Sonntag, 13. November 2011

Polaritäten - Ursprünge und Folgen

"Alles ist zweifach, alles hat zwei Pole, alles hat sein Paar von Gegensätzlichkeiten“, so heißt es im Kybalion, einem esoterischen Buch, das 1908 erschienen ist und sieben „hermetische Prinzipien“ enthält. Darauf fußend, findet sich das Prinzip der Polarität in verschiedenen Lehren dieser Geistesrichtung, so schreibt z.B. der Reinkarnationstherapeut Mathias Wendel: „Immer gibt es Pol und Gegenpol, kurz die Polarität: Tag und Nacht, Mann und Frau, Krieg und Frieden, usw. Wenn es zwei Gegenpole gibt, dann gibt es Spannung dazwischen. Spannung bedeutet, dass sich etwas bewegt.“

Doch lassen wir uns nicht gleich von solchen esoterischen Scheingesetzmäßigkeiten ins Bockshorn jagen. Zunächst können wir uns klarmachen, dass es in der Natur selber keine Polarität gibt. Tag und Nacht sind nur scheinbare Gegensätze, in Wirklichkeit geht die Nacht in den Tag und dieser in die Nacht über, in vielen Zwischenstufen und Übergängen. Ab wann die Nacht wirklich Nacht und nicht mehr Tag ist, sagt uns die Natur nicht, sondern nur unsere eigene Festlegung.

Aber bei den Geschlechtern ist es doch klar – oder doch nicht so? Mann und Frau unterscheiden sich zwar in ihren Geschlechtsmerkmalen; alles weitere ist schon strittig – die einen sagen, dass die Männer von einem grundsätzlich anderen Planeten stammen als die Frauen, was die so wesentlichen Unterschiede erklärt, dass Frauen das Einparken schwer fällt und Männern das Verstehen von Gefühlen. Die anderen sagen, dass das alles erlernt ist und von kulturellen Prägungen abhängt. Und die Biologie und Genetik ist auch nicht so eindeutig wie es die Polaritätslehre fordert. Es gibt – zwar nur als kleine Minderheit – ein drittes Geschlecht zwischen Mann und Frau in verschiedenen Ausformungen. Und es gibt angeblich Frauen, die männlicher sind als manche Männer und Männer, die weiblicher sind als manche Frauen. Also alles andere als eindeutig, alles andere als polar.

Über Krieg und Frieden braucht es da gar keine weiteren Ausführungen, die Zwischenstufen sehen wir, sobald wir eine Nachrichtensendung im Fernsehen einschalten. Außerdem verhieße ja das Gesetz der Polarität, dass jeder Friede einen Krieg fordere, und je mehr Friede umso mehr Krieg nach sich ziehe – eine Sichtweise, die wir hoffentlich ersatzlos in den Bereich der pessimistischen und angstbesetzten Fantasien verbannen dürfen.

Weder die Natur noch die Kultur bringen eindeutig polare Zuordnungen und Gegensätze zustande. Vielmehr haben wir es überall dort mit Kontinuitäten zu tun – eines geht ins andere über und wird mehr und mehr zum anderen, bis es scheinbar einen Gegenpol bildet zum einen. Kaum aber ist es dort, verändert es sich schon weiter, wieder zurück zum Ausgangspunkt oder ganz woandershin.

Woher kommen wir also auf die Idee von Polaritäten? Sie sind Konstrukte unseres Denkens. Das ist in der Lage, binär zu operieren, d.h. A zu A zu machen und davon B abzugrenzen als Nicht-A. Unser Denken bildet den Begriff „Nacht“, der eindeutig vom Begriff „Tag“ unterschieden ist. Damit haben wir ein Gegensatzpaar, das es zwar in der Wirklichkeit nicht gibt, aber das es uns möglich macht, leichter mit der Wirklichkeit umzugehen. Denn wir können uns ausmachen, dass wir in der Nacht dieses und jenes unternehmen, und bei Tag anderes, ohne auf die feineren Unterschiede einzugehen, die die Natur vorsieht.

Meine These zu den Ursprüngen der Dualität oder Polarität geht noch ein Stück weiter zurück als die Zeichen- und Symbolbildung durch Sprache und Denken. Wir treffen auf ein elementares polares Muster bei allen Lebewesen, selbst schon bei einzelligen Organismen. Sie haben in einer Gefahrensituation zwei Optionen: Kampf (Verteidigung) oder Flucht. Sie müssen sehr schnell einschätzen, was die besten Erfolgschancen hat, und entscheiden, was gewählt wird, um das Überleben zu sichern. Die enorme Stressbelastung, die auf dieser Entscheidungssituation ruht, bewirkt den Anschein einer Dualität, d.h. das Lebewesen vereinfacht die Wirklichkeit so weit, dass nur die Alternative von Kampf oder Flucht offen bleibt.

Die hohe emotionale Aufladung einer solchen Situation (wir merken das daran, dass wir extreme Gefahrensituationen, die wir selber erlebt haben, nie vergessen) brennt die duale Struktur in unser Erleben ein und bildet die Grundlage dafür, dass wir entsprechende Sprach- und Denkstrukturen ausbilden, z.B. die Negation, eine rein sprachliche oder gedankliche Operation, die es uns ermöglicht, zu jeder Realitätserfahrung ein Gegenteil zu konstruieren: Wenn nicht Kampf, dann Flucht. Wenn nicht Liebe, dann Hass. Wenn nicht Freiheit, dann Unfreiheit usw.

Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich. Die Polarität wird einzementiert. Die Folgen von solchen Positionen sind meistens katastrophal. Und das ist auch leicht verständlich, wenn wir die Wurzel des polaren Denkens verstehen, die in einer nackten Überlebensangst liegt. Deshalb wagen wir die Schlussfolgerung, dass alle Polaritäten mit Angst durchtränkt sind. Die Spannung zwischen den Polen ist eine Anspannung aus Angst, die wir körperlich spüren, sobald wir uns ihr aussetzen.

Machen Sie das Experiment: Denken Sie den Satz: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Können Sie dabei ganz entspannt und gelassen und heiter bleiben? Oder nehmen Sie wahr, dass sich irgendwo in Ihrem Körper etwas anspannt?

Könnte es sein, dass die Polaritäten, die wir in der Wirklichkeit zu erkennen vermeinen, „in Wirklichkeit“ nur Projektionen von Überlebensängsten sind? Und könnte es sein, dass diese Projektionen für einen Gutteil der menschenverursachten Leidenszuständen auf dieser Erde zuständig sind, für die Kriege, Ausbeutungen, Unmenschlichkeiten?

Zum Weiterlesen:
Polaritäten lähmen - Kontinuitäten befreien

3 Kommentare:

  1. ... der Faust ist durchdrungen von dualistischem Denken. Der Prolog im Himmel ein Symbol dafür, die Hauptfigur ein Suchender nach dem verloren gegangenen Ganzen. LG, SABInet

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  2. Ein gutes Beispiel für einen Zerrissenen aus der Feder eines Mega-Repräsentanten des personalistischen Bewusstsein mit vielen Vorahnungen auf das universalistische.

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  3. Ein paar Assoziationen zu beiden Beiträgen von Nov. 2011:
    Vorausschicken will ich, dass ich die Vorstellung eines weiteren Bereiches, der neben dem materiellen Universum existiert, für absolut sinnvoll halte, ob ich das nun mit Hinweisen auf spirituelle Lehren begründe oder auf die Quantentheorie, soweit ich sie als Laie verstehen kann. (Der ehemalige Leiter des Max-Planck–Instituts für Physik in München und Quantenphysiker Prof. Hans-Peter Dürr versteht es, dem Nicht-Physiker zu verdeutlichen, worum es im Kern dabei geht, und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können.)
    Zunehmend gehe ich dazu über, nicht mehr von Polarität/Dualität zu sprechen sondern von Vielfalt und „Ebenen“. Ich betrachte unser Dasein als eine unermessliche Anzahl von Ebenen in abstraktem Sinne, die sowohl die materielle Welt bilden als auch unsere geistig-psychische Existenz. Die Ebenen stellen sich durchaus innerhalb eines Spektrums dar.
    S. Freud sprach von Lebens- und Todestrieb und es gibt von verschiedenen Seiten her die Gegenüberstellung von Liebe und Angst (nicht Hass). Bei tieferer Betrachtung sind diese beiden Konzepte für mich dasselbe und bilden die „Außenbegrenzungen“ des Spektrums und die einzige, tatsächlich existierende Polarität.
    Je nachdem, welcher Seite ich mich zuwende, sind die Konsequenzen andere.
    Innerhalb dieses Spektrums m u ß ich zudem ständig wählen und entscheiden.
    Das bedeutet:
    Das Leben bewegt sich permanent durch die Ebenen hindurch in alle möglichen Richtungen und innerhalb den Begrenzungen hin- und her. Die Fließbewegung und Fließrichtungen kommen nicht durch den Ausgleich einer Spannung zustande, bei dem zwangsläufig das eine zum Gegenteil führen muss, sondern dadurch, dass der Mensch auswählt (entscheidet) aus der Vielfalt der Erscheinungen und Ebenen und dadurch, zu welcher Seite der einzigen Polarität er in seiner Entscheidungsfindung tendiert. Es ist ähnlich der Bewegung in einem Koordinatensystem.
    Er m u ß entscheiden, damit Leben nicht zum Stillstand kommt. (Wenn ich mich entschließen würde, mich nicht mehr zu entscheiden, würde ich früher oder später verhungern und verdursten, also mein körperliches Leben auslöschen. Das ist auch eine Entscheidung). Die Natur wählt ebenso aus innerhalb der Vielfalt, ohne dass wir bislang klar benennen können, woher dieser Evolutionsimpuls kommt.
    Im Geist des Menschen existiert diese Entscheidungs-Instanz, die auch Selbstdistanzierung und Selbsttranszendierung ermöglicht, also über Gegebenes hinauszugehen.
    Der Mensch ist somit ein permanent Entscheidender. Er kann auch jederzeit alle Zwischen“töne“ und Übergangsbereiche wählen, sofern er sie erkennt und insofern sie außerhalb einer gewissen Determiniertheit liegen (biologische und biografische Gegebenheiten). Somit wird er auch zum Gestalter.
    Insgesamt empfinde ich hier eine Parallele zum 'Beobachter' der Quantentheorie.
    In der Definition und Festlegung von Gegensätzen sehe ich ein ursprüngliches Hilfsmittel, das es dem Menschen ermöglicht, die immense Vielfalt der Erscheinungen erfassen, kontrollieren und damit beherrschen zu können, was dazu beiträgt die Angst zu binden.
    Dies ist auch eine Wahl bzw.Entscheidung, über die er jedoch in seiner Bewusstseinsentwicklung hinausgehen kann.
    Beispiel:
    In der buddhistischen Achtsamkeitsschulung wird Wert gelegt auf das Erkennen der 3 grundlegenden Gefühlszustände zustimmend, ablehnend und neutral. Es sind prinzipielle Funktionsmodi des menschlichen Geistes, die primär „automatisch“ ablaufen.
    Wir können uns ihnen aber auch bewusst zuwenden, eben mit der Instanz des Beobachters/Entscheiders. Auch hier sind die Ergebnisse jeweils andere, je nachdem, welcher Modus gewählt wird. Es kommt auf die Geistesrichtung, die Geisteshaltung an, um das zu erreichen, was wir erfahren wollen.
    Letztendlich führt es weg von dem Konzept der Polarität hin zu dem Empfinden von Verbundenheit und Einheit allen Seins.

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