Die Inder haben der Zerstörung eine eigene Göttin gewidmet. Denn die Kraft der Zerstörung ist, so seltsam es klingen mag, eine wichtige Kraft in der Weiterentwicklung des Lebens, in der Evolution. Altes geht unter, damit Neues gedeihen kann. Die Natur zerstört Leben und schafft neues Leben. Das Alte geht zugrunde, damit Neues wachsen und gedeihen kann.
Wenn die Natur zerstört, wie z.B. bei einem Erdbeben, so gestaltet sie sich um und gibt sich sofort eine neue Form. Nach einem Lavaausbruch aus einem Vulkan beginnen irgendwann Pflanzen zu sprießen. Das Tragische oder Katastrophale bei solchen Ereignissen liegt „nur“ im Leiden der betroffenen Menschen, die unwiederbringlich ihr Hab und Gut oder ihre Liebsten verloren haben.
Der Natur nachgemacht, kann auch jeder Mensch eine konstruktive Form der Zerstörung anwenden. Er kann in sich spüren, was ihn an sich selbst stört – schlechte Gewohnheiten, behindernde Verhaltensmuster, unethische Charakterzüge. Dann braucht er Mut, um diese Aspekte der eigenen Persönlichkeit in sich selbst zu konfrontieren, mit dem Ziel, sie dann stillzulegen, zu transformieren und neue kreative Impulse an ihre Stelle zu setzen. Das ist die konstruktive Seite am menschlichen Zerstörungstrieb.
Hass und Selbstzerstörung
Es gibt aber auch eine Zerstörung um ihrer selbst willen. Sie stammt aus der genuin menschlichen Regung des Hasses. Der Hass will das, was ihn stört, vernichten, sodass es nie mehr stören kann. Die Nationalsozialisten fühlten sich durch die Juden gestört, also wollten sie alle umbringen. Die Migrantenhasser fühlen sich durch Ausländer gestört und wollen sie alle außer Land bringen, damit sie an keiner Störung mehr leiden müssen.
Der nach außen gerichtete Hass ist im Grund eine Abwehrstrategie gegen den eingepflanzten Selbsthass; Hass auf Objekte im Außen ist also immer auch Selbsthass, mutwillige Zerstörung vernichtet Teile der eigenen Seele. Der Selbsthass wiederum ist das Ergebnis eines von anderen empfangenen Hasses. Eltern, die sich im Grunde selbst hassen, geben ihren Hass auf ihre Kinder weiter, die dann anfangen, sich selbst zu hassen, d.h. ihre Selbstauslöschung wünschen, um den Willen der Eltern zu erfüllen. Hier führt ein Weg zu schweren Depressionen bis zum Selbstmord, die andere Richtung zur erneuten aggressiv geladenen Projektion des Hasses nach außen, der sich dann in Zerstörungswut äußern kann.
Geteilter Hass führt zur Gewalt.
Der Hass, der dann im Inneren getragen wird, bleibt oft verborgen, bis Gleichgesinnte gefunden werden, mit deren Hilfe er nach außen gewendet werden kann. Eine Gruppe, mit der der Hass geteilt wird, entlastet von der Scham, die mit jeder Hassregung verbunden ist. Alles Lebensfeindliche ist schambesetzt; eine geteilte Scham kann jedoch leicht in Aggression und Gewalt umgemünzt werden. Die Gruppe sorgt für die Rechtfertigung, in dem sie sich einer Ideologie unterordnet, z.B. der antisemitischen oder der ausländerfeindlichen Ideologie.
Die Aufgabe von Ideologien besteht darin, die irrational gesteuerte Destruktivität aus unverarbeiteten Hassgefühlen als konstruktive Zerstörung zu tarnen. Menschen beginnen Kriege nur aufgrund von Ideologien, die die Zerstörung der Feinde als unausweichlich darstellen, damit das Leben gut weitergehen kann. Die Umwandlung der hassgeleiteten Zerstörungswut in einen geheiligten Krieg, also in einen scheinbar notwendigen Schritt zur Läuterung und Reinigung, dient zur Rechtfertigung der Gewalt und zur kollektiven Schamentlastung.
Ohne Ideologie kein Krieg
Österreich-Ungarn begann 1914 den Krieg gegen Serbien auf der Grundlage der Ideologie, für einen Mord einen ganzen Staat verantwortlich zu machen und dafür zu bestrafen. Die Entfesselung eines Weltkriegs wurde blind in Kauf genommen. Hitlerdeutschland begann 1939 den Zweiten Weltkrieg mit der ideologischen Rechtfertigung, die Schmach des Vertrages von Versailles rückgängig zu machen und Lebensraum für das deutsche Volk im Osten zu schaffen. Die USA haben sich in den Vietnamkrieg eingemischt, um die Weltherrschaft des Kommunismus zu verhindern. Russland hat die Ukraine angegriffen, um den angeblich dort herrschenden Nationalsozialismus zu beenden. Usw.
Die Zerstörungswut kann vor allem dann schamfrei ausgelebt werden, wenn sie durch einen Gruppenkonsens als „natürliche” und notwendige Reaktion auf ein Unrecht oder eine Unmenschlichkeit erscheint. Deshalb nehmen sich politische Parteien dieser Hassimpulse an. Sie entwerfen Ideologien zur Bemäntelung und Heroisierung von pathologischen Gefühlsreaktionen. Diese sollen als beinahe naturnotwendige Eingriffe in den Lauf der Dinge erscheinen, um alles Böse wieder zum Guten zu wenden.
Kriege zerstören Menschenleben und materielle Werte. Wenn eine Rakete, die um die 1 Million gekostet hat, in ein Haus einschlägt, das 10 Millionen wert ist, dann ist, nüchtern betrachtet, der Gegenwert von 11 Millionen in Schutt und Asche verwandelt, also vernichtet. Waren Menschen in dem Haus, so ist der vernichtete Wert unermesslich höher.
Dem aus Hass Zerstörten steht nicht Neuerschaffenes gegenüber. Irgendwann vielleicht, wenn in der Gegend wieder Friede herrscht, kann das Haus neu errichtet werden (die Kosten werden weit höher sein als die zerstörten Werte); die Menschenleben sind aber für immer verloren. Vernichtet wurden Menschenleben und Dinge, die das Leben erschaffen hat, in Form von Produkten menschlicher Arbeit (das Erbauen eines Hauses oder die Konstruktion einer Rakete samt aller dafür notwendigen Materialien), unter Verwendung von Rohstoffen aus der Natur. All das, was die Natur durch langsame Prozesse der Evolution geformt hat, wurde mit einem Schlag in lebloses sinnloses Chaos verwandelt. Massive Ressourcen verschwinden in dem Haufen der Zerstörung. Und dieser Schlag ist durch nichts anderes als durch immensen menschlichen Hass gesteuert.
Es wird so lange Kriege unter den Menschen geben, als die Quellen des Hasses nicht trockengelegt sind – in den individuellen wie in den kollektiven Seelen. Es wird so lange Kriege geben, als die Menschen hasserfüllte Ideologien hervorbringen, verbreiten und verfolgen. Es wird so lange Kriege geben, als der unermessliche Wert jedes Menschenlebens ignoriert und Zielen untergeordnet wird, die einer unerlösten Zerstörungswut entspringen.
Zum Weiterlesen:
Die Kraft der Zerstörung
Der Hass in der politischen Fixierung
Hass und Liebe: Vom Mangel in die Fülle
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