jedes individuell schmerzliche Krankheitsschicksal hat über die Kenntnis von Viren und Bakterien das Geheimnis verloren. Die Deutungsmacht haben die Wissenschaften übernommen.
Dazu kommt und damit verbunden ist der Rückgang der Autorität und der autoritären Strukturen, die über lange Zeit von den religiösen Institutionen mitgetragen wurde. Die Menschen müssen immer selbstbestimmter werden. Sie müssen immer mehr selber entscheiden, damit keine Abhängigkeit von Autoritäten. Gültige Hierarchien werden immer weniger, damit auch die verpflichtende Vermittlung des Glaubens. Auf sich gestellt, brauchen die Menschen keinen Glauben mehr.
Der Kapitalismus und der Tod Gottes
Dieser massive und durchgreifende Religionsverlust findet schon am Übergang von der dritten, der hierarchisch-autoritären zur materialistischen Bewusstseinsstufe statt. Die Deutungsvormacht der Religionen schwindet überall dort, wo der Kapitalismus die Zügel in die Hand nimmt. Er reduziert alle Vorgänge auf ökonomische und technische Abläufe, die menschengemacht sind, ob wir sie nun verstehen oder nicht.
An den Zahlen der Bertelsmann-Studie erkennt man, dass wir uns mitten in diesem Übergangsfeld befinden. Der Kapitalismus hat unser Innenleben noch immer nicht vollständig eingenommen, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis die magisch-mythische Erfahrungssphäre gänzlich auf die Bildschirme der Unterhaltungselektronik verbannt ist. Wir schalten diese Welt ein und aus, wie es uns gerade passt. Fühlen wir uns innerlich leer, tauchen wir ein in ein Fantasy-Abenteuer, bis uns auch das wieder reicht und wir genug vom Mysterium haben.
Auch wenn der Materialismus noch lange nicht durchlebt, durchlitten und ausgekostet ist, haben wir schon die weiteren Horizonte der Bewusstseinsentwicklung erschlossen. Während wir sie zunehmend nutzen, findet die Dimension des Religiösen neue Spielräume. Auf der Strecke geblieben, also in die Geschichte zurückverbannt, sind die märchenhaften und magischen Teile der Religionen sowie ihre Verquickung mit Macht – politisch, sozial, ideologisch.
Ein österreichischer Bischof, der öffentlich verkündet, für den Wahlsieg eines rechtspopulistischen Präsidentschaftsbewerbers zu beten, erscheint heutzutage den meisten Menschen als leicht skurril, und selbst sein vorgeordneter Erzbischof hat postwendend erklärt, dass es eine gute Tradition wäre, dass sich Bischöfe bei politischen Prozessen mit Empfehlungen zurückhalten und dass Kandidaten nicht nur nach ihrer Meinung zu religiösen Reizthemen wie Abtreibung bewertet werden sollten.
Und aus der sicheren Distanz können wir uns jeden Tag glücklich fühlen, wenn wir nicht in einer Region der Welt leben, in der diese Entflechtung von Religion und Machtpolitik noch nicht vollzogen ist und diese Verwirrung massive Gewalt und unsägliches Leid verursacht.
Religion jenseits der Angsterzeugung und -verbreitung
Wie schaut nun die Sphäre des Religiösen aus, wenn sie von ihrer Deutungs- und Regulierungsmacht entkleidet ist? Was bedeutet Glaube jenseits der Ängste, die von den Religionen über Jahrhunderte verbreitet wurden?
Auf der personalistischen Evolutionsstufe, die den Materialismus überwindet, wurde begonnen, das Innere der Religion zu erforschen. Zugleich erfolgt die Läuterung der Stellung der Religion in der Gesellschaft im Sinn des bedingungslosen Engagements für Unterdrückte, Benachteiligte, Behinderte, für die entmenschlichten Opfer des Kapitalismus.
Diese Rückbesinnung auf die Kernbotschaften, die in allen Großreligionen zu finden sind und die Förderung des Menschlichen zum Inhalt haben, gibt den Religionen einen neuen Stellenwert, der dann im systemischen Bewusstsein eine besondere Würdigung erfahren kann. Religionen erfüllen eine wichtige Funktion als Wertevermittler des Menschlichen, die aber nur gelingt, wenn alle Gier-, Macht- und Stolzthemen aus den Strukturen und Vermittlungsformen verschwunden sind. Auf dieser Ebene können sich die Religionen der Welt das Leid der Menschen untereinander aufteilen, um tröstend und heilend einzuwirken, ähnlich wie Rotes Kreuz und Roter Halbmond zusammenarbeiten und keine Konkurrenz gegeneinander brauchen.
Extremismus diskreditiert und schwächt die traditionellen Religionen
Überall dort, wo der religiöse Fundamentalismus wütet, geben die Zahlen Anlass für Hoffnung: Dass weniger Gewalttaten, Kriege und Gräueltaten mit religiösen Deckmänteln begangen werden, ist wahrscheinlich, sobald die Religion in ihrer traditionellen Machtstruktur an Bedeutung im Leben der Menschen verliert.
Möglicherweise tragen religiöse Extremisten extrem dazu bei, dass dieser Trend beschleunigt wird: Der Missbrauch von Religion für politische Zwecke schreckt die Menschen von der Religion insgesamt ab und macht sie misstrauisch gegen die Angebote der Glaubensrichtungen insgesamt. Religionen, die sich für Zwecke der Gewalt und Unmenschlichkeit missbrauchen lassen, schaufeln an ihrem eigenen Grab und schwächen die Attraktivität und die Glaubwürdigkeit des Glaubens insgesamt. Sie beschleunigen den Fortschritt der Bewusstseinsevolution, auch wenn sie das gerade Gegenteil anstreben. Was ist, wenn Glaubenskrieg ist, und keiner glaubt mehr daran?
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