Mit Metamoderismus wird eine Stufe der
Gesellschaftsentwicklung bezeichnet, die nach der Moderne und Postmoderne
erreicht wird. der Begriff bedeutet so viel wie dass die Menschen durch die Moderne hindurchsehen können, als auch, dass sie
über sie hinaus und jenseits von ihr blicken können.
Drei miteinander verschränkte Versionen des Begriffs Metamodernismus
müssen berücksichtigt werden:
Eine kulturelle Phase
Die erste Bedeutung von Metamoderismus meint, dass es eine
kulturelle Phase gibt, die sich als Zeitgeist durch alle Sphären der Kultur
zieht, ähnlich wie in der Romantik oder Barockzeit. Es gab Zeitalter in der
Geschichte, die von einer vorherrschenden Stimmung, Schwingung und kulturellen
Logik geprägt waren, die auf die Umstände und Ereignisse der jeweiligen Zeit
reagierten.
Eine Entwicklungsstufe
Mit diesem Ausdruck wird auf die Verortung des
Metamoderismus in einer Entwicklungslogik Bezug genommen. Damit ist gemeint,
dass es qualitative Umschwünge zwischen
den einzelnen Stufen gibt, wobei spätere Stufen auf den vorigen aufbauen, aber
nicht umgekehrt. Damit weisen spätere Phasen einen höheren Komplexitätsgrad auf
als frühere. Vergleichbar der menschlichen Entwicklung, bei der die Jugendzeit
auf der Kindheit und den dort erworbenen Fähigkeiten aufbaut, beruhen die
Fortschritte der Postmoderne auf den Errungenschaften der Moderne und nicht
umgekehrt.
Ein philosophisches Paradigma
Unter einem Paradigma wird eine grundlegende Weltsicht
verstanden, die eigene Formen von Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Kultur und
Selbstwissen umfasst, ähnlich wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der
liberalen Demokratie, dem Kapitalismus, der Person als Individuum und den
modernen Wissenschaften verbunden war.
Um eine vage Idee der metamodernen Weltsicht zu bekommen,
habe ich die langen Listen aus dem Anhang des Hanzi-Freinacht-Buches „The Listening Society“
übersetzt; jeder einzelner der Punkte müsste natürlich näher erläutert und
diskutiert werden, und dazu dient eben das Buch. Also lieber Leser, liebe Leserin: Durchtauchen, ohne den Anspruch, alles und jedes zu verstehen, geschweigedenn für richtig oder gut zu befinden!
Die metamoderne Haltung zum Leben
· Außerordentliche Ironie und Ernsthaftigkeit,
zugleich
· Extremer Idealismus und extremer
Machiavellismus.
· Gott ist tot und der Humanismus stirbt, d.h. die
Bedeutungsgebung muss jeder selbst vornehmen.
· Die intellektuelle Einsicht und das intuitive
Spüren der inneren wechselseitigen Verbundenheit von allem: „Das Universum in
einem Sandkorn“.
· Die paradoxe, selbstwidersprüchliche, immer
unvollkommene und gebrochene Natur der Gesellschaft, Kultur und der
Wirklichkeit selbst zu akzeptieren und damit zu gedeihen.
·
Eine allgemeine Sowohl-als auch-Perspektive
o
sowohl die politische Linke als auch die
politische Rechte
o
Sowohl historische Individuen als auch soziale
Strukturen
o
Sowohl Verwaltung und Regierung von oben nach
unten als auch von unten nach oben.
o
Sowohl objektive Wissenschaft als auch subjektive
Erfahrung.
o
Sowohl Kooperation als auch Konkurrenz.
o
Sowohl extremer Säkularismus als auch ernsthafte
Spiritualität.
· Sowohl eine systematische Philosophie (wie
Platon und die Naturwissenschaften) als auch eine prozessorientierte
Philosophie mit offenem Ende (wie Nietzsche oder die kritischen
Sozialwissenschaften)
· Die Erkenntnis der Unbeständigkeit aller Dinge,
dass das Leben und die Existenz immer im Fluss sind, ein Prozess des Werdens,
der Emergenz, der Immanenz und des immerpräsenten Todes.
· Die Sicht auf das normale bürgerliche Leben und
seine assoziierte Normalität und professionelle Identität als ungenügende
Manifestationen der Größe und Schönheit der Existenz.
· Die Übernahme einer spielerischen Haltung zum
Leben und zur Existenz, eine Leichtigkeit, die von uns die tiefste
Ernsthaftigkeit erfordert, in Hinblick auf die stets verfügbaren Potenziale von
unvorstellbarem Leiden und Glücklichsein.
Die metamoderne Sicht der Wissenschaft
- Die Anerkennung der Wissenschaft als
unverzichtbare Form des Wissens.
- Die Sichtweise, dass die Wissenschaften immer
kontextual und die Wahrheit immer vorläufig ist – dass die Wirklichkeit immer
noch tiefere Wahrheiten beinhaltet.
- Das Verständnis, dass unterschiedliche
Wissenschaften und Paradigmen gleichzeitig wahr sind; das viele ihrer
Widersprüche oberflächlich sind und auf Fehlwahrnehmungen oder Übersetzungsfehlern beruhen.
- Die Erkenntnis, dass es grundlegende Einsichten
und relevantes Wissen in allen Stufen der menschlichen Entwicklung gegeben hat,
darunter das tribale Leben, der Vielgötterglaube, die traditionelle Theologie,
die moderne Industrialisierung und die postmoderne Kritik.
- Die Verkörperung der Nichtlinearität in allen
nichtmechanischen Zusammenhängen wie Gesellschaft und Kultur. Nichtlinearität heißt,
dass sich der Output eines Systems nicht proportional zum Input verhält.
- Das Hochhalten einer fallsensitiven Skepsis
gegen mechanische Modelle und lineare Kausalbeziehungen.
- Eine systemische Lebenssicht mit der Erkenntnis,
dass alle Dinge Teil von selbstorganisierenden Systemen von unten nach oben
sind: von subatomaren Einheiten zu Atompartikeln zu Molekülen zu Zellen zu
Organismen.
- Die Einsicht, dass Dinge lebendig und
selbstorganisierend sind, weil sie
auseinanderfallen – dass das Leben immer ein Wirbelwind der Zerstörung ist: Der
einzige Weg zur Erschaffung und Aufrechterhaltung eines geordneten Musters
besteht darin, eine entsprechende Unordnung zu erschaffen. Das sind die
Prinzipien der Autopoiesis: Entropie (Dinge zerfallen) und negative Entropie
(das Auseinanderfallen macht das Leben möglich).
- Die Akzeptanz einer verbindenden, übergreifenden
Weltsicht, die alle Menschen und andere Organismen haben, eine tolle Geschichte
oder eine überragende Erzählung; deshalb die Akzeptanz der Notwendigkeit einer
die ganze Welt übergreifenden Geschichte. Wer eine solche Geschichte erzählt,
sollte das leicht halten, denn sie kann nie frei von Fiktion sein.
- Das Wichtignehmen von ontologischen Fragen, d.h.
die Frage sollte in Wissenschaft und Politik leitend sein, „was wirklich
wirklich ist.“
Die metamoderne Sicht der Wirklichkeit
- Die Einsicht in die fraktale Natur der
Wirklichkeit und der Entwicklung und Anwendung von Ideen, dass alles Verstehen
darin besteht, dass wiederverwendete Elemente von anderen Formen des Verstehens
übernommen werden.
- Eine antiessentielle Position einnehmen: Kein
Glaube an „ultimative Wesenheiten“ wie Materie, Bewusstsein, das Gute, das
Böse, Männlichkeit, Weiblichkeit oder ähnliches – sondern dass all diese Themen
kontextual sind und Interpretationen, die aus Beziehungen und Vergleichen
bezogen werden. Auch die vielgepriesene
„Bezogenheit“ ist kein Wesen des Universums.
- Die Aufgabe des Glaubens an ein atomistisches
und mechanistisches Universum, in dem die letztliche Sache die Materie ist, sondern
vielmehr die Sichtweise, dass die letztliche Natur der Realität eine große
Unbekannte ist, die wir metaphorisch durch unsere Symbole, Wörter und
Geschichten einfangen müssen. Darin kann die Welt so gesehen werden, dass sie
wieder und wieder neu geboren wird.
- Die Erkenntnis, dass die Welt radikal, unbeugsam
und vollständig sozial konstruiert ist, immer relativ und kontextgebunden.
- Die Erkenntnis, dass die Welt durch komplexe
Interaktionen seiner Teile emergiert und dass unser intuitives Verstehen meistens
viel zu statisch und monokausal abläuft. Diese Komplexität ist das fundamentale
Prinzip nicht nur der Meteorologie, sondern auch der Sozialpsychologie.
- Die Akzeptanz der Notwendigkeit von
Entwicklungshierarchien – mit der kritischen Vorsicht in Bezug auf die Art der
Beschreibung und Verwendung. Diese Hierarchien müssen empirisch studiert und
nicht willkürlich vermutet werden.
- Die Erkenntnis, dass die Sprache und damit all
unsere Weltbilder durch einen viel größeren Raum von möglichen, nie konzeptualisierten
Welten reisen; dass sich die Sprache entwickelt.
- Die holistische Weltsicht, in der Dinge wie
wissenschaftliche Fakten, Perspektiven, Kulturen und Emotionen interagieren.
- Die Erkenntnis, dass Information und
Informationsverarbeitung fundamental für alle Aspekte der Realität und der
Gesellschaft ist: von den Genen zu Memen zu Geldsystemen, Wissenschaft und
politischen Revolutionen.
- Die Akzeptanz einer informationellen darwinistischen
Sichtweise, bei der sowohl die Gene (Organismen) als auch die Memes (die
Kulturmuster) um das Überleben in einem Prozess der Entwicklungsevolution
konkurrieren, der die negative Auslese beinhaltet (dass schlechter angepasste
Gene und Meme aussterben, aber als Möglichkeiten erhalten bleiben).
- Die Erkenntnis, dass die darwinistische
Evolution gleichermaßen von wechselseitiger Kooperation und Konkurrenz abhängt
und beide immer miteinander verwoben sind.
- Die Erkenntnis des dynamischen Wechselspiels
zwischen dem Universalen und Partikularen, in dem z.B. Menschen in komplexeren
Gesellschaften individualistischer werden, was wiederum zur Entwicklung von
komplexeren Gesellschaften führt, in denen die Menschen unabhängiger werden und
universellere Werte benötigt werden, um einen Zusammenbruch zu vermeiden.
- Die Erkenntnis, dass die Welt nach einer
dialektischen Logik funktioniert, in der die Dinge immer gebrochen sind,
sozusagen „nach hinten taumeln“; dass
die Dinge immer nach einer unmöglichen Balance streben und dass zufällige
Bewegungen den ganzen Tanz erschaffen, den wir die Realität nennen. Also
verfügt die Entwicklung der Wirklichkeit über Direktionalität, doch wir sind
immer blind für diese Richtung; von da kommt die Metapher des
„Rückwärts-Taumelns“.
- Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit
grundlegend ein offenes Ende hat und sozusagen gebrochen ist, selbst in ihrer
mathematischen und physikalischen Struktur, wie das Gödel in seinem
Unvollständigkeitstheorem gezeigt hat und wie einige Schlüsselentdeckungen der
modernen Physik belegen.
- Die Anerkennung, dass Potenziale und
Potenzialität die fundamentalste oder „realere“ Realität konstituieren, und
weniger Fakten und Aktualitäten. Was wir üblicherweise als Realität bezeichnen,
ist nur „Aktualität“, ein Stückchen
eines unendlich größeren, hyperkomplexen Kuchens. Aktualität ist nur ein „Fall
von“ einer tieferen Realität, die die „absolute Totalität“ genannt wird.
- Das Erleben von Visionen von Panpsychismus, d.h.
dass das Bewusstsein überall im Universum ist und dass es so real ist wie
Materie und Raum. Aber Panpsychismus sollte nicht mit animistischen Visionen
verwechselt werden, bei denen alle Dinge „Geister“ haben.
Metamoderne Spiritualität, Existenz und Ästhetik
- Das Ernstnehmen von existentiellen und
spirituellen Sachen; die Sichtweise von Humanität, Intelligenz und Bewusstsein
als Ausdrücken von höheren Prinzipien, die im Universum enthalten sind.
- Die Erkenntnis, dass sich esoterische,
spirituelle Disziplinen und Weisheitstraditionen im Osten und Westen auf
wirkliche Einsichten von großer Bedeutung beziehen – eine Anerkennung der
Wichtigkeit von Mystizismus.
- Das Verfügen über einer sorgfältigen,
unwissenden und explorativen Denkweise in Hinblick auf Spiritualität und Existenz.
- Das Verständnis, dass sich höhere, weitere
subjektive Zustände auf höhere existentielle und spirituelle Wahrheiten
beziehen als die meisten Erfahrungen des täglichen Lebens.
- Die Einsicht, dass die innere Erfahrung – und
die direkte Entwicklung der Subjektivität von Organismen – zentral für alles
ist, und das ist vielleicht die Hauptzutat, die in der Perspektive der modernen
Welt fehlt; die Anerkennung der inneren Erfahrung ist oft der goldene Schlüssel
zum Umgang mit sozialen Problemen.
- Das Ernstnehmen von philosophischen, kulturellen
und ästhetischen Angelegenheiten, weil sie als inhärente Dimensionen der Realität
angesehen werden.
- Die Schaffung von Kunst und Architektur, die auf
die Tiefe und das Geheimnis der Existenz anspielt, ohne zu offensichtlich zu
sein oder mit Ratschlägen oder Wirklichkeitskonzepten zu kommen.
- Die Unterstützung eine Spiritualität, die
demokratisch, intersubjektiv, teilhabend, wissenschaftlich unterstützt und
zweiseitig ist, anstelle von traditionellen Wegen, Lehrern, Gurus oder
Autoritäten.
- Die Erkenntnis, dass sowohl spirituelle als auch
nichtspirituelle Lebenserfahrungen und Weltbilder grundsätzlich in Ordnung
sind. Spiritualität und Nicht-Spiritualität: Keines von beiden ist in sich
besser als das andere.
- Das Verstehen, dass Menschen grundsätzlich
verrückt sind, dass unser alltagsbewusstsein keine gesunde Reflexion der
Wirklichkeit erlaubt, sondern eine bizarre, psychotische Halluzination
darstellt, die äußerst relativ, erfunden und willkürlich ist.
- Die Intuition, dass die zentrale spirituelle und
existentielle Einsicht die Vollendung der absoluten Totalität darstellt, wie
sie schon immer ist; dass es eine makellose, erhabene Klarheit unterhalb all
des Chaos und der Widersprüchlichkeit gibt; dass es eine darunterliegende
Eleganz sogar in den oft tragischen, höllenähnlichen Erfahrungen des Lebens
gibt; versteckt im sozusagen auf dem Präsentierteller. Das kann als die
Erkenntnis des grundlegenden Gutseins bezeichnet werden.
Die
metamoderne Sicht der Gesellschaft
- Die Erkenntnis, dass es keinen fundamentalen
Unterschied zwischen Natur und Kultur gibt.
- Die Erkenntnis, dass wir in einer neuen Ära der
Technologie leben (das Informationszeitalter) und dass sich die menschlichen Gesellschaften
durch unterschiedliche Entwicklungsstufen zum Besseren oder Schlechteren weiter
entfalten.
- Der Glaube, dass die Geschichte eine Art von
Gerichtetheit hat, die auf Logik beruht, dass aber diese Gerichtetheit nie
sicher gewusst sein kann, sondern nur metaphorisch und als Geschichte –
spielerisch und zweckvoll.
- Der Glaube, dass wir das Wissen, das wir über
die Gesellschaft haben, immer zu einer Art von darüber gespanntem Narrativ zusammenfügen
können, eine Meta-Erzählung, aber dass diese Metaerzählung nie für eine
komplette Synthese gehalten werden darf, sondern immer nur als notwendige
Protosynthese, unter kritischer Beobachtung.
- Das Einnehmen einer nomadischen Sichtweise des
sozialen Lebens; das Wissen, dass unser „Selbst“ Teil eines sozialen Flusses
ist, einer Reise – und dass wir im Internet-Zeitalter mit unseren virtuellen
Identitäten tribaler und nomadischer werden.
- Das Feiern der teilhabenden Kultur und der
Ko-Kreation der Gesellschaft durch nichtlineare interaktive Prozesse, bei denen
das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
- Die Erkenntnis der Wichtigkeit von kollektiver
Intelligenz (nicht zu verwechseln mit einem kollektiven Bewusstsein nach C.G.
Jung; das gehört nicht zum metamodernen Paradigma). Kollektive Intelligenz ist
die Fähigkeit einer Gruppe oder Gesellschaft, Probleme zu lösen und auf
kollektive Herausforderungen zu reagieren.
- Das Verständnis, dass Technologie nicht neutral
ist, nicht nur ein „Werkzeug in unseren Händen“, sondern dass sie ihre eigenen
Pläne und ihre eigene Logik entwickelt, die die Geschichte formt und steuert.
- Die Erkenntnis, dass die Nachhaltigkeit und
Resilienz eine Grundfrage allen sozialen Lebens ist.
- Die Erkenntnis, dass die Sexualität und die
sexuelle Entwicklung ein weitgehend übersehenes zentrales Stück im
Mainstream-Verständnis aller menschlichen Gesellschaften darstellt. Die
Sexualität hat eine besondere erklärende, verhaltenssteuernde und voraussagbare
Kraft.
- Die Erkenntnis, dass das „Alltagsleben“ etwas
ist, das die Menschheit übersteigen kann und soll, zugunsten einer aktuelleren
und authentischeren Lebensweise und Gemeinschaft.
- Das Ernstnehmen der Rechte und der
Lebenserfahrung aller Tiere, der menschlichen wie der nichtmenschlichen. Die
menschliche Gesellschaft ist nur eine kognitive Kategorie, und diese Kategorie
kann genausogut alle Kulturen, alle tiefenökologischen Wesenheiten (Ökosysteme,
Biotope) und alle fühlenden Wesen miteinschließen.
Das
metamoderne Menschenbild
- Die Erkenntnis, dass die Menschen verhaltensgesteuerte
organische „Roboter“ sind, kontrolliert von unseren Reaktionen auf die Umwelt,
und dass wir zugleich subjektive, selbstorganisierende und lebendige Wesen mit
großer existentieller Tiefe sind.
- Die Erkenntnis, dass meine Identität und mein „Selbst“
letztlich nicht mein Körper oder die Stimme, die aus meinem Kopf redet, sind;
oder zumindest, dass meine grundlegende Identität nicht durch diese Alltagskonzeption
von einem Selbst (mein Körper und die Stimme, die aus meinem Kopf redet), das,
was manchmal als das „Ego“ bezeichnet wird, erschöpft ist. Das Ego ist nur eine
Idee, ein Wahrnehmungsobjekt wie jede andere erfundene Kategorie, die ein Objekt
bezeichnet.
- Die Übernahme einer tiefenpsychologischen
Haltung zur Menschheit, mit der Erkenntnis, dass ihr Bewusstsein
transformierbar ist durch die Veränderung des fundamentalen Sinns von Selbst
und von Realität. Das kann durch Psychoanalyse und Liebesbeziehungen genauso
wie durch athletische, ästhetische, erotische, intellektuelle und spirituelle
Übungen erreicht werden, wobei die kontemplative Mystik als besonders
wertvoller Weg herausragt.
- Die Erkenntnis, dass jede Person eine
dreidimensionale Sicht der Wirklichkeit hat, die aus einer Ontologie besteht
(ein starker Sinn dafür, was wirklich ist), einer Ideologie (ein starker Sinn
dafür, was richtig ist) und einem Selbst (ein starker Sinn für den eigenen
Platz in der Wirklichkeit) – und dass diese drei Dimensionen als Muster
beschrieben werden können, das sich reihenförmig in Entwicklungsstufen
entfaltet.
- Die Erkenntnis, dass sich verschiedene
menschliche Organismen auf grundlegend unterschiedlichen Entwicklungsniveaus
befinden und deshalb sehr verschiedene Verhaltensmuster aufweisen.
- Das Verständnis eines transpersonalen
Menschenbildes, in dem die tiefsten inneren Tiefen intrinsisch mit den
scheinbar starren Strukturen der Gesellschaft verknüpft sind. Das menschliche
Wesen ist nicht individuell – seine tiefste Identität reicht durch und jenseits
des Individuums, der Person. Die „Person“ ist nur eine Maske, eine Rolle,
abhängig vom jeweiligen Kontext. Sie ist nicht im Individuum enthalten, selbst
wenn der menschliche Organismus mit der Verhaltenswissenschaft beschrieben
werden kann.
- Die Erkenntnis, dass in einer transpersonalen
Sichtweise die individuellen Leute für nichts beschuldigt werden können. Jeder
Moralismus ist nutzlos. Das führt zu einem radikalen Akzeptieren der Leute wie
sie sind; ein radikales Nicht-Urteilen, das auch als ziviles, unpersönliches
und säkulares Angebot der Nächstenliebe beschrieben werden kann.
- Die Erkenntnis, dass das menschliche Dividuum
viele Schichten aufweist, dass es zugleich Tier, „Mensch“ mit einer Vielzahl
von Rollen ist, mit höheren Potenzialen in ihm – und dass es durch
Interaktionen solcher Schichten innerhalb verschiedener Menschen geboren wird.
Daraus folgen einige wichtige Implikationen:
o
Die vielschichte Psyche hat zugleich unbewusste,
bewusste und überbewusste Prozesse (wobei die überbewussten Prozesse höhere und
subtilere Intelligenz wie universelle Liebe, philosophische Einsicht, tiefste
künstlerische Inspiration usw. umfasst.)
o
Die höheren Schichten der Psyche folgen generelleren,
abstrakteren und universelleren Logiken, während die tieferen Schichten
gröberen, selbstbezogeneren und konkreteren Logiken folgen. Aber sie arbeiten
gleichzeitig und interagieren miteinander.
o
Die vielschichtige Natur der dividuellen Seele
besagt, dass wir oft die unbewussten und überbewussten Schichten aneinander
wahrnehmen können; wir können oft andere besser verstehen als uns selbst. Deshalb
sind Praktiken wie Psychoanalyse oder Psychiatrie möglich. Das heißt auch, dass
meine Handlungsfähigkeit aus dir abstammen kann und umgekehrt.
o
Diese transpersonale Sichtweise behauptet, dass
unsere Selbste und selbst unsere Körper nicht „abgesiegelt“ oder „autonom“
sind; wir entwickeln uns zusammen in einem großen vieldimensionalen Netzwerk. Dieses
Netzwerk folgt einer Logik, die sich für unseren individuellen Denkprozess oft
sehr fremd anfühlt.
- Das Anerkennen des nicht absprechbaren Rechts
jeder Kreatur, zu sein, wer sie ist.
- Ein nichtanthropozentrisches Bild der
Wirklichkeit, in dem die menschliche Erfahrung nicht als das Maß aller Dinge
angesehen wird.
- Die Akzeptanz der Idee, dass sich die Biologie
und grundlegende Lebenserfahrung durch Wissenschaft und Technologie ändern kann
und wird, was als Transhumanismus bezeichnet wird.
- Das Ausweiten der Solidarität zur
nächstmöglichen Solidarität: Liebe und Fürsorge für alle fühlenden Wesen, zu
allen Zeiten, aus allen Perspektiven, von der größtmöglichen Tiefe unseres
Herzens.
Der Text stammt aus dem Buch: Hanzi Freinacht: The Listening Society. A Metamodern Guide to Politics. Book One. Metamoderna 2017, S. 361 - 370, Übersetzung mit leichten Kürzungen.
Hanzi Freinacht wurde von den schwedischen Wissenschaftlern Daniel Görtz und Emil Ejner
Friis erfunden.