Ist der Glaube an Verschwörungstheorien normal oder wahnhaft?
Etwa die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung glaubt an die eine oder andere Verschwörungstheorie. Ein Drittel der deutschen Bevölkerung glaubt, dass „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ seien. Verschwörungstheorien sind also so weit verbreitet, dass es keinen Sinn macht, diese Formen des Glaubens als krankhaft zu bezeichnen. Auch wenn manche dieser Theorien so abstrus erscheinen, dass einem das Verständnis schwer fällt, warum Menschen auf derartigen Schwachsinn hereinfallen. Allerdings ist es aber auch nicht besonders vernünftig, Menschen zu verachten, die nicht auf der eigenen Wellenlänge der Weltsicht sind.
Aber vielleicht sind die Anhänger von Verschwörungstheorien einfach weniger intelligent. Die Forscher haben allerdings herausgefunden, dass sie sich selbst zwar für weniger klug halten und dass sie einfache Lösungen für komplexe Probleme bevorzugen, aber die erhobenen Daten sind zu schwach, um den Verschwörungsglauben auf geringere Intelligenz zurückführen zu können. Der Verschwörungsglaube ist ein weit verbreitetes und deshalb ziemlich normales Phänomen (Stelzer 191). Zwar halten diejenigen, die nicht an Verschwörungen glauben, die Verschwörungsgläubigen oft für abnormal und verrückt, andererseits taucht das Phänomen so häufig auf, dass es kein Zeichen einer psychischen Störung sein kann.
Paranoia und Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien enthalten paranoide Elemente, aber müssen dennoch von anderen Formen des Wahns unterschieden werden. Gemeinsam ist beiden, dass sie eine psychisch entlastende Funktion haben. Eine Erklärung über beunruhigende Entwicklungen in der Welt zu haben, reduziert die Angst und wirkt entspannend. Die Ereignisse in der Welt sind nur sehr eingeschränkt vorhersehbar, und Unvorhersehbares birgt immer mögliche Gefahren in sich. Um uns sicher fühlen zu können, brauchen wir also verlässliche Prognosen. Wo diese nicht anderweitig angeboten oder gefunden werden, finden Verschwörungstheorien ihren Platz.
Bob Brotherton schreibt: „Wenn uns Dinge aus reinem Zufall zustoßen, dann haben wir kaum Hoffnung darauf, unser Schicksal zu verstehen, vorherzusagen oder zu kontrollieren. Daran zu glauben, dass irgendjemand irgendwo die Kontrolle hat − selbst wenn dieser irgendjemand nicht unser Wohl im Sinn hat −, ist uns lieber, als zu denken, dass der Verlauf unseres Lebens allein vom Zufall diktiert wird. Im Gegensatz zu einer gesichtslosen Zufälligkeit kann man erkennbaren Feinden möglicherweise das Handwerk legen, kann mit ihnen zurechtkommen oder sie wenigstens verstehen.
Verschwörungstheorien sind einfach zu verstehen und verringern die Unübersichtlichkeit und Komplexität der Welt. Sie sind nicht wegen der Stichhaltigkeit ihrer Inhalte erfolgreich, sondern wegen ihrer Fähigkeit, Widersprüche aufzulösen, mit einer bestimmten Plausibilität. Sie berufen sich zwar auf Fakten, aber solche, die nicht widerlegt werden können, und sie stellen Fakten in Kontexte, die willkürlich gewählt und nicht überprüfbar sind. Aber allemal erscheint es besser, „dem bekannten Teufel zu glauben als einer Welt, die wir nicht kennen“, so ein Forscher zu dem Thema. Deshalb wird oft in gleicher Weise an einer entsprechenden Theorie festgehalten wie das psychisch Kranke mit ihrem Wahn tun. Die Überzeugung tritt ins Zentrum des Sinnerlebens und muss dann um jeden Preis aufrechterhalten werden, denn sonst besteht die Gefahr, dass alles im Zweifel steht und die Unsicherheit und damit die Angst übermächtig wird.
Der US-amerikanische Psychologe Leon Festinger, der den Begriff der kognitiven Dissonanz erfunden hat, hat sich in diesem Zusammenhang mit einer UFO-Sekte beschäftigt, die behauptet hat, dass sie in der Nacht vom 20. auf den 21. Dezember des Jahres 1954 (vergleiche: auch 2012 sollte die Welt am 21. Dezember untergehen...) von Raumschiffen abgeholt und so als Auserwählte von einer drohenden Flutkatastrophe errettet werden. Das Ereignis ist nicht eingetreten, und einige sind von der Sekte abgefallen, aber bei anderen hat sich die Überzeugung weiter verfestigt. Psychotische Patienten berichten, dass sie ihre Zwangsgedanken nicht aufgeben wollen, weil sonst die Angst zu stark wird; Ähnliches erzählten die UFO-Gläubigen, die weiter an ihrer Auserwähltheit festhielten. Es steckt also immer eine Not hinter solchen Überzeugungen, und je größer sie ist, desto wichtiger ist der Glaube und desto stärker sein Gewinn auf der psychischen Ebene. Studien haben ergeben, dass die Neigung zu Verschwörungstheorien durch belastende Lebensereignisse verstärkt wird. Traumatische Erfahrungen erzeugen starke innere Ängste, verbunden mit Hilflosigkeit und Kontrollverlust, und Glaubensmodelle können diesen Stress zumindest teilweise lindern.
Die soziale Funktion von Verschwörungstheorien
Psychische Krankheiten und Verschwörungsglaube unterscheiden sich darin, dass Psychosen individuelle und kaum vergleichbare Wahnvorstellungen sind und zu sozialer Isolation führen, während Verschwörungstheorien immer in Gruppen von Gleichgesinnten geteilt werden und deshalb auch eine sozial verbindende Funktion ausüben. Man gehört der Gruppe von besonders Informierten an und hat etwas verstanden, was die anderen in ihrer Naivität und Verblendung noch nicht begriffen haben. Zwar neigen paranoide Personen verstärkt zu Verschwörungstheorien, aber Paranoide haben vor allem Angst vor Anderen, die sie als Personen bedrohen, z.B. feindliche Geheimdienstleute, die einem auf den Fersen ist. Verschwörungstheorien dagegen lokalisieren die Gefahr in „Eliten“, geheimen Zirkeln und Menschengruppen, z.B. in den Juden. Die Gefahr betrifft weniger die eigene Person als vielmehr die Gesellschaft als Ganze. Der Kontrollverlust wird hier auf sie bezogen: Die globale Entwicklung können „die kleinen Leute“ nicht mehr beeinflussen, während die Verschwörer über eine unbeschränkte Macht verfügen. Verschwörungstheorien haben immer auch einen missionarischen Anteil: Durch ihre Kenntnis soll die Welt gerettet werden, die in Gefahr schwebt, und deshalb ist es wichtig, möglichst viele Mitstreiter zu gewinnen. Wahnerkrankte dagegen fühlen sich oft mit ihrem Leid alleine und geraten oft in soziale Isolation.
Verschwörungstheorien kann man deshalb als irrationale Wahngebilde verstehen, die von anderen geteilt werden und dazu dienen, komplexe Zusammenhänge, die bedrohlich wirken, einfach zu erklären. Sie sind kein Ausdruck von psychischer Krankheit, obwohl Paranoide stärker zu solchen Theorien neigen als der Durchschnitt. Die Neigung, die Welt auf irrationale Weise zu erklären, ist Teil der menschlichen Grundausstattung, oder ein wichtiger Aspekt der Funktionsweise unseres Gehirns.
Diejenigen, die an die Theorie glauben, verknüpfen mit dem Glauben ihr Sinnerleben und ihre Identität, sodass der Preis hoch wäre, sich durch das Erkennen von Unstimmigkeiten oder Widersprüchen von der Theorie zu verabschieden. Aus diesem Grund ist es bekanntlich mühsam, mit Verschwörungsgläubigen über ihre Theorien zu debattieren. Manchmal entsteht sogar der Eindruck, dass selbst eine geduldige Auseinandersetzung und ein ruhiges Einbringen von Gegenargumenten bei der anderen Person das Beharren auf der Richtigkeit der eigenen Position noch verhärtet. Dieses Phänomen wird als Backfire-Effekt bezeichnet: Der Versuch, Menschen von ihrer möglicherweise irrigen Überzeugung abzubringen, führt dazu, dass sie an dieser Überzeugung noch stärker festhalten, der Versuch geht also nach hinten los.
Allerdings gibt es inzwischen auch Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass die Konfrontation mit Informationen, die der eigenen Theorie widersprechen, doch zu einem gewissen Aufweichen und Relativieren der Sichtweise führen kann. Kein Wahnsystem ist grundsätzlich unveränderbar, und manchmal lohnt sich die Mühe des Gesprächs. Der Backfire-Effekt tritt vor allem dann auf, wenn es nicht nur um die Richtigkeit der Theorie geht, sondern wenn das Bekenntnis zu einer Theorie wichtig für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ist. Die Angst, aus der Gruppe der Gleichgläubigen herauszufallen, ist größer als das Streben nach Wahrheit.
Der rationale Umgang mit der Irrationalität
In der Psychotherapie geht es im Grund immer darum, fix gefasste Überzeugungen aufzudröseln. Es kann die Überzeugung sein, selbst nichts wert zu sein oder mit der falschen Partnerin verheiratet zu sein. Es kann der Glaube sein, dass das Leben keinen Sinn hat oder dass das eigene Aussehen alle anderen abstößt usw. Wir erleben in diesem Zusammenhang immer wieder, dass durch die vertrauensvolle und akzeptierende Haltung der Therapeutin die Sicherheit entsteht, eigene Annahmen über sich selbst, über die Mitmenschen und über die Welt zu überprüfen und zu verabschieden. Wir lernen, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir entscheiden können, welche Überzeugungen uns dienlich und förderlich sind und welche uns selber schaden. Indem wir die Gefühle erkennen und die entsprechenden Muster auflösen, die hinter den Überzeugungen stecken, fällt es uns immer leichter, dass wir uns von den fixierten und oft schon in früher Kindheit angenommenen Glaubenssätzen und Theorien befreien.
Wir können auch ohne Therapie aus der Irrationalität herausfinden, die uns immer wieder zu Verzerrungen und Verkürzungen in der Realitätserfahrung verleitet. Wir haben die Fähigkeit, unsere Irrationalität rational zu verstehen, indem wir nachprüfen, wo wir an Überzeugungen festhalten, die möglicherweise schwach begründet sind oder die wir in Wirklichkeit gar nicht brauchen. Wir können mit uns selbst so kritisch umgehen, wie wir das mit unseren Mitmenschen tun, und uns immer wieder fragen, was denn passieren würde, wenn wir die eine oder andere Überzeugung revidieren. Überzeugungen sind keine Tatsachen, sondern Hypothesen über die Realität, die nie absolut wahr sind, sondern immer nur mehr oder weniger akkurat zutreffen. Wir gewinnen mit der Selbstüberprüfung ein wichtiges Stück innerer Freiheit.
Denn wenn wir unsere eigene Irrationalität auf diese Weise verstehen und uns ihrer bewusst sind, dann sind wir freier in unserer Entscheidung, wie wir mit ihr umgehen. Das hieße, dass wir uns vornehmen könnten, anderen mit unserer Irrationalität keinen Schaden zuzufügen. Es hilft auch, mehr Toleranz zu entwickeln, indem wir verstehen, dass irrationale Erklärungsmodelle immer aus nachvollziehbaren Gründen gewählt werden. So müssen wir andere nicht mehr wegen ihrer „Spinnereien“ abwerten. Denn wir kennen unsere eigenen Schwächen und Kurzschlüsse, die anderen vielleicht als verrückt oder gestört erscheinen.
Literatur:
Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Berlin: Ullstein 2022
Bob Brotherton : Suspicious Minds. Why We Believe Conspiracy Theories. London: Bloomsbury Sigma 2016
Zum Weiterlesen:
Unser Gehirn, eine Vorhersagemaschine
Angstkonditionierung und Corona-Reaktion
Hochsaison für Verschwörungstheorien