Die Unverschämten, die auf dem Machttrip sind, spüren, dass reflektierte, selbstbewusste und ethisch reife Menschen an dem Ast sägen, auf dem sie sich sesshaft und breit gemacht haben. Um ihr „Stimmvieh“ zu erhalten, das sie an die Macht bringt und dort hält, muss alles verhindert werden, was die Menschen von ihrer Scham befreit, denn nur Schambefangene sind in der Lage, den Unverschämten bedingungslos zu folgen. Also versuchen die unverschämten Machtpolitiker, das Bildungssystem zu ideologisieren, den obrigkeitlichen Gehorsam zu verstärken und jede Form von kritischer Reflexion zu diskreditieren oder zu unterbinden. Sie bekämpfen zu diesem Zweck auch die moderne Kunst und Kultur, die die Menschen aus ihren gewohnten Erfahrungsschienen herausholen und zum Nachdenken und Verändern von Sichtweisen motivieren will. Alles, was die Menschen innerlich freier macht und ihren Horizont erweitert, ist den Unverschämten ein Dorn im Auge. Denn sie wissen, dass ihre Macht darauf beruht, dass es genug Menschen gibt, die auf einem Bewusstseinsniveau verbleiben, das unterhalb oder vor der Aufklärung liegt. Ein zentrales Anliegen der Aufklärung war es ja, jede weltliche und geistliche Autorität auf den Prüfstand der kritischen Vernunft zu stellen und mit diesem Blick viele Emanzipationsbewegungen möglich zu machen. Wer die Prinzipien der Aufklärung verstanden und in die eigene Werthaltung übernommen hat, kann keinem populistischen Demagogen auf den Leim gehen.
Wer die Grundgedanken der Aufklärung nicht verstanden hat oder von zu vielen Ängsten davon abgehalten wird, entspricht hingegen dem Beuteschema der Rechtsdemagogen. Sie versuchen, Leute zu ködern, deren Werthorizont primär in der Stammesvergangenheit der Menschheit wurzelt, wo die Grundregel gilt, den nahen Menschen zu vertrauen und die entfernten oder fremden Menschen als Gefahr oder Bedrohung anzusehen. Solche archaischen Motive führen allerdings in moderneren komplexen Gesellschaften nur mehr zu Gruppenegoismen, die in Demokratien eingedämmt werden müssen, weil sie die Mächtigen und die Reichen auf Kosten der großen Mehrheit begünstigen.
Die Vorläufer der Aufklärung waren Weisheitslehrer und Religionsstifter wie Buddha, Lao Tzu, Jesus und Muhammad. Sie haben den Menschen Mut gemacht, sich aus den Begrenztheiten der tribalen Regeln zu befreien und die Liebe und das Mitgefühl auf eine universelle Ebene zu erweitern. Nicht nur die Nächsten sollen geliebt werden, sondern auch die Fernsten. Das menschliche Mitgefühl hat keine Schranke an der eigenen Haustür, sondern gilt allem, was leidet. Diese Lehrer haben die Wirkung der Scham, die im kleinen Kreis darauf aufmerksam macht, dass wir uns lieblos verhalten haben, auf die gesamte Menschheit und noch darüber hinaus ausgeweitet.
Die Aufklärung hat diese Impulse aufgegriffen und auf eine rationale Ebene gebracht, entkleidet der religiösen Dimension. Damit werden diese ethischen Prinzipien auf die ganze Menschheit hin verallgemeinerbar. Der kategorische Imperativ, den Immanuel Kant ausgearbeitet hat, trug dazu bei, diesen Ansatz zu verbreiten und damit den Gedanken des Weltbürgertums zu verbreiten.
Soziale Scham
Wir schämen uns, wenn wir Bettler sehen oder erfahren, dass Menschen in grausamer Weise deportiert werden. Wir schämen uns, wenn irgendwo auf der Welt ein schrecklicher Krieg tobt und wir es nicht schaffen, Frieden zu stiften. Die Unverschämten haben solche Schamregungen unterdrückt, während die Verschämten an ihrer Scham leiden. Um dieses Leiden zu lindern, schauen sie zu den Unverschämten auf, die ihnen erzählen, dass Bettler organisierte Kriminelle und Immigranten Parasiten sind, gegen die vorgegangen werden muss, um das eigene Volk zu schützen. Über Kriege werden immer wieder verbogene Begründungen hervorgebracht, wie z.B. die nicht vorhandene Nazi-Herrschaft in der Ukraine oder über nicht vorhandene Chemiefabriken im Irak.
Die Unverschämten werden also von den Verschämten als Leitfiguren gesucht, damit sie sich von der Scham und der damit verbundenen Schuld entlasten können. Die Schamlosen geben ihren Anhängern durch ihre demonstrative Unmenschlichkeit die Erlaubnis, die eigene Menschlichkeit über Bord zu werfen und mit zynischer Miene soziale Grausamkeiten und Grauslichkeiten gut zu heißen. Sie erteilen den Verschämten die Absolution aus ihrem scham- und schuldbeladenen sündhaften Dasein, indem sie archaische Formen der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit unter dem Begriff des „Volkes“ reaktivieren.
Tribale Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit
Die Funktionsweise der Demokratie kann nur mit einem aufgeklärten Bewusstsein verstanden werden. Diese Regierungsform, die auch eine Gesellschaftsform darstellt, erfordert das Übersteigen und Überwinden von tribalen Prägungen, die Oxytocin-gesteuert sind, die also die Bindungen zu den face-to-face-Gruppenmitgliedern intensivieren und vertiefen und zugleich das Misstrauen und die Feindschaft gegen alle, die nicht zur Gruppe gehören, verstärkt. Die archaischen hormonellen Einflüsse bewirken, dass Nahestehende bevorzugt und Fernstehende als Bedrohung erlebt werden. Sie fördern das Ausschließen, die Exklusion von allem, was als fremd erlebt wird. Sie sind also antidemokratisch – deshalb waren auch in der ersten bekannten Demokratie im Athen des Altertums Frauen, Unfreie und Zugezogene vom Mitbestimmungsprozess ausgeschlossen.
Die Vernunft als Wegbereiterin des moralischen Fortschritts
Diese Prägungen können nur mit Hilfe der Rationalität, also der Vernunft überwunden werden. Es heißt zwar, die eigene Haut ist einem immer am nächsten, aber eine komplexe Gesellschaft kann nur im Gleichgewicht bleiben, wenn genügend Menschen in der Lage sind, neben den eigenen Vorteilen auch die vieler anderer mitzubedenken. Dazu ist Vernunft von Nöten. Diese menschliche Ressource entwickelt sich durch Bildungsprozesse und verwirklicht sich im Medium des Reflektierens der Lebensumstände mit der Fähigkeit, verschiedene Blickpunkte einnehmen zu können. Sie wurde über 2000 Jahre nach der attischen Demokratie durch die Aufklärung ins Zentrum gestellt und als Maxime für Politik und Ethik eingefordert.
Wenn z.B. eine Gesellschaft die Altersversorgung ausverhandelt, kann das nur gelingen, indem die älteren Leute, die nicht mehr im Arbeitsprozess sind, Verständnis für die Einzahler ins Pensionssystem haben, und die anderen das System des Ausgleichs unterstützen, das ihnen selbst einmal Vorteile bringen wird, obwohl sie aktuell auf einen Teil ihres Einkommens verzichten müssen. Der Sozialstaat beruht also auf der Vernunft. Die Jüngeren zahlen für die Älteren, die Gesunden für die Kranken, die Unbehinderten für die Behinderten, die Besserbemittelten für die Wenigerbemittelten.
Die Scham als Sensorium für mehr Menschlichkeit
Es ist die Scham, die im Hintergrund die Fäden zieht, wenn es um soziale Anliegen geht, indem sie die Mitmenschlichkeit einfordert. Die Scham lässt nicht zu, dass Menschen ausgegrenzt oder schlechter behandelt werden. Sie sorgt für den gesellschaftlichen Ausgleich in Kleingruppen und in demokratischen Regierungssystemen. Mit Unterstützung der Vernunft wird das Schamempfinden von den nahen Bezugsgruppen auf das gesellschaftliche Ganze ausgeweitet: Jedes Mitglied der Gesellschaft verdient die gleichen Rechte und Rücksichtnahmen. Das Leid jedes einzelnen Mitglieds betrifft alle anderen. Aus diesem Blickpunkt der Vernunft sind die Grundsätze von Demokratie und Sozialstaat abgeleitet, die das Ziel verfolgen, möglichst vielen Menschen zu existenzieller Sicherheit und allen zu mehr Wohlstand zu verhelfen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn der Unverschämtheit, die als Egoismus in jedem Gesellschaftsmitglied wirksam ist, effektive Grenzen gesetzt werden. Das Schambewusstsein liefert die emotionale Motivation des Einsatzes für eine menschenwürdige Gesellschaft, in der alle in Gleichheit und Freiheit ihren Platz haben.
Die versuchte Verbannung der Aufklärung ins linke Eck
Ein Propagandatrick der Rechten besteht darin, die Aufklärung als linkes Projekt zu definieren und nicht als einen Fortschritt im Bewusstsein, der allen zugutekommt und der eine konsistente Fortsetzung der Botschaft des Christentums und anderer Religionen darstellt. Mit dieser Zuordnung wird suggeriert, dass es die Alternative gibt, die Aufklärung zu unterstützen und sich damit links zu positionieren und dass man gegen die Aufklärung sein kann, weil man nicht links sein will. Die Aufklärung ist in dieser selbst ideologisch formulierten Zuordnung eine beliebige, von politischen Interessen gesteuerte Angelegenheit, also eine ideologische Festlegung, die von anderen Ideologien bekämpft werden kann oder muss. Der Fortschritt in der Ethik im Sinn einer Universalisierung wird auf diese Weise eingeebnet und zur politischen Meinung degradiert; mehr Menschlichkeit wird als willkürliche Moralisierung abgetan. Damit wird dem Weiterbestehen von Unmenschlichkeiten die Legitimation verliehen.
Es geht dann nicht mehr um einen Zugewinn an Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, der notwendig wäre für die Stabilisierung des gesellschaftlichen und globalen Friedens. Es geht nicht mehr um die Entwicklung einer Ethik, die komplexen modernen Gesellschaftsstrukturen entspricht. Vielmehr wird das Bekenntnis zur Aufklärung in eine Wahl zwischen politischen Alternativen umgemünzt, die mit ihren jeweiligen Ideologien um Anhänger werben. Es wird so getan, als ginge es um willkürliche, interessensgeleitete Veränderungen im Gegensatz zur Bewahrung des Bestehenden, das um jeden Preis verteidigt werden muss wie die Naturheilkunde gegen mRNA-Impfungen. In Wirklichkeit gibt es im Bereich der Ethik ein Besser und ein Schlechter in Hinblick auf die Fähigkeit eines ethischen Systems, kompliziertere Zusammenhänge so regeln zu können, dass möglichst viele Personen zufriedengestellt und soziale Spannungen reduziert werden.
Das Vorgehen der Rechtspopulisten hingegen setzt auf vormoderne oder sogar tribale Modelle der Konfliktregelung, die unter den heutigen Umständen wie die sprichwörtliche Anwendung des Holzhammers wirken. Es gibt immer wieder Beispiele, wo bei sozialen Spannungen schnelle Lösungen durch den Einsatz von Gewalt gewählt werden statt mit den Betroffenen zu reden. Solche plumpe Maßnahmen verschärfen und vertiefen dann nur die Spannungen und bereiten den Boden für noch mehr gesellschaftlichen Unfrieden. Statt zu kalmieren, wird Öl ins Feuer gegossen und auf heftigere Proteste mit noch mehr Gewalt geantwortet – eine eskalierende zerstörerische Entwicklung, die immer mehr Opfer fordert und steigenden Hass hervorruft.
Hinter derartigen Manövern steckt die Ideologisierung des Fortschritts in der Ethik durch den Versuch, dem Einsatz für mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte ein Mäntelchen der Unmoral umzuhängen. Damit wird der ethische Fortschritt in der Gesellschaft behindert und Unheil gesät. Denn wir haben nur die Wahl, die Ethik entsprechend den ökonomischen und sozialen Veränderungen weiterzuentwickeln oder zuzulassen, dass die Lösungsmöglichkeiten für die entstehenden Konflikte unzureichend bleiben.
Zum Weiterlesen:
Die Verschämten, die Unverschämten und die Demokratie
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