Dienstag, 31. Dezember 2024

Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie

Inklusion, Antirassismus, Frauenrechte, Toleranz und Gleichbehandlung sind Leitinhalte für den Fortschritt in der Humanität, wie er spätestens seit der Aufklärung verstanden wird. Eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft muss möglichst vielen Menschen einen sicheren Raum für die Entfaltung ihrer Individualität bieten. Jede Person soll so leben können, wie sie will und wie es für sie gut ist, und soll dafür geachtet werden, solange nicht die Grenzen anderer Personen verletzt werden. So lautet das Credo der Liberalität und das soziale Programm der Moderne ist daraus abgeleitet. Eine moderne Gesellschaft schließt möglichst viele unterschiedliche Lebensformen mit ein und gewährt ihnen Rechte und Sicherheiten, während eine vormoderne Gesellschaft durch Vorurteile, willkürliche und gewaltsame Ausgrenzungen, durch strikte Über- und Unterordnung, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist. 

Der Fortschritt in der Toleranz und in der Ermöglichung von Freiheit ist spätestens seit dem Ende des Mittelalters, ausgehend von West- und Mitteleuropa weltweit im Gang.  Es herrscht in vielen Ländern Glaubens- und Religionsfreiheit, Minderheiten genießen Schutz, verschiedene sexuelle Orientierungen werden geachtet usw. Es gibt Länder, die in dieser Entwicklung weit hinten nachhinken, und es sind immer wieder Bewegungen aufgetreten, die diese Entwicklung  bekämpfen und zurückschrauben wollen, z.B. die faschistischen Ideologien im 20. Jahrhundert oder das Modell der illiberalen Demokratie nach Viktor Orbán in Ungarn. Aber auf lange Sicht betrachtet, setzt sich die Freiheitsidee immer wieder gegen alle Widerstände durch. Wir können also mit einigem Recht behaupten, dass Hegels Optimismus in Bezug auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Bestätigung in den Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte findet.

Eine aktuelle Verwerfung und Verzerrung dieser Bestrebungen hat der Politikwissenschaftler Yasha Mounk als Identitätssynthese gekennzeichnet und in seinem jüngsten Buch Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee beschrieben. Diese Strömung ist vor allem in den USA sehr wirksam und hat in den letzten Jahren weite Bereiche der den Demokraten nahestehenden linksintellektuellen Szene beeinflusst. Da viele kulturelle Entwicklungen mit Zeitverzögerung aus den USA nach Europa exportiert werden, lohnt es sich, dieses Phänomen näher zu betrachten. Es hat seine Hintergründe in verschiedenen Bereichen der sozialen Unterdrückung, vor allem durch Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus.

Postkoloniale Philosophie

Zu den Begründern dieser Ideologie zählen Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak. Sie sind postkoloniale Denker – Said mit palästinensischer und Spivak mit indischer Herkunft. Said erklärte in seinen Studien die Art und Weise, wie westliche Autoren den Orient beschrieben haben, als Formen der Machtausübung und der kolonialen Unterdrückung. Er rief zur Diskursanalyse nach Michel Foucault auf. Damit ist gemeint, dass die Hintergründe von jedem Wissens, das erworben und verbreitet wird, durch politische Macht, z.B. durch den Kolonialismus, beeinflusst sind. Die Verbreitung des Wissens stärkt dann die Macht. Wenn diese Hintergründe analysiert werden, gelingt es, sich dieser Macht zu entziehen und das machtgeprägte, z.B. koloniale Denken zu schwächen. 

Spivak beschäftigte sich in ihren Literatur- und Philosophiestudien mit den westlichen Klischeebildern von der Zurückgebliebenheit der östlichen Kulturen gegenüber dem Westen. Obwohl es kaum noch Kolonien gibt, wirke der Kolonialismus in den mentalen Konstrukten weiter. Die daraus gebildeten Identitäten, die darüber Auskunft geben sollen, was ein dunkelhäutiger, östlicher Mensch gegenüber einem weißhäutigen, westlichen wäre, sind nach wie vor maßgebend und führen zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung. Die dominierten Gruppen sollten dagegen ein Gruppengefühl (Wir-Gefühl) finden, aus dem heraus sie ihre eigene (statt einer zugeschriebenen) Identität entwickeln können. Auf der Grundlage dieser Identitätspolitik entstehen politische Forderungen z.B. nach Anerkennung, Ausgleich der Unterdrückung, Änderungen in Bildungsprozessen usw. Ein Instrument dieser Politik stellt die „positive Diskriminierung“ (auch: affirmative action) dar, bei der die negative Benachteiligung durch eine gezielte Bevorzugung ersetzt werden soll. Die unterdrückte Minderheit soll also besondere Vorteile gewährt bekommen.

Strategischer Essentialismus

Spivak hat den Begriff des strategischen Essentialismus in die Debatte eingebracht, mit dem ein Widerspruch der Identitätspolitik überwunden werden soll. Viele Wesenszuschreibungen wurden und werden zur Diskriminierung verwendet, z.B. die Abwertung von Frauen als intellektuell weniger begabt als die Männer. Damit die Macht solcher von den Mächtigen zur Absicherung ihrer Macht vorgenommenen Zuschreibungen gebrochen werden kann, sollen sich die Unterlegenen ihrer Identität besinnen und sie in der eigenen Gruppe bestärken: Frauen schließen sich in feministischen Kreisen zusammen und stellen ihre selbstgebildete Identität der zugeschriebenen entgegen. Allerdings handelt es sich wiederum um eine Wesensbeschreibung: „Frauen sind intelligent“.  In der Realität gibt es unter den Frauen, wie auch unter den Männern, intelligentere und weniger intelligente. Es gibt also keine Essenz, kein Wesen der Männer und der Frauen, sondern nur Annahmen, Konstrukte darüber, wie Männer und wie Frauen sind. Jede Annahme führt zu verzerrten Wahrnehmungen und damit zu sozialen Konflikten. Deshalb müssen Wesensbegriffe einer Diskusanalyse unterzogen und aufgelöst werden. Andererseits gelingt die Emanzipation, also die Befreiung von Zuschreibungen, nur über die Ausbildung einer Identität, die aus strategischen Gründen, also zur Durchsetzung von politischen Forderungen gebildet werden muss. Die Erkenntnisse über die Mechanismen der Unterdrückung können dort am besten gewonnen werden, wo die Gruppe unter sich ist, also wo die Sichtweisen der Unterdrücker möglichst ausgeschlossen sind (vgl. die Standorttheorie, die im nächsten Blogartikel erläutert wird). Solange die Unterdrückung weiter besteht, bräuchte es solche sicheren Orte für die Wissensgewinnung und für die Ausformung von politischen Strategien.

Die Identitätssynthese 

Mounk versteht unter der Identitätssynthese ein Konglomerat aus Ideen und intellektuellen Traditionen: „Es kreist um die Rolle, die Kategorien der Identität wie ‚Rasse‘, Gender und sexuelle Orientierung in unserer heutigen Welt spielen.“ (Mounk S. 29) 

Mounk kennzeichnet die Identitätssynthese mit sieben Haltungen:

1. Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit 
2. Diskursanalyse ausschließlich für politische Ziele
3. Identitätskategorien dürfen essentialistisch sein, wenn das politischen Strategien hilft.
4. Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften 
5. Unterstützung von Institutionen, in denen die Behandlung entsprechend der Gruppe erfolgt
6. Intersektionale Form des politischen Aktionismus 
7. Skepsis zu Verständigung zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen (S. 95f)

Skepsis und Pessimismus

(ad 1 und 4): Mit dem Stichwort Postmoderne werden die philosophischen Schulen der Dekonstruktion bezeichnet:  Etablierte Konzepte werden auf ihre sozialen Prägehintergründe durchleuchtet, damit der Raum für neue Sichtweisen geschaffen wird. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, der französische Philosoph Michel Foucault, lehnte jede Form von objektiver Erkenntnis ab. Der jeweilige Standpunkt, von dem die Erkenntnis ausgeht, ist von sozioökonomischen Faktoren geprägt, die immer nur zu einem Teil analysiert und reflektiert werden können.  Jeder Anspruch auf objektive Erkenntnis wäre wieder nur ein Machtanspruch. 

Im Zusammenhang mit dieser Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten ist das Denken von Foucault auch von einem Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften geprägt, in denen es nach seiner Meinung keinen Fortschritt in der Bewusstseinsentwicklung, im Moralverständnis oder in der Verbesserung von ungerechten sozialen Strukturen geben kann. Vielmehr gebe es nur die Illusion von Fortschritten, die sich bei näherer Betrachtung als Täuschung herausstellen. Die Illusion befördert dann wiederum das Festhalten an nicht erkannten Machtprivilegien.

(ad 5): Der Staat soll benachteiligte Gruppen besonders unterstützen. Wie oben beschrieben, wird die „positive Diskriminierung“ zur Aufhebung von Unterdrückung gefordert. Allerdings hat die Bevorzugung einer Gruppe in der Regel die Benachteiligung anderer Gruppen zur Folge, und damit ist der Nährboden für soziale Konflikte gelegt. Denn sobald eine Gruppe Vorrechte bekommt, melden sich die anderen und fordern die gleichen Rechte. So einleuchtend es erscheinen mag, dass Benachteiligte mehr Unterstützung brauchen als Besserstehende, so sorgfältig muss darauf geachtet werden, dass andere Diskriminierungen vermieden werden. 

Mit Intersektionalismus ist gemeint, dass sich verschiedene Formen der Unterdrückung gegenseitig verstärken, z.B. dass schwarze Frauen wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt werden. Deshalb sollten die Mitglieder von politischen Bewegungen umfassend gegen Diskriminierungen auftreten. Oft werden dann Anliegen mitvertreten, die nicht in den eigenen Bereich gehören, wie z.B. Greta Thunberg, die als Vertreterin der Klimabewegung Im Gazakrieg für die Palästinenser Stellung bezogen hat. Die Autorität, die in einer Thematik erworben wurde, wird in andere Bereiche übertragen, obwohl Sachkompetenz und politische Erfahrung fehlen. Die Anhängerschaft greift die Anliegen häufig mit ihrem Engagement auf, ohne die Sachverhalte näher zu prüfen.

(Ad 7): Die Plausibilität dieser These ruht hier auf der Tatsache, dass Betroffene besser Bescheid über ihre Situation haben als Außenstehende. Dennoch kann auch dieser Punkt zu Missverständnissen führen, die im nächsten Blogbeitrag näher beleuchtet werden. 

Die Dehnungen von klassischen liberalen Forderungen auf radikalere und extremere Sichtweisen, wie sie in der Ideologie der Identitätssynthese nach Mounk auftreten, können einerseits die Sensibilität vor allem bei den betroffenen Randgruppen oder Benachteiligten verstärken, wirken aber andererseits als Treibstoff für soziale und politische Konflikte. Es hilft beim Verstehen des Erstarkens der Rechtsparteien, die gegen alles „woke“ und Liberale polemisieren, dass die Ambivalenz und Radikalität der Identitätsideologie Ängste und Abwehrreaktionen auslösen – Wasser auf die Mühlen sowohl der Konservativen wie der Rechts- und Rechtsextremparteien. 

Damit wird es schwieriger, die berechtigten Anliegen der emanzipativen Bewegungen in der Demokratie durchsetzbar zu machen. Denn die Mehrheiten liegen in den meisten Fällen bei denen, die die Überlegenheitspositionen innehaben, und nur dann auf Einfluss und Macht verzichten wollen, wenn sie sich über den gesamtgesellschaftlichen Nutzen sicher sein können. Und dazu liefert die Ideologie der Identitätssynthese keine Unterstützung.  

Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023

Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen


Montag, 2. Dezember 2024

Was macht aggressive Politiker attraktiv?

In vielen demokratischen Ländern des globalen Nordens sind die rechten und rechtsextremen Parteien im Vormarsch. Was dabei auffällt ist, dass die Politiker dieser Parteien mit aggressiven Botschaften Wähler ansprechen und für sich gewinnen können. Um die Themen, die dabei angesprochen werden, nehmen sich auch andere Parteien an. Vor allem rechtskonservative Parteien fahren einen harten Kurs in der Migrationsfrage, verschärfen andauernd die Regelungen für Flüchtlinge und Asylsuchende, und doch verlieren sie ihre Wähler an die noch weiter rechts positionierten Parteien, die sich eine aggressive Rhetorik erlauben. Rechtskonservative haben ihre Wählerschaft auch in Bevölkerungsgruppen, die von Hassparolen abgeschreckt werden und müssen sich deshalb in ihrer Ausdrucksweise mäßigen. Der einzige Unterschied besteht also im Ausmaß der Aggression, das an die Öffentlichkeit gebracht wird. Es ist zwar zu beobachten, dass einzelne rechtskonservative Politiker in die Wortwahl der Rechtsextremen verfallen, doch werden sie dann meistens von ihrer Partei zurückgepfiffen. Die extremeren Politiker können dagegen hasserfüllte Wutreden halten, im Bewusstsein, dass sie ihren Anhängern aus dem Bauch reden, also deren Aggressionen in Worte fassen und in der Öffentlichkeit verbreiten. Wenn jemand anderer die eigene Wut, für die man sich vielleicht selbst schämt, ausdrückt (oder auskotzt), ist man entlastet und fühlt sich zugleich in der eigenen Aggressivität bestätigt und gerechtfertigt. 

In Wahlbefragungen geben z.B. Wähler der FPÖ an, dass sie allein dieser Partei zutrauen, die Missstände, die es gibt oder die sie erleben, abzustellen und bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Bauchgefühl, weil die Lösungen, die die österreichische Rechtspartei anbieten kann, entweder nicht durchführbar sind (weil sie der Verfassung oder EU-Regeln widersprechen) oder von anderen Parteien genauso oder ähnlich vertreten werden, und weil in den Bundesländern und Gemeinden, wo die Blauen mitregieren, die Zustände auch nicht besser sind. Aber die aggressive Wortwahl der Rechtspartei vermittelt offenbar vielen Wählern die Zuversicht, dass „endlich etwas geschieht“: Da packt wer zu und zieht die Sache durch. Wer auf den Tisch hauen kann, wird auch alles, was einen stört, abstellen. Die eigene mangelhafte Tatkraft und das eigene Ohnmachtsgefühl werden an die starken Männer da oben übertragen, die es dann mit ihrer Durchschlagskraft richten sollen. 

Aggressionen machen Angst, sie versprechen aber auch Abhilfe gegen die Angst. Ohne Zugang zum Gefühl der Wut sind wir ohnmächtig und schwach. Wut ist allerdings niemals konstruktiv. Mit zu viel Aktivierung wird sie immer gewalttätiger und neigt schließlich zur Zerstörung. 

Allzu viele weiße US-Männer wählen keine Frau, und schon gar nicht eine Farbige. Denn sie haben Angst um die Privilegien aus ihrer Männlichkeit und ihrer rassischen Überlegenheit. Nur ein weißer Mann an der Macht kann ihre Ängste beruhigen und ihre Vormachtstellung absichern. Die toxische Mischung aus Patriarchalismus, Autoritätshörigkeit und Aggression habe ich schon an anderer Stelle besprochen.

Die Wut auf „das System“

Die Aggression der rechten Demagogen richtet sich immer wieder gegen abstrakte und anonyme Gestalten wie „das System“. Dieses wird so mächtig und so böse dargestellt, dass es nur einen sinnvollen Weg geben kann, eben dieses System zu zerstören. Und das geht nach der Logik der Revolutionen nur mit Gewalt. Verschwörungsmythen werden genutzt, um diese geheimnisvolle Bedrohung noch mehr aufzublasen.

Alle Rechtsparteien, die an die Macht gekommen sind, haben allerdings „das System“ nie zerstört, sondern im Gegenteil dazu ausgenutzt, um die eigenen Taschen zu füllen. Das Orban-System in Ungarn, das Vorbild für viele Rechtsextreme bis in die USA, ist von systematischer Korruption gekennzeichnet. In Österreich war die FPÖ in diesem Jahrhundert zweimal in der Regierung; die zahlreichen Korruptionsprozesse aus diesen Zeiten (2000 – 2013 und 2017-2019) beschäftigen bis heute die Gerichte.

Aggression als Reaktion auf Komplexität

Schon Alexander der Große hat den komplexen gordischen Knoten nicht durch besonnenes Erforschen und Experimentieren ausgelöst, sondern mit einem Gewaltakt durchschlagen. Die „Männer der Tat“ sind es, die vielen Wählern Hoffnung geben, die sich durch die steigende Komplexität der Welt und der Gesellschaft überfordert fühlen. Donald Trump hat in der Zeit seiner ersten Präsidentschaft kaum Erfolge nachzuweisen, sowohl was die Einwanderung in die USA als auch was die Wirtschaft und den Lebensstandard anbetrifft, und er hat weltpolitisch sehr viel Unsicherheit erzeugt und damit viele Konflikte angeheizt. Aber sein großspuriges und wutdurchtränktes Reden erweckt bei vielen den Eindruck, dass hier jemand bereit ist, die Dinge mit Tatkraft anzugehen, ohne Rücksicht auf Konventionen und Widerstände, ohne sich um die Details zu kümmern, ja sogar, ohne sich um die Wahrheit oder die Gesetze zu scheren. Es ist nicht wichtig, ob die Vorschläge, der er vorgebracht hat, sinnvoll oder zielführend sind; es geht um den emotionalen Eindruck von einem Menschen, der keine Scham kennt und deshalb zu jeder Tat und Schandtat bereit ist. 

Wenn das eigene Leben unüberschaubar oder unkontrollierbar erlebt wird, wenn man sich selber nicht mehr hinaussieht, weil es keine einfachen Lösungen gibt, kommt jemand gerade recht, der selbstbewusst auftritt und seine Vereinfachungen und Falschinformationen lauthals und immer wieder in die aggressionsgeile Medienwelt hinaus posauniert. Je öfter und je eindringlicher etwas gesagt wird, desto wahrer und hilfreicher erscheint es, vor allem, wenn eine innere Deutungsnot besteht. Der Demagoge wird zum Heilsbringer, zum Retter vor allem Übel. Viele Trumpwähler sagen, dass sie zwar die Wortwahl ihres Idols nicht schätzen, aber dennoch meinen, er wäre als einziger in der Lage, für ein besseres Leben zu sorgen. Diese Einschätzung stammt weder aus der Rationalität noch aus einem Wirklichkeitsbezug, weil sie auf einer emotionalen Ebene getroffen wird. Eine rationale Bewertung der Lösungskompetenz und emotionalen Stabilität des Kandidaten müsste zu dem Schluss führen, dass gerade diese Person aufgrund von massiven Persönlichkeitsdefiziten im hohen Maß ungeeignet ist, die Position des mächtigsten Mannes der Welt einzunehmen. Doch treffen Menschen im Allgemeinen keine rationalen Entscheidungen, auch und gerade nicht, wenn sie ihre Stimme bei einer Wahl abgeben. Entscheidungen werden unbewusst in den emotionalen Zentren unseres Gehirns getroffen. Die Rationalität mischt sich nachher ein, indem sie Gründe für die Entscheidung liefert. 

Die Verbreitung der Gewaltsprache

Viele Wähler wählen ja die Rechtsparteien nicht, weil sie so aggressiv auftreten. Es scheint sich die Bevölkerung in den demokratischen hochentwickelten Ländern in zwei Lager abzuspalten: Die einen, denen die Aggressivität in der Politik Angst macht und die sich dafür schämen, und die anderen, die in ihr den einzigen Weg in die Zukunft sehen. Wer auf diese Form der Aggressivität anspricht, verspricht sich von Gewaltlösungen mehr als von abgewogenen und auf unterschiedliche Situationen abgestimmte Maßnahmen. 

Während in den früheren Jahren der Nachkriegszeit die aggressiven Töne in der Politik verpönt waren – allen hallten die menschenverachtenden Propagandareden der Nationalsozialisten in den Ohren nach –, begann sich die Szene in den letzten vierzig Jahren langsam zu verschieben. Immer mehr Gewaltsprache schleicht sich in die politische Debatte ein, und die Leute gewöhnen sich dran. Sie wird Teil des Wortschatzes und zunehmend als normal empfunden. Auf diese Weise werden immer mehr rhetorische Keulen eingeführt und angewendet, und es entsteht eine unheilvolle Dynamik der Aufladung mit immer schärferen Waffen. Irgendwann ist der Schritt zur manifesten Gewalt nicht mehr weit, wie beim Sturm des aufgehetzten rechtsradikalen Mobs auf das Kapitol am 6.1.2021.

Einen wichtigen Beitrag zu der Gewaltaufladung stellt die Verrohung durch die sozialen Medien in den letzten zwanzig Jahren dar. Mit Verrohung ist einerseits ein höherer Grad an Aggression gemeint und andererseits ein höherer Grad an Vereinfachung. Vereinfachte Aggression ist der direkte Weg zur Gewalt. Feindbilder, die die Gewaltbereitschaft steigern, beruhen immer auf vereinfachenden Verallgemeinerungen. Solche plumpen Konstrukte werden von den Demagogen erzeugt und durch die sogenannten sozialen Medien vervielfältigt. 

Von einer ausgleichenden zu einer machtbesessenen Politik

Damit verschiebt sich das öffentliche Gewicht immer mehr vom Überwiegen einer ausgleichenden Erwartung an die Politik zu der Einstellung, dass Politik in Konfrontation und aggressiven Durchsetzung von Machtinteressen besteht. Offenbar wollen immer mehr Menschen, dass nur ihre eigenen Interessen von der Politik befördert werden und verlieren die Sicht auf das Ganze einer Gesellschaft, die nur zusammenhalten kann, wenn möglichst viele Interessen berücksichtigt werden.

Diese Verschiebung bedeutet auch, dass die Rechtsparteien  die anderen Parteien längerfristig dazu zwingen, den gleichen Ton anzuschlagen, mit gleicher Münze zu bezahlen, sobald sie an der Macht sind. Sie zahlen scheinbar nur drauf, wenn sie eine ausgleichende, möglichst viele Teile der Bevölkerung erreichende, also auf eine demokratische Politik verfolgen. Denn viele Wähler und Wählerinnen honorieren nicht das, was ihnen eine ausgewogene Politik gebracht hat, sondern schauen auf das, was ihnen noch immer fehlt oder noch immer zu wenig an materieller Zuwendung oder emotionaler Sicherheit ist. 

Diese Entwicklung, die die Demokratie immer mehr aushöhlt, kann nur umgedreht werden, indem immer mehr Menschen die Gefühlsdynamiken hinter ihrem Wahlverhalten reflektieren und sich nicht mehr von aggressiven Parolen beeindrucken lassen. Zur staatsbürgerlichen Reife gehört auch, dass die Vernunft eine wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung spielen muss: Die rationale Einschätzung der politischen Ideen der einzelnen Parteien in Hinblick auf die eigene Lebenssituation, aber auch auf die ganze Gesellschaft, deren Teil jede*r ist.

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