Donnerstag, 18. September 2025

Die heimliche Freude bei politischen Morden

Es gibt Videos, auf denen man sieht, wie Araber feiern, wenn Juden getötet werden, und wie Juden feiern, wenn Araber getötet werden. (Die Videos können für Propagandazwecke gefälscht sein, aber solche Vorkommnisse gibt es immer wieder). Es gibt angeblich Menschen, die die Ermordung von Melissa Hartman, und andere, die das Attentat auf Charlie Kirk gefeiert haben. Selbst Barack Obama ließ es sich nicht nehmen, live die Festnahme und Ermordung von Osama bin Laden zu verfolgen und sich daran zu ergötzen. 

Was bringt Menschen dazu, Freude zu empfinden, wenn andere umkommen?

Die tribalen Wurzeln 

Die Menschen haben die längste Zeit ihrer Geschichte in Stämmen verbracht, überschaubaren Gruppen, die durch ein Wir-Gefühl zusammengehalten wurden, in Abgrenzung zu den anderen Gruppen, die oft als Feinde erlebt wurden, vor allem, wenn die Ressourcen knapp waren. Die Bedrohung von außen wird geringer, wenn ein Mitglied der Die-Gruppe umkommt, vor allem, wenn es ein mächtiges Mitglied dieser Gruppe war. Die Freude über den Tod stammt aus der Erleichterung, aus der Entlastung von der Bedrohung. Ähnliches kann im Inneren passieren, wenn sich Leute zuprosten können, weil sie gerade sehen, wie die Bomben im Feindesland niedergehen.

Wir leben längst in riesigen Großgruppen, in vielgestaltigen Gesellschaften, aber noch immer wirken diese archaischen Dynamiken aus dem Unterbewusstsein mit. Um die Komplexität der Gesellschaft übersichtlicher zu gestalten, basteln wir uns eine Vereinfachung nach dem Wir-Die-Schema, die Guten und die Bösen. Alles, was die Bösen schwächt, macht uns sicherer und erleichtert uns – scheinbar ein Grund zum Feiern.

Das Absprechen der Menschlichkeit

Zur Gewaltausübung ist ein weiterer Schritt notwendig. Er besteht darin, dass Gegnern und Feinden das Menschsein abgesprochen wird. In manchen Stammesgesellschaften war die Bezeichnung „Mensch“ auf die Angehörigen des Stammes beschränkt (z.B. die Allemannen – all die sind Menschen, die zu uns gehören). Die Scham hindert daran, den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft Leid zuzufügen. Wer aber im Sinn der Eigendefinition kein Mensch ist, dem kann schamlos Gewalt angetan werden.

Die Propaganda im Nationalsozialismus hat zunächst den Juden das Menschsein abgesprochen, indem sie als Ungeziefer oder Schädlinge bezeichnet wurden. Mit dieser rhetorischen Entmenschlichung werden die Hemmschwellen gesenkt, solche Menschen umzubringen und darüber Genugtuung zu empfinden, weil ja scheinbar durch die Morde Schaden abgewendet werden konnte. 

Die Personifizierung des Bösen

Viele Ideologien nutzen diese Mechanismen, um Gewalt zu rechtfertigen. Das komplexe Böse (z.B. der Kapitalismus oder die Migration) wird personifiziert; dadurch kann es bekämpft werden. Bestimmte Menschen werden als symbolische Repräsentation eines „bösen Systems“, einer korrupten Elite oder eines verschworenen Zirkels angesehen. Wenn sie einem Attentat zum Opfer fallen, entsteht der Eindruck, dass die anonyme Macht des Bösen angreifbar ist und geschwächt wurde. Im aktuellen Fall ist ein Repräsentant der Trump-Bewegung MAGA erschossen worden, und das kann bei vielen, die die Machtzusammenballung und die Schamlosigkeit dieser Bewegung und der von ihr gestellten Regierung, eine Genugtuung ausgelöst haben, eine Art von Schadenfreude, die ihre Wurzel in der Schwächung der Gefahr und Bedrohung besteht. Die erlittene Frustration findet einen innerpsychischen Ausgleich im Sinn einer Rache oder einer wiederhergestellten Gerechtigkeit. Diese Gefühlsabläufe spiegeln sich darin wieder, dass in vielen Kommentaren darauf hingewiesen wurde, dass das Opfer des Attentats in seinen Reden immer wieder betont hat, wie wichtig ihm der Privatbesitz von Waffen ist und dass für dieses Recht eine große Zahl von Todesopfern in Kauf genommen werden muss. Zu erkennen, wie jemand zum Opfer der eigenen gewaltgetränkten Rhetorik wird, hat offensichtlich bei manchen eine „klammheimliche Freude“ ausgelöst. 

Die "klammheimliche Freude"

Dieser Ausdruck wurde übrigens im Zusammenhang mit den Terroraktionen der Roten Armee-Fraktion gebraucht. In einem zunächst anonymen Text „Buback – ein Nachruf“ schrieb der Autor:

„Meine unmittelbare Reaktion, meine ‚Betroffenheit‘ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen. Ich habe diesen Typ oft hetzen hören. Ich weiß, daß er bei der Verfolgung, Kriminalisierung, Folterung von Linken eine herausragende Rolle spielte.“ (1977)

Diese Stelle entfesselte eine hitzige Debatte in Deutschland; der Satz, der weiter unten im Text steht, wurde dagegen kaum diskutiert: 

„Wir alle müssen davon runterkommen, die Unterdrücker des Volkes stellvertretend für das Volk zu hassen.“

Das erste Zitat beschreibt recht treffend die Gefühlsabläufe bei dieser Form der Freude: Eine Person stellte eine Gefahr dar und hat dadurch Ängste und Frustrationen erzeugt. Deshalb fühlt es sich gut an, wenn sie tot ist. Im zweiten Zitat geht es um den Ausstieg aus dieser Dynamik, der durch die Hilfe der Vernunft zustande kommt: Wir müssen aus dem Hass aussteigen und aus der Personifizierung von unvollkommenen Zuständen. Die Zustände werden keinen Deut besser, wenn eine Person getötet wird. 

Von der Scham zum Mitgefühl, vom Mitgefühl zur Vernunft

Das Mitgefühl, das bei dieser Gefühlsdynamik auf der Strecke bleibt, meldet sich erst, wenn die Überwindung der Schamschranke, die vor jeder Gewaltanwendung und auch vor jeder Verherrlichung von Gewalt warnt, zurückgenommen wird. Die Scham über das Gutheißen von Gewalt oder über die Freude über Morde öffnet die Tür zum Mitgefühl mit den Opfern. Ein wertvolles Mitglied der Menschheitsfamilie ist zu Tode gekommen, das muss betrauert werden. Es gibt Angehörige, die ein schweres Schicksal erlitten haben.

Über das Zulassen der Scham und des Mitgefühls wird das Bewusstsein frei für den Gebrauch der Vernunft. Sie führt heraus aus den tribalen Bindungen, aus den Tendenzen zur Entmenschlichung und Personifizierung des Bösen. Sie macht uns deutlich, dass wir unsere Probleme als Menschheit nur gemeinsam und ohne Gewalt lösen können.

Zum Weiterlesen:
Intensitätssuche und Gewalt
Auf dem Weg zur Hassgesellschaft?
Obama und die Fratze der materialistischen Demokratie


Dienstag, 16. September 2025

Intensitätssuche und Gewalt

Manche Menschen wollen ihr Leben lang eine ruhige Kugel schieben, nach dem Motto: Nur keine Wellen. Andere suchen überall den Kick, das Herausfordernde und die Intensität. Sie geraten leicht in Langeweile, wenn nichts Besonderes passiert. Ohne Intensität wird es fad, aber zu viel Intensität erzeugt Dauerstress. Wo liegen die Hintergründe der Suche nach Intensität?

Intensive Erfahrungen führen im günstigen Fall zur Ausschüttung von Glückshormonen (Endorphine und Oxytocin) und werden deshalb immer wieder gesucht. Wir verfügen über ein Dopaminsystem, das uns nach Belohnungen Ausschau halten lässt. Es motiviert uns dazu, aus dem Alltagstrott mit seinen Routinen auszubrechen und neuartige Erfahrung zu machen. Man nennt diese Dynamik in der Psychologie die Suche nach Reizen oder Sensationen („sensation seeking“).

Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass dieses Verhalten besonders im Alter von 20 bis 25 Jahren auftritt, eher bei Männern als bei Frauen. Es gibt ein Kontinuum zwischen dem Suchen von Erfahrungen (experience seeking), dem Suchen nach Sensationen (sensation seeking) bis zum Suchen nach Spannung (thrill seeking). Dabei geht es in unterschiedlichen Graden darum, die Grunderregung des Nervensystems zu erhöhen. Ein niedrig erregtes Nervensystem wird von Personen, die unter Intensitätsmangel leiden, häufig als unangenehme Langeweile interpretiert.

Gewalterfahrung als Intensitätserleben

Die Suche nach Intensität motiviert dazu, Risiken einzugehen, die mit einem teilweisen Kontrollverlust verbunden sind. Der Kick besteht gerade darin, sich gefährlichen Situationen mit vielen Unwägbarkeiten auszusetzen und sich darin zu behaupten. Das Erleben von Intensität in einer sicheren Umgebung soll die Fähigkeit trainieren, den Kontrollverlust auszuhalten, als Coping-Mechanismus. 

Jugendliche, die besonders zur Intensitätssuche neigen, nutzen offenbar zunehmend die Übungsmöglichkeiten mit Intensität, die durch Online-Spiele angeboten werden. Es geht dabei um die Spannung, die im Verlauf des Spieles zu immer höherer Intensität gesteigert wird. Oft spielt die Einübung in Gewalt eine wichtige Rolle, indem im Spiel virtuelle Gegner vernichtet werden, was Erfolgs- und Lustgefühle in der Regel auslöst. Manche, die zu stark in die Trance dieser digitalen Welt eingetaucht sind, merken dann kaum einen Unterschied, wenn die Virtualität in die Realität übergeht, wie vielleicht der Attentäter von Charlie Kirk in Utah. 

Das Kennenlernen der Intensität von Gewalt ist ein wichtiger Schritt im Prozess des Erwachsenwerdens. Es geht dabei um das Sammeln von Erfahrungen mit der Täterrolle. Während in der Kindheit meist die aus der Opferrolle vorherrscht, dient die Pubertät zum Ausstieg aus der Rolle durch die Übernahme von mehr Selbstverantwortung. Wenn Eltern physische oder emotionale Gewalt ausgeübt haben, ist es schwer und zugleich besonders verführerisch, in dieser Zeit in die Täterrolle zu gehen. Das Online-Gaming kann diese Brücke bereitstellen, ohne allerdings eine adäquate Unterstützung für die Bewältigung bereitstellen zu können. Denn die Abhängigkeit von Bestätigungserlebnissen von der virtuellen Welt stellt, psychologisch betrachtet, nur eine Verlängerung der Kindheitsposition dar. 

Umso verlockender kann es sich dann dem Jugendlichen im Emanzipationsprozess darstellen, reale Möglichkeiten zur Gewalterprobung zu nutzen. Die Schwelle zur realen Gewalt wird mit Hilfe des Hasses überwunden, wie im letzten Artikel dargestellt. Das Internet bietet vielfältige Anregungen, um sich mit Opfern zu identifizieren und Hass auf die Täter aufzubauen. Die Kettenreaktion von der Frustration zum Hass und dann zur Gewalt besteht in einer Steigerung der psychischen Intensität von Schritt zu Schritt. Der Kulminationspunkt ist dann die vollbrachte Gewalttat. 

Wiederholungszwang

Die Suche nach Intensität kann leicht suchtartige Züge annehmen („Adrenalin-Junkies“). Dazu kommt es vor allem, wenn diese Suche als Wiederholungszwang von Traumen auftritt. Darauf hat schon Sigmund Freud hingewiesen. Es handelt sich um das unbewusst gesteuerte Bestreben, in einer sicheren Umgebung ähnlich intensive Erfahrungen zu machen wie im Trauma, aber im bewusst entschiedenen Wiedererleben zu lernen, das Trauma in der Wiederholungssituation zu bewältigen. Der Suchtcharakter bildet sich aus, weil es nie zu einer Auflösung des Traumas kommt, sondern nur zu seiner Reinszenierung unter scheinbar besser kontrollierten Umständen.  Da die angestrebten Intensitätserfahrungen immer auch mit einem gewissen Kontrollverlust verbunden sind, wird ein Stück des Traumas in die Gegenwart geholt, ohne bewusst durchlebt und dann integriert zu werden, wie es in einer Traumatherapie geschehen kann. Also muss diese Erfahrung immer wieder wiederholt werden, ohne reale Aussicht auf die Befreiung von der Traumalast. 

Kontrollverlust

Kontrollverlust bedeutet auch Selbstverlust – das zeitweilige Verschwinden des Selbstkontakts. In vielen Zusammenhängen wird dieser Verlust als lustvoll erlebt z.B. in der Sexualität oder in der Ekstase. Doch kann die Lust schnell in Panik umschlagen, wenn der Kontrollverlust aus einem Trauma stammt. Es gibt eine gewisse, nicht vorhersehbare Grenze, innerhalb derer noch so viel Selbstkontrolle besteht, dass die Traumaenergie in Schach gehalten werden kann. Wird diese Grenze  überschritten, dann tritt das alte Trauma mit voller Wucht in die momentane Erfahrung ein. Aus der lustvollen Entgrenzung wird ein Horrortrip. Die Dopamin-Euphorie kippt in das Überschießen der Stresshormone. Falls das Nervensystem nicht zeitgerecht in einen regulierten Zustand zurückfindet, gerät es auf der nächsten Stufe der Fehlregulation in eine parasympathische Überreaktion, die mit Erstarrung, Lähmung und Dissoziation einhergeht.

Dissoziation und Gewalt

Die Dissoziation kann sich in verschiedenen Formen zeigen:

Unter Depersonalisation versteht man einen Zustand, in dem sich die betroffene Person vom eigenen Körper losgelöst oder entfremdet vorkommt, oft verbunden mit verminderter Empfindlichkeit gegen Berührung oder Schmerzen sowie einer eingeschränkten Bewegungskontrolle.

Die Derealisation bezeichnet ein Gefühl, in dem die Welt um einen herum als nicht real erscheint. Das Erleben wird wie durch einen Schleier oder wie in einem Film empfunden, mit betäubten Gefühlen und verlangsamte Bewegungen.

Schließlich gibt es noch die dissoziative Amnesie. Es kommt dabei zu kurzen Unterbrechungen im Fluss der subjektiven Erfahrung: Es wird vergessen, was gerade passiert ist. In der Folge treten Gefühle von Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Verlorenheit auf.

All diese Phänomene der Dissoziation dienen dem Schutz des Überlebens in äußerst bedrohlichen Situationen, die mit höchster Intensität einhergehen und an die Grenze der Existenz führen. In weiterer Folge führen sie dazu, dass unter bestimmten Umständen die Hemmungen zur Gewaltausübung überwunden werden. Manche Gewalttaten sind nur möglich, weil die Täterperson dissoziativ von sich selbst abgeschnitten ist und in gewisser Weise wie ein Roboter agiert.

Zum Weiterlesen:
Auf dem Weg zur Hassgesellschaft?
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt
Die Wurzeln der Gewalt
Böses tun, um Gutes zu bewirken?


Freitag, 12. September 2025

Auf dem Weg zur Hass-Gesellschaft?

Wir sind Zeugen einer bemerkenswerten Erosion der öffentlichen Umgangsformen: Der Hass wird von einer versteckten, schambesetzten Emotion zum legitimen Ausdruck von Meinungsfreiheit umgewandelt. Es wird so getan, als wäre es ein grundlegendes Menschenrecht, den eigenen Hass in der Öffentlichkeit ungeschminkt kundzutun, und dass jede Kritik an  Hassäußerungen selbst nur Hass verdient, weil damit die eigene Freiheit angegriffen wird. 

Der Hass wird zunehmend von der Scham befreit, mit der er wegen seiner Sozialschädlichkeit belegt ist. Die Scham ist ja die Wächterin des sozialen Zusammenlebens, und Hass ist das wirksamste emotionale Gift, das diesen Zusammenhalt vernichten kann. Die Enthemmung, die vermutlich vor allem durch die neuen Möglichkeiten virtueller Kommunikation stattgefunden hat, hat offenbar dazu geführt, dass bei vielen Menschen unterdrückte Hassgefühle neue Ausdrucksformen gefunden haben, in denen die Scham unwirksam ist. Jeder kann unter einem Pseudonym oder einem Nicknamen alle hasserfüllten Gedanken und Gefühle in die Kommunikationsräume einspeisen, die ihm in den Sinn kommen oder auf dem Magen liegen. Es gibt kein reales Gegenüber, dessen Reaktion ein Schamgefühl auslösen könnte. Es ist also leicht, sich in virtuellen Welten schamlos zu bewegen. 

Hass als Folge des Gehasstwerdens

Menschen sind nicht von sich aus hassende Wesen, vielmehr sind sie Wesen, die Liebe geben und empfangen wollen. Sie wissen, dass die Liebe der beste Garant für das eigene Überleben ist. Die eigene Hassbereitschaft hängt ab von dem Hass, der einem als Kind entgegengebracht wird. Hass, der einem Kind entgegengebracht wird – in Gefühlen oder in Worten –, erzeugt Hass in ihm, der sich in irgendeiner Form Ausdruck verleihen muss – als Selbsthass oder als Hass auf andere. 

Erlittene Frustration legitimiert den Hass, der Hass legitimiert die Gewalt. Der Hass bildet die Schaltstelle, an der die hilflose Opferrolle in eine potenzielle Täterrolle übergeführt wird. Die Wut aus der Frustration wandelt sich in einen kalt berechnenden Vernichtungswillen, der sich jede Berechtigung zuerkennt, Gewalt gegen die Verursacher der Frustration anzuwenden.

Hassen zerstört Menschlichkeit

Jeder im Inneren erlebte Hass zerstört einen Teil der eigenen Menschlichkeit. Denn der Hassanteil schneidet sich von der Liebesfähigkeit und vom Mitgefühl ab. Er frisst sich in die Seele wie ein tiefdunkler Fleck, wie eine schwärende Entzündung hinein. Er erzeugt nichts als Verbitterung und Unglück. Er ist ein Verrat am eigenen Wesen.

Hassäußerungen in der Öffentlichkeit zerstören die Gesellschaft

Jeder nach außen getragene Hass, also jeder öffentlich geäußerte Hass macht um Vieles mehr kaputt. Er zielt auf die Menschlichkeit der Gemeinschaft und beschädigt den Zusammenhalt der Gesellschaft – eine Gesellschaft von sich hassenden Menschen ist keine Gesellschaft mehr, sondern ist schon in ihre Einzelteile zerfallen. Sich hassende Menschen haben voreinander eine Heidenangst, weil sie wissen, dass die anderen nach der eigenen Zerstörung trachten, wie sie selbst die Zerstörung der anderen anstreben. Der Mensch, der sich als des Menschen Wolf fühlt, ist zum Untergang verdammt, weil er irgendwann unter der Last seines Misstrauens, seiner Schamlosigkeit und Angst zusammenbricht. Hass macht nicht nur hässlich, sondern ist ein Akt der Selbstzerstörung.

Wer Hass sät, wird Hass ernten. Die menschlichen Beziehungen reagieren in der Regel reziprok. Wie man in den Wald ruft, so kommt es wieder heraus, sagt die Volksweisheit. Der einfachste Schutz vor dem Hass anderer ist es, selber zu hassen. Das ist die Logik des politischen Mordes: Wer Hass predigt, muss gehasst werden, und was gehasst wird, muss vernichtet werden. 

Profiteure des Hasses 

Politiker haben schon immer versucht, Hass zu schüren, um ihn für ihre Ziele nutzbar zu machen. Es gibt diese schamlosen Politiker auf allen Rändern des politischen Spektrums. In der jüngeren Geschichte sind sie aber vor allem in den rechten Ecken der politischen Landschaft vertreten und breiten sich von dort langsam, aber sicher in Richtung des Zentrums aus, in dem der Hass salonfähig gemacht wird. Dass sie damit an der Zerstörung der Gesellschaft arbeiten, ist ihnen insofern bewusst, weil sie „das System“, die „Eliten“ oder einen „deep state“ entmachten wollen. Sie wollen also das zerstören, von dem sie annehmen, dass es die Wurzel allen Übels ist. Sie merken aber nicht, dass sie durch die Radikalität des Hasses, den sie beständig verbreiten, die Gesellschaft selbst, in der sie ihre politischen Erfolge erreichen wollen, in ihren Grundlagen attackieren. 

Kollektiver Wiederholungszwang

Es gibt genug historische Beispiele für diese destruktiven Dynamiken, von der französischen Revolution bis zum Stalinismus und Nationalsozialismus. Die hinter diesen Kräften steckenden psychologischen Mächte hindern viele Menschen, aus der Geschichte zu lernen und verdammen sie offensichtlich zu einem kollektiven Wiederholungszwang, zur erneuten Re-Inszenierung der eigenen Kindheitsdramen, nur mit der Verfügung über erwachsene Zerstörungsmitteln. Sie handeln aus einem blinden Glauben an die Macht der Vernichtung heraus, als deren Opfer sie sich fühlen. Die Konsequenz besteht in der nachhaltigen Schädigung der Gesellschaft, im schlimmen Fall verbunden mit der Vernichtung vieler individueller Leben, die dem Ausleben des Hasses geopfert werden.

Es scheint, als ob in vielen Ländern dieser Wiederholungszwang wirkt und viele Menschen mitreißt und damit auf eine Neuauflage von autoritären Regimen mit hoher Gewaltbereitschaft zusteuert. Immer unverblümter offenbart sich ein neuer Faschismus in den USA, und Nachahmer und Bewunderer gibt es in vielen europäischen Ländern, die hier die Demokratie untergraben wollen. Der Verbreitung von Hass ist dafür ein geeignetes Mittel. 

Null Toleranz

Die Demokratien, die höchstentwickeltsten Regierungsformen, die die Menschheit hervorgebracht hat, können nur weiterbestehen, wenn die Äußerung und Verbreitung von Hass auf allen Ebenen eingedämmt und in einflussreichen Bereichen unterbunden wird, auch unter Einsatz von Strafen. Es muss die Aufklärung stattfinden, dass gezielter Hass die  Fundamente der Gesellschaft untergräbt und damit jedes Mitglied dieser Gesellschaft schädigt. Wir brauchen eine Kultur des Umgangs, die frei von Hass ist und die jede Äußerung von Hass mit Scham und moralischer Verurteilung ahndet.

Zum Weiterlesen:
Hass, Zerstörung und Krieg
Hass im Internetzeitalter
Geschlossene Systeme und der inhärente Hass
Der Hass in der politischen Fixierung
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses


Dienstag, 9. September 2025

Religion und Vertreibung

Die Geschichte des Nahostkonflikts ist auch eine Geschichte der Vertreibungen. Eine Folge von Kriegen ist zumeist die Flucht und Vertreibung von vielen Menschen, die ihre Leben inmitten der Zerstörungen retten wollen. Es sind vor allem die Älteren, die Frauen und die Kinder, die von diesem Schicksal betroffen sind.

Vertreibung bedeutet nicht nur den Verlust einer gewohnten, Sicherheit und Zugehörigkeit vermittelnden Umgebung, sondern auch eine Demütigung und Beschämung. In den meisten Fällen sind Vertreibungen mit traumatisierenden Verletzungen verbunden, wenn sie gewaltsam erzwungen werden. Jede Flucht geht mit Leid einher, und das Ankommen in einem fremden Land erzeugt in der Regel neues Leid und neue Beschämung: Für die Menschen dort wirkt der Flüchtling als Fremdling, als Eindringling, als möglicher Feind. Es bedarf langer und mühevoller Anstrengungen, um sich in der Fremde eine Heimat zu schaffen. Doch keine neue Heimat kann die alte, in der sich die Wurzeln der Herkunftsfamilie befinden, ersetzen. Der Makel der mangelhaften Zugehörigkeit wirkt oft in den nächsten Generationen weiter, und der Verlust der Heimat zeigt sich im Fehlen von Wurzeln und Bodenanbindung. Das Land, auf dem sich der Vertriebene bewegt, ist fremd; der vertraute sichere Boden ist verloren.

Eine Geschichte von Vertreibungen

Die Geschichte des jüdischen Volkes (wie auch die Geschichte anderer Völker) kann als Geschichte von Vertreibungen beschrieben werden. Die Ureltern, Adam und Eva, wurden beschämt aus dem Paradies vertrieben, in einer Urszene der Scham. Später wurden vermutlich Teile des Volkes als Sklaven nach Ägypten verschleppt und dort von Mose in die Freiheit ins Land Kanaan geführt, das Land, das Jahwe Mose versprochen hat.  Ab 597 v. Chr. mussten große Teile der Bevölkerung Judäas nach Babylon ziehen („babylonisches Exil“). Interessanterweise haben übrigens die Juden immer an ihrem Gott festgehalten, im Unterschied zu anderen Völkern, bei denen eine Gottheit so lange verehrt wurde, so lange es Siege gegeben hat, und nach Niederlagen schwand die Verehrung wie z.B. beim Gott Marduk der Babylonier. Der Grund für diesen Unterschied wird darin gesehen, dass der jüdische Gott nach den Propheten die Israeliten in die Niederlage geführt hat, damit sie für ihre Sünden büßen müssen. Es ist also ein Gott, der sein Volk durch Beschämung zu einem besseren Leben erziehen möchte (und daran immer wieder scheitert...).

Im Jahr 70 n.Chr. kam es zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer; es gab nun kein religiöses Zentrum der Religion mehr, und viele Juden verließen Jerusalem. Schließlich wurden die Juden unter Kaiser Hadrian im Jahr 135 aus Palästina vertrieben. Die Vertriebenen hielten aber über die Jahrhunderte am Glauben fest, dass sie wieder ins „Gelobte Land“ zurückkehren würden. Im Achtzehnbittengebet, dem Hauptgebet der Juden, ist dieser Glaube verankert.  Der Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wird am Ende des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen. Er drückt die Hoffnung und Vision der Juden aus, nach Israel zurückzukehren, wo immer auch sie in der Diaspora waren.

Die Treue zum Glauben

Das jüdische Volk ist in der Geschichte mit dem Schicksal von Vertreibungen nicht einzigartig. Das Besondere liegt einerseits in dem Festhalten am Glauben trotz aller Zerstreuung in verschiedenste Länder und andererseits in der Verbindung von Land und Religion, die von den gläubigen Juden über die Generationen in der Fremde aufrechterhalten wurde. Das „Heilige Land“ ist für die Juden nicht nur heilig, weil sich dort heilige Stätten befinden, sondern etwas, das Gott dem jüdischen Volk versprochen und gegeben hat. Das Land selbst ist also Teil ihrer Religion. Der Anspruch auf das Land enthält damit eine absolute, also von Gott gegebene Rechtfertigung. Nach 1948, als die UNO die Staatsgründung von Israel proklamiert hat, wurde dieser Anspruch militärisch, eben gewaltsam durchgesetzt. Die darauf folgende Geschichte ist durchzogen von Kriegen, die immer auch diesen religiösen Aspekt beinhalten – bis zum heutigen Tag. 

Radikalisierung durch Religion

In fast allen dieser Nahostkriege war und ist die Vertreibung der ansässigen Araber, die in großer Zahl in Nachbarländer ihre Heimat verloren haben und flüchten mussten, ein schweres Schicksal und eine Schuld der Vertreiber. Die Staatsgründung hat den Juden erlaubt, von der Opfer- auf die Täterseite zu wechseln. Aus den Vertriebenen wurden Vertreiber, aus den Beschämten Beschämer. Israel ist (mit Unterstützung westlicher Staaten) die stärkste Militärmacht in der Region und verfügt über eigene Atomwaffen. Der Staat konnte sein Gebiet kontinuierlich ausweiten und die Palästinenser immer weiter zurückdrängen. Palästinensische Gebiete wurden mit jüdischen Siedlungen durchsetzt, und die Gründung eines autonomen palästinischen Staates wurde verhindert. Die religiöse Absicherung dieser Machtpolitik sorgt dafür, dass ethische Fragestellungen und Menschenrechte in diesem Konflikt zweitrangig sind. Es gibt zwar in Israel eine Zivilgesellschaft, die die Standards der Mitmenschlichkeit einmahnt und eine Trennung von Religion und Politik fordert, aber ihr Einfluss auf die Zyniker in der Regierung ist allzu gering.

Der aktuelle Gazakrieg wird befeuert und radikalisiert durch jüdische Extremisten, die Teil der Regierung sind und Druck ausüben, um die Palästinenser vollkommen aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Es handelt sich um eine Unmenschlichkeit, die aus dem religiösen Anspruch auf das Land begründet wird und sich keinen Deut um das Leid der Menschen schert – ein weiteres Beispiel von religiös verbrämter Gewalttätigkeit. Der dieser Haltung innewohnende Hass erzeugt wiederum nur Hass bei den Opfern – und das Lechzen nach Rache. Der Konflikt wird noch mehr mit destruktiven Emotionen aufgeladen.

Eine psycho-logische Reaktion auf die mit Vertreibung verbundene Demütigung stellt eben die Rache dar, mit deren Hilfe die Opfer versuchen, ihre Beschämung zu überwinden. Die Gegengewalt bricht aus, sobald genügend Mittel gesammelt sind, um zurückschlagen zu können. Manchmal ist sie direkt gegen die Vertreiber gerichtet, manchmal gegen Stellvertreter oder Sündenböcke.

Ohne Vernunft keine Konfliktlösungen

Wenn die Mächtigen statt der Vernunft religiösen Dogmen folgen, kann es nur eine Form Konfliktlösung geben, nämlich die gewaltsame Durchsetzung des eigenen Standpunkts. Kompromisse sind ausgeschlossen. Wenn die eigenen Machtinteressen nicht durchgesetzt werden können, wird der Konflikt weiter am Leben erhalten und erzeugt über lange Zeiträume Zerstörung und Leid. Der jeweilige Status Quo kann nur mit Gewalt aufrechterhalten werden.

Als hätten wir nicht genug mit sozialen, politischen und ökonomischen Konflikten zu tun, werden immer wieder Ideologien, die aus Versatzstücken der Religion zusammengebastelt sind, in diese Konflikte hineingeschleust, mit der Folge, dass sie nicht nur unlösbar gemacht werden, sondern dass sie dazu noch emotional aufgeheizt werden. Da das Absolute unverhandelbar ist,  kann sich die andere Seite nur unterwerfen; wenn sie dazu nicht bereit ist, wird bis zur Erschöpfung weitergekämpft. Menschen, die dieses Schauspiel von außen beobachten, können sich nur angewidert von der Religion abwenden, die so schamlos missbraucht wird.

Die Widersprüche in den Religionen

In allen Religionen ist die Rede davon, dass Fremde aufgenommen und Vertriebene getröstet werden sollen. Jesus sagte: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Die christliche Pflicht gebietet demnach, Vertriebenen beizustehen und sie zu versorgen. In der Sure 4,36 sprach Muhammad davon, dass Gläubige für Fremde auf der Reise sorgen sollen. Deshalb versteht der Islam Gastfreundschaft und Trost für Vertriebene als religiöses Gebot. Außerdem war Muhammad mit seinen Anhängern auf der Flucht, da er aus Mekka vertrieben wurde. Im Alten Testament ist an verschiedenen Stellen die Rede davon, dass die Fremden, Witwen und Waisen besonders geschützt und getröstet werden sollen.

Der Widerspruch zwischen diesen religiösen Pflichten und der Praxis, den religiösen Eifer auf Gewalt und Unmenschlichkeit zu richten, ist schmerzhaft. Es tut weh zur Kenntnis zu nehmen, dass in den Kirchen, Moscheen und Synagogen  der Verzicht auf Gewalt und die Botschaft des Friedens gepredigt wird, und dass draußen Menschen mit religiöser Segnung umgebracht, vergewaltigt und vertrieben werden.

Zum Weiterlesen:
Religion und Krieg


Mittwoch, 20. August 2025

Religion und Krieg

Religionen verkünden das Absolute. Sie wollen die Menschen dazu bewegen, ihre Alltagssorgen hinter sich zu lassen und dem Absoluten die Priorität im Leben zu geben. Da das Glauben an das Absolute keine reine Gefühlssache sein kann, appellieren sie an die höheren kognitiven Funktionen, mit denen die Menschen ihre Impulse und Gefühle kontrollieren können.  In komplexen Konfliktfeldern kann nur mit Hilfe dieser Funktionen das Ausbrechen von Kriegen verhindert werden, bzw. kann nur über diesen Weg Friede nach Kriegen geschlossen werden. 

Der Friede spielt deshalb eine wichtige Rolle in den Religionen und steht im Zentrum der Botschaften von Religionsstiftern und hohen Vertretern von Religionsgemeinschaften. Und doch kommt es immer wieder vor, dass die Religionen an Kriegen beteiligt sind oder solche sogar auslösen. 

Die Übersetzungsprobleme des Absoluten

Die Verkündigung des Absoluten stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, weil das Absolute in die Sphäre der relativen menschlichen Sprache übersetzt werden muss. Deshalb ist die Verkündigungspraxis untrennbar mit den menschlichen Schwächen, ihren Impulsen und Gefühlen verbunden. Alle Religionsstifter, alle Heiligen und Propheten waren Menschen mit Stärken und Schwächen. Sie waren vom Absoluten begeistert und fühlten sich davon in einer grundlegenden Weise verändert und befreit. In diesem Zustand waren sie für viele andere, die an ihren Sorgen und Ängsten litten, ein leuchtendes Vorbild, dem sie nachfolgten, um auch in einen Zustand des Glücks und der Befreiung zu gelangen. Mit jeder relativen Vermittlung, also mit jeder Predigt oder jedem heiligen Text, wird die Botschaft des Absoluten verwässert und widersprüchlicher. Jeder nimmt sich aus der Verkündigung das, was er gerade für die eigene Bedürfnislage braucht. Und schon dient die Religion nicht mehr der Annäherung an das Absolute, sondern ordnet sich den Interessen der Menschen unter. 

Deshalb kann z.B. die russisch-orthodoxe Kirche den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen. Das Oberhaupt dieser Kirche bezeichnet den Krieg als „metaphysischen Kampf“ zwischen Russland (als Verteidiger traditioneller Werte, vor allem des Patriarchalismus) und einem „dekadenten“ Westen. Diese Position hat nichts mit dem Absoluten zu tun, sondern nutzt den Anschein der göttlichen Nähe für politische und kulturkämpferische Propaganda. Die militärische Gewalt wird unter Missbrauch religiöser Formeln geheiligt.

Zwar bringt jede Religion Strömungen hervor, die das Absolute wieder ins Zentrum stellen wollen (z.B. die Ordensgründungen oder die Reformationen im Christentum oder der Sufismus im Islam), doch werden diese Versuche der Zurückführung auf die eigentliche Botschaft entweder selbst wieder institutionalisiert oder sie bleiben Randphänomene. Die Reformation hat z.B. evangelikale Kirchen hervorgebracht, die in den USA strikt nationalistisch auftreten und die aggressive Migrationspolitik der gegenwärtigen Regierung unterstützen. 

Religion und Angsterzeugung

Es ist den Religionen gelungen, mehr Ethik ins Volk zu bringen. Insbesondere monotheistische Religionen (Christentum, Islam) nutzen das Jenseits als ethisches Korrektiv für das Diesseits. Wer hier nach dem Guten strebt, wird dort mit ewiger Glückseligkeit belohnt. Anders im Hinduismus: Wer hier Gutes bewirkt, kann mit einer besseren Wiedergeburt rechnen; wer nur Gutes tut, wird sogar vom schicksalhaften Rad der Wiedergeburten befreit. Zugleich haben die Religionen aber neue Ängste geschürt: Wer nicht ihren Richtlinien folgt, muss mit ewiger Verdammnis oder mit grauslichen Widergeburten rechnen. Das Tun des Guten wird mit der Angst vor Bestrafung verbunden, und das eigentliche Ziel der Religion, Menschen dazu zu bringen, von sich aus das Gute zu  tun, wird verfehlt. 

Die Angstmache der Religionen rückt sie näher zur Sphäre der Gewalt. In vielen Religionen hat dagegen das Prinzip der Gewaltfreiheit einen wichtigen Platz. Der große Vertreter des gewaltfreien Widerstandes, Mahatma Gandhi, hat die Idee der Gewaltfreiheit aus dem Hinduismus übernommen („Ahimsa“) und von der bloßen Vermeidung von Gewalt zu einer aktiven Haltung des Mitgefühls auch gegenüber Gegnern erweitert.

Muhammad spricht in frühen Suren des Korans von Gewaltfreiheit und von der Einschränkung der Gewalt. Der umstrittene Begriff des „Dschihad“ (eigentlich: „Anstrengung auf dem Weg Gottes“) wird in der späteren Schriften im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, in die der Prophet verwickelt war, auch auf militärische Handlungen ausgeweitet. Zur Verteidigung und zur Ausbreitung des Glaubens ist Gewalt nach der Scharia gerechtfertigt. 

Auch das Christentum ist in seiner Geschichte sehr ambivalent mit dem Thema Gewalt verstrickt. Bekanntlich wurden die Kreuzzüge mit äußerster Brutalität geführt. In verschiedenen Kriegen haben Kirchenvertreter Waffen gesegnet und Kriege gutgeheißen, wenn nicht sogar angezettelt. Diese unrühmlichen Rollen wurden durch die Wiedererinnerung an die Friedensbotschaft des Christentums  in längeren Lernprozessen zumindest von Teilen der Amtskirchen verabschiedet.

Vermischung von Absolutem und Relativem

Religionen enthalten immer absolute und relative Wahrheiten. Sobald sich Religionsvertreter in weltliche Belange einmischen, laufen sie Gefahr, den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheit auf die relativen Dinge zu übertragen. Das Absolute ist ungeeignet, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, vielmehr werden Kompromisse verhindert, sobald absolute Ansprüche erhoben werden. 

Aus dieser Vermischung erwächst der Fanatismus, in dessen Namen schon viele Gewalttaten begangen wurden. Im Gefühl der Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit wird Böses begangen, ohne Einsicht und Reue, sondern mit der Überzeugung, dem Guten nur auf diese Weise zum Durchbruch verhelfen zu können.

Höchste Erlaubnis für Gewalttätigkeit

Die von den Religionen in der Geschichte bis heute immer wieder entfachte Wucht an Aggressivität wurzelt darin, dass religiös geprägte Religionsvertreter aus missverstandener Treue an das Absolute Gewalt rechtfertigen und dazu ermutigen. Sie nutzen die Autorität des Absoluten, um ihren Anhängern einen Freibrief zu geben, ihre Wut an anderen Menschen auszulassen. Viele Menschen haben große Mengen an Wut in sich aufgestaut, gespeist aus den verschiedensten Quellen der eigenen Lebensgeschichte. Mit einem Heiligenschein versehen, darf sich die Wut an unschuldigen Opfern austoben, scheinbar als Dienst am Absoluten. In Wahrheit sind es Machtinteressen von verblendeten Menschen, die aus solchen angezettelten Blutvergießen ihren Nutzen ziehen. Die Vollstrecker der Gewalt dienen als nützliche Idioten der Anstifter, und diese hängen sich den Mantel des Absoluten um, um ungeschoren davon zu kommen und ihre Schäfchen ins Trockene bringen zu können.

Klare Grenzen als Voraussetzung für die Humanität

Dort, wo es gelingt, eine klare Grenze zwischen den absoluten und den relativen Wahrheiten zu ziehen, wird dem Kaiser gelassen, was des Kaisers ist, und Gott das, was Gottes ist. Die Kirche bleibt im Dorf, und die Heiligen versuchen nicht, auf mächtige Politiker zu spielen. Dann macht sich die Religion keine Finger mit den hässlichen Geschäften um Krieg und Gewalt schmutzig, sondern besinnt sich auf ihre eigentliche Rolle, die im Übersetzen des Absoluten in die relative Welt der Menschen besteht. 

In vielen Kulturräumen der Welt ist diese Grenzziehung noch immer verschwommen, und dadurch entsteht viel Unheil. Gewalttaten und Kriege werden im Namen und mit Billigung der Religion ausgeführt, scheinbar bewaffnet mit dem Segen Gottes und besessen von der Unerbittlichkeit des Absoluten. Die verführerische Macht absoluter Aussagen bringt noch immer viele Menschen dazu, an sie zu glauben und ihr ohne Kritik zu folgen. Unmenschliche Taten werden mit der Aussicht auf himmlischen Lohn verherrlicht, während sich die religiöse Botschaft gerade selbst ins Absurde dreht, gegen sich selbst gerichtet. Eher über lang als über kurz graben sich die Religionen in ihrem Machtrausch den Boden ab, auf dem sie entstanden sind. Sie merken nicht, dass sie sich mit den Kräften verbündet haben, die sie in ihren Predigten als den Teufel brandmarken. 

Menschen, die sich nicht von Absolutheitsansprüchen verführen und blenden lassen, wenden sich mit Abscheu von der Heuchelei und Verlogenheit von Religionen ab, die Wasser predigen und Blut trinken. Aufrechte und würdebewusste Menschen können nur glauben, was glaubhaft ist, was also von ethischer Integrität getragen ist. 

Gesellschaftlicher Bedeutungsverlust und spiritueller Gewinn

Die Krise des Christentums in den aufgeklärten Ländern West- und Nordeuropas hat mit den inneren Widersprüchen zu tun, die aus der Vermischung relativer Machtansprüche mit der absoluten Botschaft entstanden sind.  In der Rückbesinnung auf den ursprünglichen Verkündigungsauftrag haben sich diese Kirchen einerseits mehr der Mystik, also der direkten Erfahrung des Absoluten, und andererseits der Caritas, der Vermenschlichung des Absoluten im Einsatz für die Hilfsbedürftigen und Schwachen der Gesellschaft zugewandt und sind dadurch wieder glaubhaft geworden.

Der Deutungs- und Bedeutungsverlust der Religionen als Folge der Religionskritik der Aufklärung ist ein Prozess, der für die Vermenschlichung der Gesellschaften unabdingbar ist. Es handelt sich um eine Art der Gesundschrumpfung. Erst dann, wenn sich die Religionen auf ihren von ihren Stiftern vorgegebenen Weg der Liebe und Demut zurückbegeben, können sie den Menschen eine Orientierung anbieten, die sie aus der Gewaltbereitschaft zur Friedfertigkeit führt.

Die Religionen haben nur eine Zukunft, wenn sie sich bedingungslos auf die Seite der Friedensstifter stellen und in Kriegen nie auf der Täter-, sondern immer auf der Opferseite stehen. Indem sie auf alle Machtansprüche verzichten, können sie ihre Kräfte dem Dienst an den leidenden Menschen widmen. Sie gewinnen dadurch die ethische Integrität, mit der sie gegen alle destruktiven Strömungen auftreten können. Sie werden zu Vertretern der menschlichen Vernunft und unterstützen die Projekte der Vermenschlichung gegen die Egoismen. 

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriege entstehen in den Köpfen
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?

 

Dienstag, 29. Juli 2025

Die Erweiterung der Grenzen der Normalität

Unter Normalität verstehen wir oft das, was unseren Gewohnheiten entspricht. Passiert etwas, das wir nicht erwartet haben, erscheint es als abnormal, gleich ob es sich um eine positive oder eine negative Überraschung handelt. Werden Erwartungen enttäuscht oder unterbrochen, so entsteht ein Raum für neue Perspektiven, ein Gewinn an Freiheit.

Die Hilfsfunktion der Gewohnheiten und ihre hindernde Rolle 

Die Gewohnheiten der Normalität erleichtern uns die Verrichtung von Alltagsgeschäften. Gewohnheiten nützen uns, um im Fluss bleiben zu können, wenn es darum geht, Entscheidungen einsparen zu können. Denkgewohnheiten können allerdings hinderlich werden, wenn sie nicht zu neuen Ideen weiterführen, sondern im Kreis laufen. 

Am deutlichsten und eindringlichsten kann dieses Phänomen bei Zwangsneurotikern beobachtet werden. Ihr Denken produziert ständig Zweifel und Selbstzweifel, die den Geist und das Handeln gefangen halten. Es sind Gedanken, die von Ängsten dirigiert werden, die aus dem Unterbewusstsein kommen. Zwanghaft ablaufende Gedanken sollen Sicherheit geben, aber es kann sich nur um eine scheinbare Sicherheit handeln. Denn dieses Denken kann keine Sicherheit geben, weil es ein Sklave der Angst ist. Die Angst diktiert und das Denken erzeugt Rituale, damit die Angst gebannt wird. Aber das Zwangsritual beruhigt die Angst nur kurz. Sobald das Ritual beendet ist, ist die Angst wieder da, und oft muss dann das Ritual immer wieder von neuem begonnen werden. 

An der Unfreiheit, unter der Zwangserkrankte leiden, können wir ablesen, was uns zu mehr Freiheit verhilft. Wenn wir gewohnte Routinehandlungen durchbrechen oder Grenzen überwinden, die uns durch Normen diktiert sind, geraten wir in den Bereich der Verrücktheit – vielleicht in den Augen der anderen, die uns nur in der Schablone unserer Gewohnheiten kennen, aber auch im wörtlichen Sinn: Wir haben etwas in uns von seinem angestammten Platz auf einen neuen Platz verrückt, verschoben und damit eine neue Ordnung erschaffen. Freiheit besteht auch darin, alte Muster abzulegen und neue zu erwerben. Jedes neue Muster, jede neue Gewohnheit steht im Dienst der Erweiterung unserer Freiheitsräume, innerlich und äußerlich. Wenn wir beispielsweise neue Bewegungen über Routinehandlungen wie dem Gehen oder Händewaschen ausprobieren, fördern wir die Flexibilität unseres Körpers und auch unseres Denkens. Wir werden für neue Impulse offen.

Die Huu-Atmung

Eine gute Übung zum Erwerben dieser Flexibilität stellt der Huu-Breath dar. Es handelt sich um eine Bewegungsübung, die mit der bewussten Wahrnehmung der Atmung beginnt. Die Aufgabe dabei lautet, sobald man merkt, dass ein Bewegungsablauf stereotyp wird, etwas daran zu ändern. Es soll also jede Routine sofort im Keim erstickt und jeder Moment neu gestaltet werden. Begonnen wird mit der Atmung, die in jeder beliebigen Weise variiert wird. Dann kommt nach und nach der Körper mit all seinen Bewegungselementen dazu. Gegen Ende der Übung werden die Bewegungen immer kleiner, bis sie von außen gar nicht mehr wahrnehmbar sind. Das Prinzip bleibt aber gleich: Variationen einführen, sobald etwas zur Routine wird. Natürlich gelingt es nicht immer sofort, die ablaufende Bewegung zu variieren, aber mit jeder Variation gewinnt die Freiheit immer mehr Raum. Ein beweglicher und variantenreicher Körper bildet sich in einem beweglichen und variantenreichen Kopf ab, der die unterschiedlichsten Perspektiven und Sichtweisen einnehmen kann.

Atemsitzungen und neuronale Plastizität

Intensives Atmen wie bei Atemsitzungen stellt ebenso ein Training in der Flexibilität dar. Wenn wir über einen längeren Zeitraum unsere Atmung aus der Gewohnheitszone herausführen und tiefer und schneller atmen, ändern sich viele Parameter in unserem Nervensystem. Unser Körper lernt dabei, seine Mechanismen variabler einzusetzen und an die Erfordernisse der Außenwelt anpassen. Es sinkt der Kortisolspiegel im Allgemeinen, während er bei akuten Herausforderungen an das Immunsystem schneller aktiviert wird. Sympathikus und Parasympathikus werden in der Abstimmung aufeinander und dem harmonischen Wechsel ihrer Aktivitäten trainiert.  Die Steigerung der Herzratenvariabilität, die als Folge einer kontinuierlichen Atempraxis gemessen wurde, ist ein Hinweis darauf, dass das Herz lernt, sich flexibler an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. 

Aus Forschungen über die Wirkung von psychedelischen Substanzen weiß man, dass sie die Fähigkeit des Gehirns drastisch verbessern, sich neu zu verdrahten, also neue Verbindungen aufzubauen, sprich Kreativität zu ermöglichen. Der Hauptgrund liegt anscheinend in der Aktivierung des Serotoninsystems im Gehirn. Es gibt bezüglich der Atemarbeit noch keine vergleichbaren Studien, doch belegen andere Studien, dass es in Atemsitzungen zu ähnlichen Bewusstseinszuständen und Gehirnveränderungen kommt wie bei psychedelischen Erfahrungen. 

Durch vertieftes Atmen werden die Gehirnzentren, die das von Gewohnheiten gesteuerte Alltagsverhalten aufrechterhalten, in ihrer Aktivität reduziert. Es entstehen chaotische Zustände mit unvorhersehbaren neuen Impulsen. Neuronen verdrahten sich miteinander in neuer Weise, und das bis zu einem Level, das man normalerweise nur bei Kindern beobachten kann. Es wird also viel Raum für Kreativität geschaffen, neue Sichtweisen können leichter übernommen werden und die Identifikation mit der eigenen Persönlichkeit und ihren Gewohnheiten wird schwächer.

Innere Freiheit durch konstantes Variieren

Je weiter die Grenzen unserer Normalität gesteckt sind, desto mehr Phänomene der Wirklichkeit können wir akzeptieren und wertschätzen. Je freier unser Geist ist, desto besser können wir mit der Wirklichkeit und ihren Herausforderungen umgehen. Jeder Gewinn an freier Bewegung ist ein Gewinn an freiem Denken. Wir lösen uns auch von den Gewohnheiten unserer Wahrnehmung, indem wir die Welt um uns herum auf neue Weise anschauen und ihr auf neue Weise zuhören. Wir gewinnen durch diese Flexibilität mehr Zugänge zur Schönheit des Universums und zum Reichtum der Innenwelt in uns und in allen anderen.

Zum Weiterlesen:
Die guten und die schlechten Gewohnheiten
Flexibilität und Ego-Entmachtung
Die Neugier und die Kreativität
Über das Verrückte und das Verrücken
Atembewusstheit und Flexibilität


Sonntag, 20. Juli 2025

12 Aspekte des Verschwörungsglaubens

Ich habe eine Liste von zwölf Aspekten zum Verschwörungsglauben von Goetz Hardy gefunden. Sie macht viel von diesen Phänomenen verständlich, die immer wieder auftauchen und das Denken von vielen Menschen beherrschen. Vor allem rechtsgerichtete Politiker greifen diese Theorien auf und rekrutieren damit ihre Wählerschaft. Auf diese Weise geraten Verschwörungstheorien in zunehmend mehr Ländern in die höchsten Stellen der Regierung und Verwaltung. Solche Politiker machen sich zu Fürsprechern und Verbreitern von irrationalen Überzeugungen, mit der Folge, dass sich die Politik immer mehr von der Wirklichkeit abkoppelt. 

Warum orientieren sich viele Menschen nicht an den Fakten und gesicherten Erkenntnissen über die Wirklichkeit, sondern bevorzugen grobschlächtige und faktenferne Theorien zur Welterklärung, die von Ungereimtheiten nur so strotzen? Was macht die Attraktivität von Vereinfachungen und Schwarz-Weiß-Schemen aus?

Verschwörungsmythen füllen eine wichtige stabilisierende Funktion für Menschen aus, die sich in der Welt unsicher und ohnmächtig fühlen. Der Preis liegt allerdings im Realitätsverlust und oft auch im Verlust von sozialen Kontakten mit jenen, die den Glauben nicht teilen. Die Fähigkeiten zu Selbstkritik und Reflexion verkümmern ebenso wie die Pflege von konstruktiven Gesprächen und Konfliktlösungen. Starrheit und Dogmatik kennzeichnen die Weltbilder der Verschwörungsgläubigen.

Die Auseinandersetzung mit den hintergründigen Mechanismen, die solche Phänomene antreiben, kann dazu helfen, besser mit Menschen mit solchen Überzeugungen umgehen zu können als auch darüber nachzudenken, wo eigene Anfälligkeiten zu solchen Theorien liegen könnten.

Ich habe die folgende Liste von Goetz Hardy übernommen und mit neuen Kommentaren versehen. Hier der Link zum ursprünglichen Text.

1. Illusorische intellektuelle Überlegenheit:

Weniger gebildete Menschen halten sich durch die Übernahme eines Verschwörungsglaubens für schlauer, intelligenter und anderen überlegen. Der Grad an Bildung ist ein Unterscheidungsmerkmal in der Gesellschaft; wer weniger davon hat, wird abgewertet oder fühlt sich abgewertet und schämt sich. Ein einfaches Erklärungsmodell für das komplexe Funktionieren der Gesellschaft, wie es Verschwörungstheorien anbieten, verschafft einen Ausgleich für solche Minderwertigkeitsgefühle und Schamgefühle und hilft, sie ins Gegenteil zu verkehren: Mehr zu wissen als die, die nur in einem Herdendenken gefangen sind, gibt ein Gefühl der Überlegenheit und bietet die Gelegemheit sich überheblich seines Scheinwissens zu brüsten.

2. Moralische Selbstaufwertung:

Menschen mit geringem Selbstbewusstsein stilisieren sich als Opfer und fühlen sich moralisch überlegen. Ein Kennzeichen von Verschwörungstheorien liegt in der Einteilung der Welt in Täter und Opfer. Jene, die die bösen Mächte, die alles beherrschen oder beherrschen wollen, erkannt haben, fühlen sich auf der Seite der Guten, als Kämpfer gegen das Böse und gegen alle, die den Bösen blind folgen. Sie überwinden scheinbar ihre Ohnmacht durch die Überzeugung, dass sie aus der Opferrolle entkommen können, weil sie die Täter bekämpfen können und zumindest jemanden unterstützen, der als Rächer für die Opfer auftritt.

3. Sinnstiftung und Orientierung:

Der Glaube liefert einfache Erklärungen und klare Unterscheidungen zwischen „Gut“ und „Böse“. In einer komplexen Welt gibt es viele Ambivalenzen und Ambiguitäten, die die Orientierung und Sinnfindung erschweren. Zu jedem Für gibt es ein Wider, bei jeder Lichtgestalt finden sich Schattenseiten. Es ist beschwerlich, die Widersprüchlichkeiten der Menschen und ihrer Motive und Werte auszuhalten. Da hilft eine einfach gestrickte Zuordnung von Gut und Böse, von Opfer und Tätern und von Licht und Schatten.

4. Gruppenzugehörigkeit und Identität:

In der Blase sind alle einer Meinung und bestätigen sich gegenseitig die Richtigkeit der Überzeugungen und die Notwendigkeit des Engagements. Es sind sektenähnliche Gebilde, in denen sorgsam darauf geachtet wird, dass es keine abweichenden Sichtweisen gibt. Denn Meinungsverschiedenheiten bedrohen das Zusammengehörigkeitsgefühl. Deshalb müssen Zweifel an der Theorie, die dem Gruppenzusammenhalt zugrunde liegt, unterbunden werden. Auf diese Weise bauen die „Glaubensgemeinschaften“ der Verschwörungsanhänger ähnliche Strukturen auf wie sie bei jenen vermutet werden, die sich zum Unheil der Welt verschworen haben sollen: Geheimnisvoll und intransparent.

5. Scheinbare Handlungsmacht:

Wenn wir wissen, wo die Gefahr lauert, können wir etwas dagegen unternehmen. Ungewisse Bedrohungen ohne bekannte Urheber sind besonders schwer auszuhalten. Deshalb erleichtert es, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, wenn die möglichen Täter namhaft gemacht werden. Verschwörungstheoretiker stellen diesen Dienst zur Verfügung.

6. Abwertung anderer:

Wer der Theorie nicht folgt, ist borniert oder gehirngewaschen. Oft ist die Rede von der blinden „Masse“, die nur nachbetet, was der „Mainstream“, also der Glaube der Durchschnittsmenschen, vorgibt. Vernünftig kann nur sein, wer derselben Glaubensrichtung folgt. Die Unvernünftigen sind selbst schuld an ihrem Unglück als Folge ihrer Verblendung.  

7. Vermeidung von Kritik:

Kritik an der Verschwörungstheorie wird nicht zugelassen. Sie wird mit dem Argument abgeschmettert, dass jeder, der die Theorie bezweifelt, mit den Verschwörern unter einer Decke steckt oder ohne Wissen deren Spiel treibt. Verschwörungsanhänger schotten sich ab wie Paranoide, die überall ihre Feinde sehen und jede Infragestellung als von diesen gelenkt erleben. Eigene Probleme und Verantwortlichkeiten werden auf „die da oben“ projiziert, die nur ihre Macht und ihre korrupte Bereicherung im Auge haben. 

8. Kognitive Entlastung:

Komplexe Sachverhalte werden durch einfache Erzählungen ersetzt, die leicht zu verstehen sind. Die „Arbeit des Begriffs“ nach Hegel, also das sorgfältige Nachdenken und Reflektieren, wird vermieden. Es ist anstrengend und erfordert Mühe und auch ein gewisses Bildungsinteresse, nicht einfach blind irgendwelchen Quellen zu vertrauen und jeder noch so weit hergeholten Geschichte auf den Leim zu gehen. 

9. Gefühl von Exklusivität:

Geheimnisse, zu dem man selbst Zugang hat und andere nicht, sind ein Schatz, der Sicherheit verheißt und auf den man stolz sein kann. Man gehört zur Gruppe der Auserwählten, die auf die Naivlinge und Unwissenden verächtlich herunterschauen können. Dieses Gefühl der Überlegenheit dient als Ausgleich für einen mangelhaften Selbstwert.

10. Verstärkung bestehender Ressentiments:

Verschwörungstheorien bauen immer auf schon bestehenden Stereotypen und Vorurteilen auf. Das ist der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Die uralte Masche des Antisemitismus findet sich deshalb in vielen solchen Theorien. Umgekehrt ist der Antisemitismus vielleicht die am längsten dienende Verschwörungstheorie. Deshalb sind antijüdische Vorurteile in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet, und Theorien über die Weltverschwörung, an denen Juden beteiligt sind, erreichen alle, die schon antisemitisch geprägt sind. Außerdem liefern solche Theorien die moralische Rechtfertigung für die eigenen Vorurteile, denn sie scheinen angesichts der fantasierten massiven Bedrohung berechtigt. 

11. Projektionsfläche für Ängste und Aggressionen:

Eigene negative Gefühle können auf imaginäre Gegner gerichtet werden. Projektionen bilden die emotionale Munition von Verschwörungstheorien. Es handelt sich um unbewusst ablaufende Mechanismen, bei denen Frustrationen aus der eigenen Lebensgeschichte, emotionale Verletzungen und Demütigungen nach außen hin entladen werden können. Die Theorie weiß um die wahren Täter, und damit verschränkt sich das Täter-Opfer-Muster. Das unangenehme Opfergefühl muss um jeden Preis umgedreht werden, und für diesen Zweck ist jeder Hass und jede Gewalt gegen die bösen Täter erlaubt und notwendig.

12. Verschiebung von Angst und Bedrohung:

Es gibt eine Reihe von realen Gefahren, die die Menschheit bedrohen – die vielfältigen Schädigungen an der Umwelt, die Erderwärmung und die damit verbundene Klimaveränderung und davon ausgelöste Naturkatastrophen, Hunger in weiten Bereichen der Erde, soziale Ungleichverteilung und Kriege. Auch Seuchen können jederzeit ausbrechen. Dazu kommt, dass das individuelle Leben vielen Risiken ausgesetzt ist: Jobverlust, Beziehungsabbrüche, Krankheiten, Armutsbedrohung usw. Verschwörungsmythen bieten Gegner an, die als Quelle aller Bedrohungen angesehen werden und deren Eliminierung dann Sicherheit auf allen Ebenen bringen wird. Die Gegner befinden sich zwar zumeist in der „Deckung“ – es sind z.B. irgendwelche Eliten oder ein „tiefer Staat“, gekaufte Wissenschaftler oder korrupte Politiker, Geheimzirkel oder dunkle Gestalten in finsteren Hinterzimmern. Aber die Einsichten der Theorie bringen sie ans Tageslicht und alle anderen Krisenerscheinungen können dann auf die „wahren Bösewichter“ zurückgeführt werden, während die politische Gruppierung, die die Mythen teilt, von allen Makeln reingewaschen wird. 

Zum Weiterlesen:
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Verschwörungstheorien zwischen Wahn und Normalität



Freitag, 11. Juli 2025

Ich weiß besser als du, was für dich gut ist

Bei dem Satz: „Ich weiß besser als du, was für dich gut ist“ handelt es sich um eine subtile Variante der Formel, mit Bösem Gutes schaffen zu wollen. Das Böse ist in diesem Satz nicht aufs Erste sichtbar, scheint er doch von wohlmeinender Fürsorge auszugehen: „Da ich es gut mit dir meine, muss ich dir sagen, was für dich gut und was schlecht ist.“ Allerdings findet eine Grenzüberschreitung statt, die nicht aus der Liebe sondern aus einem Machtanspruch kommt: „Ich weiß besser über dein Innenleben Bescheid als du selbst. Deshalb kann ich bestimmen, wie du dein Leben leben sollst.“

Es handelt sich also um Bevormundungen, wenn dieser Satz fällt. Sie erscheinen in der Regel wohlgesonnen – sie meinen es gut mit der angesprochenen Person. Doch kommen sie schlecht an, weil sie verletzende Abwertungen enthalten, vor allem die Unterstellung, selbst nicht zu wissen, was hilfreich und gut für das eigene Leben ist, und keine Verantwortung übernehmen zu können. Sie stammen aus einer überheblichen Position, aus der wie bei einer Entmündigung mit dem Innenleben des Kindes umgegangen wird. 

Die Unterscheidung zwischen innen und außen

Eltern wissen natürlich in vielerlei Hinsicht besser als die Kinder, was für sie gut ist. Sie haben ein weitgespanntes Wissen über die Funktionsweise in der äußeren Erwachsenenwelt, das sich die Kinder schrittweise aneignen. Es ist besser für das Kind, wenn es nicht auf die Straße läuft, obwohl es den Impuls dazu hat. Es ist gesünder, nur wenig Süßigkeiten zu essen, obwohl ihm das schmeckt. 

Wichtig ist die Unterscheidung, was die Außenwelt und was die Innenwelt anbetrifft. Denn manche Eltern neigen dazu, ihr überlegenes Wissen bezüglich der äußeren Welt auf die Innenwelt des Kindes zu übertragen, also auf die Gefühle, Bedürfnisse und Interessen des Kindes. Dort kommt es zu Grenzüberschreitungen, die auf das Kind herablassend und entmündigend wirken. Sie melden Herrschaftsansprüche über das Innere des Kindes an und berauben es eines Teiles seiner Innenwelt. Selbst wenn Eltern ihre Kinder besser kennen als alle anderen Menschen, verfügen sie nie über sicheres Wissen über deren Innenleben so, wie sie ein angemessen sicheres Wissen über die Außenwelt haben können. Sie geben vor, die Experten für das Innenleben des Kindes zu sein und maßen sich die Deutungshoheit über die Seele des Kindes an. Damit nehmen sie dem Kind ein Stück seines Selbstbezuges weg, seines inneren Sinnes, der ihm sagt, was gut ist und was nicht. An die Stelle des Selbstbezuges tritt eine Beziehung zwischen einer verinnerlichten Elterninstanz und den eigenen Bedürfnissen und Strebungen. 

Folge von narzisstischen Kränkungen

Solche unbewusst wirkende Tendenzen der Eltern, die Innenwelt ihres Kindes umzudeuten und in Besitz zu nehmen, stammen aus narzisstischen Prägungen. Es sind Tendenzen zur Erweiterung des eigenen Selbst in das Selbst des Kindes hinein, dem damit ein Stück seiner Innerlichkeit weggenommen wird. Statt des Eigenen wird Fremdes eingepflanzt. Solche narzisstischen Übergriffe unterlaufen Eltern, deren Selbstbezug durch Manipulationen und andere Grenzüberschreitungen in der Kindheit geschwächt wurde. Der Mangel an Selbstgefühl, der daraus folgt, führt dann dazu, sich den Mangel an Selbstgefühl von den eigenen Kindern zurückzuholen. Auf diese Weise setzen sich die narzisstischen Muster von einer Generation zur nächsten fort. 

Eine Form dieser Übergriffe besteht darin, dass etwa die Eltern ihren Nachkommen eine Berufswahl aufdrängen wollen, weil sie ja besser wüssten, was für sie geeignet wäre. Der Nachkomme, der sich danach richtet, weil er gelernt hat, das eigene Für-richtig-Halten geringzuschätzen, ergreift dann den Wunschberuf der Eltern und fühlt sich unglücklich damit oder führt ihn schlecht aus. Es kann sein, dass sich irgendwann später das verdrängte Innere meldet und auf einen Berufswechsel drängt. Dann ist ein Teil der eigenen Innerlichkeit wieder zurückgewonnen.

Respekt für die Innenwelt 

Eltern, die die Innenwelt ihrer Kinder ernst nehmen und respektieren, helfen ihnen, ein gutes Fundament für eigene Willensentscheidungen und Lebensorientierungen zu bilden. Das Kind braucht die Sicherheit, von den Eltern in seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen angenommen zu sein. Dann kann es auf dieser Basis seine eigenen Werte entwickeln und ihnen gemäß leben. Natürlich können die Eltern immer wieder Hinweise und Ratschläge geben, die dem Kind helfen, andere Perspektiven einnehmen und Alternativen mitbedenken zu können. Aber sie brauchen die Achtsamkeit und die Achtung, dem Kind Entscheidungsspielräume zur Verfügung zu stellen, in denen es seine Bestrebungen ausleben kann und Erfahrungen mit dem Durchführen von Willensakten sammelt. Es wird sich dann auch später im Leben leichter tun, aus der Vielzahl an Angeboten für ein gelingendes Leben das für es individuell passende herauszufinden.

Zum Weiterlesen:

Donnerstag, 10. Juli 2025

Böses tun, um Gutes zu bewirken?

Böses zu tun, um Gutes zu bewirken, kommt in jeder Strafe vor. Das Gute, falls es wirklich dazu kommt, ist in der Folge untrennbar vom Schatten des Bösen belastet. Kinder, die bestraft werden, nehmen die Strafe als böse war, als etwas, das sie verletzt und beschämt. Das ist ja auch der Sinn der Strafe – sie soll schmerzhaft und nicht angenehm spürbar sein, um eine Wirkung zu erzielen. Eine Woche Hausarrest ist keine Strafe für ein Kind, das ohnehin nie draußen spielen will. Eine Woche Handyverbot schmerzt hingegen ein Kind, das glaubt, ohne das Gerät nicht mehr leben zu können. 

Für das Opfer der Strafe ist auch die bestrafende Person im Moment der Frustration böse. Allerdings ziehen vor allem kleine Kinder in der Folge den Schluss, dass sie selbst die Bösen sind, wenn sie bestraft werden, auch und gerade wenn sie den Sinn der Strafe nicht nachvollziehen können, weil sie nicht verstehen, was sie falsch gemacht haben. Da sie aber die Erwachsenen nicht ohne Grund für klüger halten als sie selbst, nehmen sie an, dass die Eltern schon einen Grund haben werden, warum sie das Kind bestrafen. Oft rechtfertigen Erwachsene die Strafen, die sie als Kinder erhalten haben, damit, dass es die Eltern gutgemeint hätten, und tun sich schwer, etwas Unangemessenes an der Strafe zu finden. Sie nehmen also die Eltern in Schutz, weil sie als Kinder gelernt haben, dass ein Aufbegehren gegen die Strafe sinnlos ist und zu weiteren Strafen oder zu Liebensverlust führt.

„Aus Liebe spare nicht mit der Rute.“

Aus dem Alten Testament stammt ein Zitat, das die Pädagogik in Richtung Gewalt beeinflusst hat: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Spr 13,24) In alten patriarchalen Kulturen war es Usus, vor allem Knaben mit Gewalt zu bestrafen – aus diesem Hintergrund stammt dieses Zitats. Die Buben sollten für das Aushalten von Schmerz und für die bedingungslose Unterordnung unter eine Autorität trainiert werden; ihren Hass und ihre Aggressivität als Folge der Demütigung durch die Bestrafung sollten sie im Krieg und gegenüber Frauen ausleben dürfen. Doch bis heute berufen sich evangelikale Kreise in den USA auf diese Formel und praktizieren sie. In der Folge lernen die Kinder, autoritätshörig zu werden und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu bejahen, womit sie dann als Erwachsene in rechten und rechtsextremen Parteien ihre politische Orientierung finden.

Formung von Autoritätshörigkeit und Hassprojektion

Wohl kann dieses Zitat aus der Bibel frei so übersetzt werden, dass es zur Liebe zu einem Kind gehört, ihm Grenzen zu setzen und zur Formung von Disziplin und Selbstdisziplin anzuleiten. Allerdings steckt im Wort der Züchtigung die Zucht, also das willkürliche und u. U. gewaltvolle Anpassen von anderen, im Sinn von: Du musst dich nach meinen Erwartungen richten und sollst dich so verhalten, wie ich es will. Der Wille der anderen Person wird übergangen und, vor allem, wenn Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Vorstellung angewendet wird, gebrochen. Das Kind leidet unter der Gewalt, und oft wird ihm zusätzlich noch das Ausdrücken des Leides verboten und aberzogen. Damit wird auch eine Grundlage dazu bereitet, dass später die unterdrückten Gefühlen nach außen projiziert werden, weil sie kein anderes Ventil finden – Hass gegen Minderheiten, Schwächere, Leidende. Das Wählerreservoir für rechte Parteien wird aus Menschen mit solchen Lebensgeschichten gespeist. 

Politiker, die mit dieser Masche Propaganda betreiben, appellieren an Menschen, die den Zusammenhang von bösen Mitteln für einen (vermeintlich) guten Zweck in ihrer Kindheit eingeprägt haben, und die gelernt haben, ihn mit liebevoller Erziehung zu verwechseln. Solche Politiker präsentieren sich als Bösewichter gegenüber Feinden oder Feindbildern und als liebevolle Menschen gegenüber jenen, die sie verehren und ihnen folgen. Sie werden von Menschen bewundert, die aus ihrer Kindheit beides kennen: Eltern, die gleichermaßen böse und liebevoll sind, die es aber verstanden haben, ihr Böses als Ausdruck von Liebe zu tarnen. 

Besserwissen ohne Beschämung

Es ist nicht böse sondern oft notwendig, wenn Eltern ihren Kindern Grenzen setzen, auch wenn sich diese dadurch verletzt fühlen und die Eltern spontan als Bösewichter empfinden. Wenn die Eltern aber die Verletzung, die sie dem Kind mit einem Verbot oder einem Verzicht zumuten, ignorieren oder zusätzlich noch abwerten („Führ dich nicht so auf!“) oder bestrafen („Wenn du so schreist, mag ich dich nicht mehr.“), dann muss das Kind lernen, seine Verletzung zu vergraben und sich zu fügen. Das Böse, das ihm angetan wurde, darf nicht böse sein. Die Eltern stehen als die Guten da, die nur das Beste des Kindes im Auge haben, nach dem Motto, dass der Zweck das Mittel heiligt, und an diesem (Schein-)Heiligenschein darf nicht gerüttelt werden. 

Achten die Eltern hingegen die Gefühle und die Interessen des Kindes, ohne dass sie sich ihnen unterordnen, dann lernt das Kind, dass es frustriert sein darf und dass es diese Gefühle frei ausdrücken darf. Die Gefühle gehen nach einiger Zeit vorüber, ohne dass die Liebe der Eltern unterbrochen wird. Das Kind hat die Chance zu erkennen, dass es mit der Grenze, die ihm von den Eltern auferlegt wurde, leben kann und dass es nicht darunter leiden muss. In dem Maß, wie der Wille des Kindes respektiert wird, erlernt es den Respekt für den Willen der Erwachsenen. Erziehung gelingt in dem Maß, in dem die Liebesbeziehung zwischen den Eltern und dem Kind auch in Konfliktsituationen aufrecht bleiben kann und Frustrationen aushalten kann. Das Erlernen von Frustrationen ist ein wichtiger Schritt im emotionalen Reifungsprozess.

Zum Weiterlesen:
Die vielen Guten und die wenigen Bösen
Moralischer Fortschritt


Dienstag, 8. Juli 2025

Die vielen Guten und die wenigen Bösen

Viele, viele Menschen sind grundsätzlich gegen Krieg, Unterdrückung, Hunger, Ungerechtigkeiten und Ausbeutung eingestellt. So verhalten sich Menschen im Normalfall. Sie wollen das Gute und lehnen das Böse ab. In Einzelfragen gibt es Unterschiede, und bei moralischen Fragen tauchen oft auch widerstreitende Meinungen auf. Doch geht es dabei um unterschiedliche Auffassungen von dem, was unter dem Guten verstanden wird.

Wir haben es nur mit einer kleinen Gruppe von Personen zu tun, die voller Überzeugung Hass und Gewalt in Wort und Tat propagieren und ausleben. Es sind Menschen voll innerer Verbitterung und Verzweiflung, die es geschafft haben, sich einen Habitus von Stärke und Durchsetzungskraft zu geben und damit andere zu beeindrucken. 

Damit erwecken sie bei vielen den Eindruck, dass es sinnvoll ist, dem Guten mit Hass und Gewalt zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Es sind die Ängstlichen und Verschämten, die sich verblenden lassen und die Nöte der Hetzer und Unverschämten nicht durchschauen. Vielmehr erhoffen sie sich von den Hasspredigern Abhilfen für ihre eigenen Ängste und Nöte. 

Deshalb schaffen es immer wieder viele der von Bosheit getriebenen Menschen, in verantwortungsvolle Machtpositionen zu gelangen. Dort richten sie großes Unheil an, in der Überzeugung, damit letztendlich dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Ihre menschenverachtenden und Zerstörung bewirkenden Taten versuchen sie durch Manipulationen und Wahrheitsverdrehungen zu verschleiern. Sie rechtfertigen das Böse, das sie tun, mit der moralisch verbrämten Überzeugung, es wäre der einzige Weg zur Verbesserung der schlechten Zustände. 

Tue Böses, damit daraus Gutes erwachse

Die Formel: Tue Böses, damit daraus Gutes erwächst, spielt eine zentrale Rolle bei der Popularisierung von Hass und Gewalt. Sie hat ihre Wurzel in gewaltvoll agierenden Erziehungspraktiken, die davon ausgehen, dass Kinder von Natur aus böse sind und von Anfang an gemaßregelt werden müssen. Mehr dazu im nächsten Blogartikel.

Eine überwältigende Mehrheit will das Gute und nur wenige das Böse, aber allzu viele nehmen das Böse hin, ohne sich dagegen zu wehren oder folgen ihm sogar, weil sie dadurch Besseres erhoffen. Dennoch haben wir viel Grund für die Hoffnung, dass es Erscheinungen sind, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, aber dann wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein. 

Allerdings haben es allzu viele von diesen Menschen in verantwortungsvolle Positionen geschafft, mit Unterstützung der Ängstlichen und Verschämten, denen sie Abhilfen für ihre Nöte versprochen haben. Das Unheil, das von solchen Manipulatoren angerichtet wird, ist groß. Fällt die Politik auf eine archaische Ebene zurück, so entstehen unweigerlich massive Spannungen in der Gesellschaft. Das ganze Gefüge beginnt zu krachen, weil die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kräfte nach vorne ziehen, während die Politik mit aller Macht versucht, in die andere Richtung zu zerren.

Rückwärtsgewandte Ideologien können keine Zukunft gestalten

Wir haben trotz zahlreicher gegenteiliger Vorkommnisse, Grund für die Hoffnung, dass die manifesten Erscheinungen von bösen Taten, die sich mit aller Macht in den Vordergrund drängen, wieder zurücktreten müssen, wenn sich die anderen fortgeschrittenen Kräfte gesammelt haben. Denn die Rückschritte in der Moral und in den (Menschen)rechten auf ein mittelalterliches Niveau (vgl. die Propagierung des "Rechts des Stärkeren") können nicht von Dauer sein, weil sie kein Lösungspotenzial enthalten, sondern die Probleme nur verschärfen. Z.B. kann mit dem Prinzip „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ kein Handel und Güteraustausch betrieben werden. Mit Machtausübung können keine Konflikte nachhaltig gelöst werden. Mit Schuldzuschreibungen statt Verantwortungsübernahme für eigene Fehler wird das Lernen unterbunden. Mit dem Hass auf Minderheiten kann keine globale Verständigung aufgebaut werden. Die Ablehnung der Verantwortung in Bezug auf die Zukunft der Umwelt führt dazu, dass die Kosten für die entstandenen Schäden umso größer werden.

Ab einem gewissen Grad an Zerstörung, der durch solche Rückentwicklungen angerichtet wird, wird immer mehr Menschen bewusst, dass sie durch das Tun des Bösen zum Zweck des Guten stärker verlieren als gewinnen. Der Widerstand wird schließlich so mächtig, dass sich die Kräfte des Fortschritts durchsetzen.

Die menschlichen Bestrebungen, die Lebensbedingungen zu verbessern, sind langfristig übermächtig 

Viele maßgebliche Entwicklungen schreiten voran, in der Wirtschaft, Technologie, im Sozialleben und in den Künsten. Sie sind angetrieben vom Bestreben nach der Verbesserung des Lebens. Sie führen unweigerlich zu mehr globaler Zusammenarbeit und beruhen auf ethischen Maßstäben, die von gegenseitigem Respekt und von der Achtung für die individuellen Unterschiede geprägt sind. Die meisten Bereiche stehen in globalen Zusammenhängen, sodass eine Politik, die auf kleinräumige oder auf die Vergangenheit gerichtete Interessen bezogen ist, keine Lösungen und Weiterentwicklungen anbieten kann, sondern an den Realitäten scheitern muss. Das Nationale hat keine Zukunft, wenn die Wirtschaft und viele Bereiche der Kultur längst die Staatsgrenzen überschritten haben. Das Gestrige liefert kein Verständnis für das Morgige, geschweige denn das Vorgestrige für das Übermorgige. 

Zum Weiterlesen:
Fortschritt trotz Rückschritten
Moralischer Fortschritt
Das "Recht des Stärkeren"