Samstag, 26. April 2025

Sprachverzerrung durch Macht

Die Aufgabe der Sprache liegt im Wesentlichen darin, dass sich die Menschen untereinander abstimmen – über ihre Befindlichkeiten und über die Wirklichkeit. Menschen suchen immer nach der Übereinstimmung mit ihren Mitmenschen, um sich sicher zu fühlen. Für dieses Sicherheitsgefühl ist es auch notwendig, dass es eine Übereinstimmung über die Welt im Außen gibt. Mit Hilfe der Sprache teilen wir unsere Gemütszustände und unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit. Wenn zwischen den beiden Bereichen Widersprüche aufklaffen, entstehen Unsicherheit und Verwirrung als Reaktion. 

Damit wir einander vertrauen können, brauchen wir zumindest ähnliche Einschätzungen über die Wirklichkeit. Mit jemandem, der ganz konträre Ansichten über die Welt hat als wir selber, tun wir uns schwer, Vertrauen aufzubauen. Für das Vertrauen benötigen wir auch die Verlässlichkeit, dass die Menschen um uns herum eine gewisse Beständigkeit aufweisen, dass sie also nicht jeden Tag andere Meinungen vertreten. 

Auf diese Weise regeln die Menschen den Umgang miteinander. Missverständnisse werden nach Möglichkeit ausgeräumt. Die Übereinstimmung immer wieder herzustellen, ist ein wichtiges Anliegen, weil dadurch Vertrauen und soziale Sicherheit geschaffen werden. 

Machtgesteuerte Kommunikation

Systematische Verzerrungen entstehen vor allem dann, wenn sich die politische Macht in die kommunikativen Netzwerke einmischt. Macht hat von sich aus die Tendenz, sich auszuweiten, bis ihr eine andere Macht entgegentritt. In Demokratien, sorgt die Gewaltenteilung dafür, dass es zu jeder Form der Machtausübung eine institutionalisierte Kontrolle und Grenze gibt. Damit wird die Verschmutzung der kommunikativen Kanäle möglichst gering gehalten. Sobald die demokratischen Institutionen aufgeweicht oder ausgeschaltet sind, können die machtgesteuerten Kommunikationsinhalte und –formen umso leichter die Kommunikationsräume fluten. Die Folge ist die Verkrüppelung und Verzerrung der Sprache. Denn sie dient dann nicht mehr der Verständigung und der Übereinstimmung über die Realität, sondern der Durchsetzung von Sichtweisen ohne Realitätsbezug. Abweichende Sichtweisen werden unter Strafe gestellt oder anderswie aus den Kommunikationsräumen verbannt.  Die Funktion der Sprache, nach der Wahrheit zu suchen, um eine sichere Basis der Verständigung aufzubauen, verschwindet. Stattdessen wird der Unterschied zwischen Realität und Fantasie oder Ideologie eingeebnet. Die vorherrschende Macht legt fest, was für wahr gehalten werden muss. 

Die Nazisprache und die Folgen

Die langfristigen Folgen konnten wir schon beobachten: Der deutsche Sprachraum war auf Jahrzehnte hinaus verseucht durch die Nazisprache. Da sie weiter von rechten Kreisen gepflogen wird, ist die Verzerrung der Sprache nach wie vor nicht überwunden. Erst vor kurzem verwendete ein Rechtsabgeordneter im österreichischen Parlament den Ausdruck „Umvolkung“, einen NS-Terminus mit seinem gesamten rassistischen und gewaltbesetzen Gehalt, der ohne Ordnungsruf vom ebenso rechten Nationalratspräsidenten hingenommen wurde. Auf diese Art pflegen die Rechten und Rechtsextremen das „Niemals vergessen“: Die Sprachzerstörung immer wieder wachzurufen, um die Tür zur Diktatur offen zu lassen. Sprachzerstörung ist Gesellschaftszerstörung und damit direkt auch Menschenzerstörung. 

Sprachzerstörung in den USA

In den USA können wir gewissermaßen in Echtzeit verfolgen, wie die Unterwerfung des sozialen Diskurses, in dem die Sprache der Verständigung und der Herstellung von geteilten Realitäten dienen sollte, durch gewaltsame Eingriffe dem Machtapparat unterworfen wird. Das geschieht durch Bücherverbote, Zensierung von Lehrinhalten auf Schulen und Universitäten, existenzbedrohlichen Druck auf Staatsangestellte und öffentlich Bedienstete, durch das Verbreiten von Angst bei ausländischen Studenten und Immigranten, durch das Biegen des Rechts und durch ein Trommelfeuer an Propaganda und durch offensichtliches und schamloses Lügen. Sprache wird zum Instrument einer aggressiven und autoritären Politik, die ihre Macht ausbreiten und vertiefen möchte, um niemals mehr in die zweite Reihe zurücktreten zu müssen. Hitlers wahnwitziger Plan vom „Tausendjährigen Reich“ soll hier Auferstehung feiern, zunächst darin, dass Trump eine dritte Amtszeit entgegen der Verfassung anstrebt und in dieser Zeit die Weichen stellen wird, dass die Republikaner, die auf seinen Kurs getrimmt sind, in Hinkunft jedes Mal die manipulierten Wahlen gewinnen werden.

Die Erosion der Sprache und damit des gesellschaftlichen Diskurses geschieht schleichend. Die Sprache wird sukzessive mit Gewaltvokabeln angereichert, bis diese Aufladung als normal empfunden und von immer mehr Menschen angewendet wird. Begriffe werden ihren bisherigen Kontexten entrissen und mit ideologischen Inhalten besetzt. Die Grenzen zwischen Realität und frei erfundenen Fantasiewelten werden aufgeweicht und durchlässig, sodass jede Sicherheit in der Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen schwindet. Die politische Macht, die sich zur alleinigen Deutungsmacht aufschwingen will, bestimmt über das, was wirklich und unwirklich ist. Es ist eine Willkür ohne einen realen Außenpol, der korrigierend eingreifen könnte. 

Die epistemische Willkür hält sich auf Dauer allerdings nur als Wahnsinn oder mit Hilfe brutaler Macht. Irgendwann zerschellt das Fantasiegebäude an der unerbittlichen Wirklichkeit, und die Machtkonstruktionen brechen zusammen. Es dauert aber noch lange, bis die Schädigungen an der Sprache repariert sind und die Gewalt- und Machteinflüsse identifiziert und entfernt werden können.

Zum Weiterlesen:
Der Hass in der politischen Fixierung
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts


Sonntag, 20. April 2025

Die Globalisierung von Konflikten durch die Aktivierung von Traumen

In vielen Gebieten der Welt herrscht unermessliches Leid als Folgen von gewaltsamen und langwierigen Konflikten. Das berührt auch die anderen Mitglieder der Menschenfamilie und führt oft zu einem tiefen Mitgefühl für die Opfer dieser Konflikte.

Humane Katastrophen bringen die Menschen dazu, nach Erklärungen für die Auslöser zu suchen. Denn solche Ereignisse sollten nach Möglichkeit in Zukunft verhindert werden. Die richtige Erklärung sollte dazu helfen.  Die einfachste Erklärung besteht darin, einen Schuldigen zu finden, der dann ausgeschaltet oder bestrafen werden kann. Doch führen die einfachen Erklärungen meist in die Irre. Die menschlichen Angelegenheiten sind bekanntlich immer vielschichtig und komplex.

Allerdings werden diese Konflikte zu emotional aufgeladenen Themen vereinfacht und verbreiten sich weit über die Konfliktgebiete hinaus. Dort schaffen sie zusätzliche, sekundäre Konflikte, die weitere Opfer fordern. Denn das Leid von Menschen wird in Waffen für alle möglichen politischen Interessen umgeschmiedet. Aus schrecklichen Unmenschlichkeiten werden ideologische Konstrukte gefertigt, die nichts mehr mit dem Leid der Betroffene zu tun haben, sondern anderen Zwecken dienen. Ein wichtiger Aspekt solcher Konstrukte ist es, Unbeteiligte dazu zu bringen, sich in das ideologische Freund-Feind-Schema einzugliedern, um die eigene Position zu stärken und den eigenen Hass zu rechtfertigen. 

Der Nahostkonflikt in globaler Polarisierung

Eines dieser Themen ist der Nahostkonflikt – seit es ihn gibt. Der Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 und die darauf folgende militärische Reaktion Israels haben dieses Thema in einem unglaublichen Ausmaß emotional aufgeladen und zu massiven Polarisierungen geführt, die sich gleichsam durch die ganze Welt ziehen. Die Frontlinien verlaufen ungefähr so: Wer für Israel Partei ergreift, wird von der anderen Seite als Unterstützer eines Genozids eingeschätzt; wer sich auf die Seite der Palästinenser stellt oder die Politik der israelischen Regierung kritisiert, wird als Antisemit gebrandmarkt. 

Je mehr emotionale Aufladung herrscht, desto schwerer wird es, differenziert zu argumentieren; es geht nur mehr um die Frage: Bist du für oder gegen mich/uns? Es gibt nur eine Wahrheit, wer sie teilt, ist ein Freund, wer sie bestreitet, ist ein Feind und muss bekämpft werden. Emotionale Aufladung bedeutet immer Stress; Stress bewirkt die Vereinfachung des Denkens und die Aktivierung des Freund-Feind-Schemas. 

Aktivierung von Traumen

Solche Themen werden oft von Menschen aufgegriffen, die direkt gar nichts damit zu tun haben, weil sie andere Interessen bedienen und politischen Erfolg mit einer Parteinahme erreichen wollen. Tiefer betrachtet, nutzen sie unbewusst solche Themen, um bei den Menschen in ihrer Zielgruppe Traumareaktionen auszulösen. Denn die Energien, mit denen solche Themen emotional aufgeladen und mit Wut und Hass belebt werden, stammen aus Traumen, in denen die Person das Opfer von übermächtiger Gewalt war und meint, sich jetzt gegen diese Gewalt wehren zu müssen, um nicht wieder in die ohnmächtige Opferrolle zu geraten. Das ist also eine unbewusste Dynamik, in der sich die individuelle Traumaerfahrung mit dem kollektiven Traumafeld verbindet.

Identifikation mit den Opfern

Im Nahostkonflikt gibt es auf beiden Seiten viele Opfer, aber das eigene Trauma bewirkt bei Unbeteiligten, sich mit einer Seite der Leidenden zu identifizieren und für diese Seite mit allen Mitteln zu kämpfen. Stellvertretend für das eigene erlittene Opfersein sollen die aktuellen Opfer aus ihrer bedrohlichen Position befreit werden und damit soll ein Sieg über das Böse, das ursprünglich die Schuld am eigenen Trauma getragen hat, erreicht werden. 

Als Folge dieser Ausbreitung der Konfliktfelder entstehen Konfliktgräben auf der ganzen Welt, und die Parteien mit all ihren Stellvertretern stehen sich wie zwei steinzeitliche Heerhaufen in mörderischer Absicht gegenüber – die einen drohen mit der Keule des Genozids, die anderen mit der Keule des Holocausts. Dazu kommt, dass alle, die da nicht mitmachen wollen, gezwungen werden sollen, Partei zu ergreifen, oft nach dem Motto: Bist du nicht bedingungslos für uns, dann bist du unser Feind. Damit wird weit abseits der Konfliktgebiete eine Debattenkultur erschaffen, die die Grausamkeit der realen Kriege in die ganze Welt trägt, von Aggressionen aufgeladen ist und mehr und mehr Menschen in ihren Bann zieht.

Natürlich gibt es die verschiedensten Interessensgruppen und Lobbys, die daran arbeiten, dass politische Konfliktthemen emotional aufmunitioniert werden. Sie wollen die Traumawunden für sich nutzen, die tief in der Psyche der meisten Menschen verankert sind. Die Propaganda dieser Gruppen ist schon geschult darin, die Sprache zu finden, mit denen die individuellen und kollektiven Traumen getriggert und aktiviert werden. Wenn dazu noch eine Lösung oder gar ein Erlöser präsentiert wird, gelingt es leicht, Anhänger zu finden und an die eigene Gruppierung zu binden. Einmal eingefangen, ist es für die Zielobjekte dieser Masche schwer, wieder zu einer eigenen Meinung und einer ausgewogenen Sichtweise zurückzufinden. 

Die sogenannten sozialen Medien tragen viel dazu bei, diese Rekrutierungsmanöver noch effektiver zu gestalten, denn ihre Algorithmen sind darauf eingestellt, die entsprechenden Traumaschleifen zu verstärken und zu vertiefen, wenn sie ihnen einmal durch das Nutzerverhalten auf die Spur gekommen sind. Sie verschärfen die Polarisierung und die Überzeugung, dass es überlebenswichtig ist, auf der einen Seite zu stehen und die andere zu verdammen.

Die Macht des Traumas in Verbindung mit den von der Propaganda angebotenen Abwehr- und Verlagerungsstrategien ist so dominant, dass das Feindbild zu einem Teil der eigenen Identität wird, ja werden muss, denn für das Unterbewusste sichert die Klarheit über die Gefahr und die „wirklichen“ Bösewichter das Überleben.

Schnell wird das Opfer-Täter-Retter-Dreieck vervollständigt: Zunächst findet die Identifikation mit dem Opfer statt, z.B. mit den Palästinensern im ausgebombten Gaza-Streifen oder mit israelischen Familien, die um das Leben einer Geisel bangen. Dann werden die Täter namhaft gemacht, und die Wut und der Hass aus der eigenen Traumawunde werden auf sie gerichtet. Schließlich bietet sich ein Retter an, z.B. ein Politiker, der kompromisslos und vehement für eine Seite des Konflikts engagiert ist, oder eine Partei, die die eigene Sichtweise auf die Opfer- und Täterrolle teilt.

Der Ausstieg aus solchen Dynamiken fällt enorm schwer und kann meist ohne Hilfe von außen nicht gelingen. Eine solche Hilfe ist nur dann wirksam, wenn sie auf die emotionale und nicht auf die rationale Ebene der Bindung an eine bestimmte Position in einem konfliktreichen Thema eingeht. Jemanden von seiner Überzeugung, die stark in die eigene Identität aufgenommen wurde, abzubringen, ist umso schwieriger, je stärker die emotionale Aufladung ist.  Die Identifikation mit der Opferseite und mit dem Hass auf die Täterseite dient der Abwehr des emotionalen Schmerzes, der mit dem erlittenen Trauma verbunden ist. Die Aggressionen, die auf die Täter in der aktuellen Thematik gerichtet werden, stammen aus den Kräften, die zum Überleben des Traumas beigetragen haben und müssen deshalb aufrechterhalten bleiben. Darin liegt der Grund, warum immer wieder nach neuen Quellen und Bestätigungen für die Wut- und Hassgefühle gesucht werden. Es darf keine Schwäche zugelassen werden, weil sie an das Ausgeliefertsein, an die Verletzlichkeit und an den Schmerz erinnern würde, an die schamerfüllte Ohnmacht in der ursprünglichen Traumaerfahrung.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen


Donnerstag, 17. April 2025

Der Hass in der politischen Fixierung

Ein Kennzeichen der rechten Politikorientierung besteht in der Hassfixierung. Es gibt solche Phänomene auch auf dem linken Spektrum, doch sind sie dort weniger ausgeprägt und meistens differenzierter. Viele Rechtsextreme begnügen sich mit ein paar Feindbildern, die mit ihrem Hass belegt werden. Sie wollen stark und mächtig sein, und gehasst wird alles, was mit Schwäche assoziiert ist: Verletzlichkeit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Kompromissfähigkeit und alles, was als woke verschrien ist. Selbst die zentrale menschliche Tugend des Mitgefühls wird als Ausdruck verweichlichter Moral umgedeutet. Also fühlen sie sich allen überlegen, die die Schwäche nicht so hassen wie sie selber. Sie sind die einzigen, die die wirkliche Gefahr kennen, die der Menschheit droht: Schwache Menschen (die „Herdenmenschen mit ihrer Sklavenmoral“ in Nietzsche’s Diktion), die sich zusammenrotten und den Starken ihren Willen aufzwingen wollen. Deshalb wird die Demokratie verachtet und gehasst. Sie hat den einzigen Nutzen, die „wirklich Starken“ an die Macht zu bringen, und dann wird die richtige Ordnung mit der Unterdrückung von allem Schwachen hergestellt. Das war die Vorgehensweise der Nationalsozialisten 1933 und das ist das Projekt 2025, nach dem gerade die USA umgekrempelt werden.

Die Objekte des Hasses sind also die Schwachen, gleich ob es Frauen, Liberale, Sozialisten, Ausländer oder Angehörige von Minderheiten sind. Ein polnischer Rechtspolitiker hat vor einiger Zeit vor den westlichen (=verweichlichten) Vegetariern und Radfahrern gewarnt, so als wären der Verzicht auf das Fleischessen und das Radfahren eine Gefahr für die gesunde Stärke der Polen. Selbst wichtige Maßnahmen zum Klimaschutz werden aus dieser politischen Richtung bekämpft und als Zeichen von Schwäche gedeutet. Auch biologischer Landbau wird manchenorts, z.B. in konservativ regierten Staaten der USA abgewertet – aktuell gibt es Fälle, in denen Bio-Bauern von der Polizei gezwungen werden, chemische Keulen gegen Schädlinge einzusetzen, obwohl diese auch biologisch bekämpft werden können. Mit Giften wird die Umwelt belastet, was den rechtsgerichteten Politikern egal ist. 

Nur Schwachen kann eine Klimaveränderung etwas anhaben, sollte es überhaupt jemals dazu kommen und die ganze Sache nicht eine Erfindung von gekauften Wissenschaftlern sein. Viele behaupten, dass Klimaschutzmaßnahmen nur zur Unterdrückung der Menschen eingesetzt werden, indem sie Änderungen in der Lebensweise verlangen, die als Zwang erfahren werden. 

In der Coronazeit wurde selbst das Maskentragen und Impfen als Schwäche gedeutet und abgelehnt – viele Rechte brüsteten sich mit ihrem „starken Immunsystem“, um sich den Schutzmaßnahmen nicht unterordnen zu müssen. Natürlich hat das Virus vor solchen Einstellungen nicht Halt gemacht und so manches eingebildetes Immunsystem überwunden, was bei den betroffenen stolzen Maßnahmengegnern dann unweigerlich Schamgefühle ausgelöst hat, die dann verdrängt und in Hass umgewandelt werden mussten.

Die Wurzeln

Der Hass wird offen möglich, wenn die Unverschämtheit ausreichend entwickelt ist. Sie stammt aus einer erlernten Fähigkeit zum Unterdrücken und Überspielen der Schamgefühle. Diese Konditionierung stellt eine Reaktion auf in der Kindheit erlittene Beschämungen dar, als Gegenwehr gegen Herabwürdigungen, als Ausgleich für Abwertungen. Ehrlichkeit wird verachtet, wenn die Eltern das Kind oft belogen haben. Empathie wird als Schwäche gedeutet, wenn sie selber nie erfahren wurde. Verletzlichkeit wird zum Tabu, wenn sie zu Erniedrigungen geführt hat. Freundlichkeit wird abgelehnt, wenn sie in echter Form nie empfangen werden konnte.

Der Hass gilt im Grund den Personen aus der eigenen Lebensgeschichte, die dem Kind all diese wesentlichen emotionalen Grundlagen der Menschlichkeit vorenthalten haben. Darum kennt die innere Landkarte solcher Menschen viele weiße Flecken, die mit Hass gefüllt wurden. Der emotionale Schmerz, der mit der erzwungenen Einprägung der Unverschämtheit verbunden ist, ist so überwältigend, dass an der Haltung des Hasses und an der Verachtung seiner Objekte um allen Preis festgehalten werden muss. 

Die Identifikationsfiguren für Stärke und Kraft hingegen werden verehrt, auch um jeden Preis – sie können selber Schurken, Lügner, Verächter oder Dummköpfe sein, sie können selbst ihre Anhänger auf den Leim führen oder ihnen nach Strich und Faden das letzte Hemd ausziehen – sie bleiben auf dem Podest der Verehrung. Denn die wahren Bösewichter sind fix in der eigenen Psyche verankert. Verschwörungstheorien und faktenferne Fantasien, die von den Führungsfiguren als eigentliche Wahrheiten verbreitet werden, dienen zur Stabilisierung der Fixierung.

Dem Führer sind viele Anhänger sinnloserweise bis in den Tod gefolgt. Bei ähnlich gestrickten Autokraten wie Donald Trump brauchen wir uns nicht zu wundern, dass ihm viele blind folgen und frenetisch Beifall schreien, was immer er gerade macht oder von sich gibt. Aber von der knappen Mehrheit, die ihn gewählt haben, fallen immer mehr ab von seiner Linie, denn nicht alle unterliegen der Hassfixierung. Nicht wenige haben den Blick auf die Realität bewahrt und können abschätzen, was der Abbau der Demokratie und die Abkehr von vielen Grundwerten kosten wird.

Zum Weiterlesen:
Ein Gruselkabinett an der Spitze der USA
Elon Musk: "Empathie - eine Schwäche der menschlichen Zivilisation"


Montag, 14. April 2025

Ein Gruselkabinett an der Spitze der USA

Als Donald Trump nach seiner Wahl die Kandidaten für die neue Regierung vorstellte, haben viele Medien zum Ausdruck „Gruselkabinett“ gegriffen, angelehnt an das „Cabinet von Dr. Caligari“, einem Horror-Stummfilm aus dem Jahr 1920. Das Gruseln rief die Ansammlung von Personen hervor, die der wiedergewählte Präsident nominierte und die mittlerweile im Amt sind, denn sie treten wie die Personifizierungen der wichtigsten menschlichen Schattenseiten auf, als Verkörperungen von Lastern und Todsünden. Sie stellen die gesamte Bandbreite menschlicher Untugenden recht offensichtlich und unverblümt zur Schau, befreit von jeder Scham.

All die üblen Seiten des Menschseins sind in diesem Pandämonium vertreten: Gier (nach Macht, Geld und Ruhm), Neid (auf andere Machthaber und deren Skrupellosigkeit), Überheblichkeit (Verachtung von Andersdenkenden), Geiz, Völlerei (in Form von erpresserischen und ausbeuterischen Fantasien von Eroberungen und Bereicherungen), Zorn (als Hass auf alles, das sich dem Machtstreben nicht bedingungslos fügt), Trägheit (als stolz vor sich hergetragener geistiger Beschränktheit und Dummheit) sowie Wollust (es scheint, als gälte eine Vorgeschichte mit sexuellen Übergriffe für Männer als Eintrittskarte in ein hohes Regierungsamt, während Frauen ein hohes Maß an Verehrung für Trump und einen ausgeprägten Hass auf seine Gegner aufweisen müssen, wenn sie es zu etwas bringen wollen). Dazu gesellen sich noch Zynismus, Empathielosigkeit, Heuchelei, Irreführungen und Lügen, sowie die Anwendung von struktureller Gewalt

Jede Untugend und jeder menschfeindliche Charakterzug ist durch Abwehrstrategien geschützt, damit die Scham den Stolz, also die Selbstachtung, nicht übermannen kann. Mit diesen früh erlernten Hilfen gelingt es, sich einen Deut um die Folgen der eigenen Handlungen zu scheren und stur bei der einmal eingeschlagenen Richtung oder Charakterprägung zu bleiben, koste es, was es wolle. Es kümmert diese Leute auch nicht, was Andersgesinnte über sie denken, denn wer andere Werte und Einstellungen hat, ist nur ein verachtenswerter Idiot. Auch wenn sie sich wie Narren aufführen, vertrauen sie darauf, dass es genug Leute gibt, denen das imponiert und die ihnen zujubeln und sie verehren. 

Das einzige, was sie fürchten, ist der Verlust ihrer Akzeptanz bei den Gleichgesinnten. Deshalb versuchen sie, alle Register der Medienorgeln zu ziehen und mit lautem Dauergetöse den öffentlichen Raum zu füllen, Wechselseitig verstärken sich die Protagonisten und ihr Publikum, sodass die Verrücktheiten dauernd neue Blüten treiben – treiben müssen, da das eingeschworene Publikum nach neuen Unverschämtheiten, nach neuen Tabubrüchen, nach neuen Frechheiten lechzt. Stellvertretend agieren die Protagonisten alles aus, was sich die Applaudierenden verbieten, weil sie zu feige sind oder sich zu schwach und ohnmächtig fühlen..

Dieses Muster sorgt dafür, dass sich beide Seiten der Dynamik immer weiter von der Realität entfernen, sowohl von der naturgesetzlich bestimmten als auch von der sozialen zwischenmenschlichen. An die Stelle von Naturgesetzen treten Verschwörungstheorien und die soziale Welt wird mit dem Säen von Hass entzweit und auseinander getrieben. Je mehr Misstrauen entsteht, desto leichter ist die Machtausübung.

Allerdings ist die Lebensdauer solcher Dynamiken begrenzt, weil die Illusionen, die durch jede Realitätsferne erzeugt werden, irgendwann an der Wirklichkeit zerbrechen. Politiker können ihre Wähler für dumm verkaufen und sich an ihrer Gutgläubigkeit an Geld und Macht bereichern; die Verblendung endet spätestens dort, wo die Folgen verantwortungs- und schamloser Entscheidungen ins eigene Leben eingreifen und als Leid spürbar werden und nicht mehr übersehen oder verdrängt werden können: Arbeitslosigkeit, sinkender Wohlstand, verschlechtertes Gesundheitssystem, zunehmende soziale Spannungen, wachsende Ängste über die Zukunft.

Hier ein paar Beispiele aus dem Regierungsteam von Trump: 

Pete Hegseth, der Verteidigungsminister

Nur knapp ging seine Normierung durch, weil einige republikanische Senatoren gegen ihn wegen seiner fehlenden administrativen Erfahrungen stimmten. Diese Sorge war nicht unberechtigt, denn Hegseth ist für die „Signal-Gate“-Affäre verantwortlich (ein Journalist wurde irrtümlich zu einer hochgeheimen Kriegsplanung eingeladen). Darauf folgte gleich die nächste Affäre: Der Minister hatte seine dritte Frau an vertraulichen Gesprächen mit ausländischen Verteidigungsministern teil nehmen lassen.

Schon als Fernsehkommentator bei Fox News ist er durch radikale Positionen aufgefallen: Er hat sich kritisch gegenüber „woken“ Offizieren im Militär geäußert und die Entlassung aller Offiziere angekündigt, die sich für Diversity-programme engagiert haben. Er leugnet den Klimawandel und bezeichnet die Klimaforschung als „linke Verschwörung“. Die Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilpersonen im Krieg sind für ihn Übereinkommen aus Zeiten, in denen Kriege anders geführt worden seien; die US-Regierung werde sich nicht an Regeln halten, die von internationalen Organisationen aufgestellt würden. Er sagte, dass es die einzige Aufgabe der US-Armee sei, zu töten. Er hat sich auch für die Begnadigung von US-Kriegsverbrechern eingesetzt. 

2017 soll er eine Frau sexuell angegriffen haben; es kam zu einer finanziellen Abgleichung mit Verschwiegenheitsklausel. Zum Vorwurf des Ehebruches (er hatte eine sexuelle Beziehung mit seiner jetzigen Frau, als er noch mit der vorigen verheiratet war) sagte er vor dem Militärausschuss, Jesus Christus habe ihm persönlich verziehen, und so sei er mit Gott und der Welt im Reinen und könne das Pentagon leiten, damit Amerika Kriege nicht nur endlos führen müsse, sondern gewinnen möge. Er trägt das Motto der Kreuzritter (Deus vult) als Tätowierung. 

Pam Bondi, die Justizministerin

Sie ist in mehrere Korruptionsverfahren verwickelt und hat schon während der Stimmauszählungen bei der Wahl von 2020 von Wahlbetrug gesprochen, ohne Beweise vorzulegen.

Robert F. Kennedy Jr., der Gesundheitsminister

Kennedy hat eine eigenartige Obsession mit Tierkadavern. Von Trump wurde er als „dümmster aller Kennedys“ bezeichnet, bevor er von den Demokraten zu den Republikaner gewechselt hatte. Seine Impfgegnerschaft hat schon nach ein paar Wochen in seinem Amt eine Reihe von Opfern gefordert. Während der schweren Grippewelle im Februar 2025 wurde die Werbung für Grippeimpfungen gestoppt. Stattdessen sollte auf die Risiken der Impfung verwiesen werden. Bei einer Masernwelle im Süden der USA verharmloste der Minister zunächst die Krankheit, die inzwischen schon einige Todesopfer unter Kindern bewirkt hat, und verbreitete dann eine Reihe von Falschaussagen und warb für Gegenmittel, die entweder nicht wirksam sind oder selber Schäden anrichten. So empfahl er Vitamin A, und in der Folge bekamen dann viele Kinder Anzeichen einer Vitamin-A-Toxizität. Er möchte die Ursache von Autismus herausfinden und hat dafür eine Studie in Auftrag gegeben, die in einem halben Jahr die Ergebnisse vorlegen soll, was bei Fachleuten nur Kopfschütteln hervorruft, weil es sich um eine äußerst komplexe Störung handelt. Vermutet wird allerdings, dass die Studie das Wunschergebnis liefern soll, dass nämlich Autismus die Folge von Impfungen wäre. Kennedy ist zum dritten Mal verheiratet.

Marco Rubio, der Außenminister

Nach seiner Amtsübernahme wurden sofort alle Pässe mit der Geschlechtsbezeichnung X annulliert, also alle transgeschlechtlichen Personen hatten plötzlich keinen gültigen Pass mehr. 

Er entschied sich, die Mittel für USAID (United States Agency for International Deveolpment) drastisch zu kürzen, obwohl er von Beamten der Behörde gewarnt worden war, die schätzten, dass bei einer Streichung der USAID-Programme in den nächsten zehn Jahren eine Million Kinder wegen schwerer Unterernährung unbehandelt bleiben würden, bis zu 166.000 Menschen an Malaria sterben würden und weitere 200.000 Kinder durch Polio gelähmt würden. Seine Meinung zu China ist: „Sie haben sich auf unsere Kosten durch Lügen, Betrug, Hacking und Diebstahl zu einer globalen Supermacht hochgearbeitet.“

Kristi Noem, die Heimatschutzministerin 

Sie ist eine Vertreterin der konservativen Tea-Party-Bewegung und tritt deshalb gegen Schwangerschaftsabbrüche und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sowie für ein unbeschränktes Recht auf Waffenbesitz ein. Sie leugnet den menschengemachten Klimawandel. In ihrer Autobiografie berichtet sie, dass sie mehrere Tiere erschossen hat, darunter eine Ziege, die ihren Kindern immer hinterhergejagt sei, sowie ihre Hündin, weil diese während einer Fasanenjagd nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.

Sie ist jetzt verantwortlich für alle Abschiebungen, ob diese nun rechtmäßig sind oder nicht. Tausende Menschen in den USA, die einer geregelten Beschäftigung nachgehen, erhalten dieser Tage ein automatisiertes Schreiben, dass sie in sieben Tagen das Land verlassen müssen. Betroffen sind Migrant:innen aus Venezuela, Haiti, Mexiko, Kuba, Afghanistan – Menschen auf der Flucht vor Diktaturen, Armut, Banden, Hunger. Menschen, die nicht illegal eingereist sind, sondern durch ein staatliches Verfahren mit einem Funken Hoffnung eingelassen wurden.

Sean Duffy, der Verkehrsminister

Er bestritt einen Zusammenhang zwischen einzelnen Gewalttaten von White-Supremacy-Anhängern und führte das Attentat von Tucson, bei dem die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schwer verletzt wurde, auf linke Ideologie zurück. Es wird ihm deshalb vorgeworfen, rechtsgerichtete Gewalttaten zu verharmlosen.

Bei Amtsantritt beseitigte er alle Vergünstigungen beim Kauf von E-Autos und kündigte an, dass jene Gebiete, in denen mehr Eheschließungen und Geburten sind, bei Förderungen bevorzugt werden. Auch er leugnet den Klimawandel. 

Kash Patel, der FBI-Direktor

Er vertritt verschiedene Verschwörungstheorien, u.a. dass die Drahtzieher vom Angriff auf das Kapitol 2020 IFB-Leute gewesen wären. Er glaubt an einen „tiefen Staat“, dem das Handwerk gelegt werden müsse, ebenso wie an das „Russia investigation origins counter-narrative“, also an eine „Theorie“, dass sich nicht russisch gesteuerte Internettrolle in die Wahl von 2016 eingemischt hätten, sondern dass es sich um ein Komplott aus dem „tiefen Staat“ handle, das Trump schaden wolle. 

Zum Weiterlesen:
Elon Musk: "Empathie - eine Schwäche der menschlichen Zivilisation"


Freitag, 11. April 2025

Weltmacht ohne Mitgefühl

Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.

Mir ist klar, dass Amerika viel, viel mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.

Mein erstes Amerikabild war geprägt von den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.

Über das Bild der zuckerlverteilenden amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben, steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher dieses blutigen Konflikts sehen.

Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Für viele Generationen von Menschen auf der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung. Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten.

Macht ohne Verantwortungsübernahme

Die USA sind aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.

Der US-Regierung ist der Preis egal, der durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.

Macht ist in der Regel mit Verantwortung verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt. Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.

Aus Katastrophen lernen

Die Erfahrung mit Rückschritten und Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu setzen.

Die Beseitigung der Empathie, also der Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist, gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch; tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden, wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der deutschen Städte.

Mit unserer genetischen Grundausstattung kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu durchschauen und zu überwinden.

Erst wo die Vernunft das Ego einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl, also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.

Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. 
Weinheim: Beltz Juventa, 2021

Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda