Montag, 23. Juni 2025

Das "Recht des Stärkeren"

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von dem Bemühen vieler Politiker, die Willkür einzelner Machthaber einzugrenzen und durch übergeordnete Gesetze zu regulieren. Es ist die UNO als weltweite Organisation entstanden, der mittlerweile fast alle Staaten der Welt angehören. Die EU wurde auch als Friedensprojekt gegründet, aus der Erkenntnis heraus, dass im 20. Jahrhundert die beiden Weltkriege ihren Anfang in Europa genommen haben. Es wurde internationale Gerichtshöfe ins Leben gerufen, um Kriegsverbrechen weltweit zu ahnden. Es hat in dieser Zeit immer wieder Kriege gegeben, die durch willkürliche Machtansprüche entfesselt wurden. Doch schien ein großer Teil der Weltbevölkerung und der Staaten von der Überzeugung getragen, dass das Recht (das nationale und das Völkerrecht) der Willkür vorangeht. Mächtige haben immer wieder versucht, das Recht in ihrem Sinn zu verbiegen, doch sind sie meist über kurz oder lang gescheitert. 

Wir erleben in dieser Zeit Entwicklungen, die den Anschein erwecken, dass der Konsens jener, die für die rechtliche Regulierung der Willkür eintreten, schwindet zugunsten jener, die das „Recht“ des Stärkeren propagieren und durchsetzen. Schon bei der ersten Präsidentschaft von Donald Trump wurde dieser Schritt vollzogen, doch vor allem nur im Inneren der USA. Viele dieser Willkürakte wurden von der darauf folgenden Regierung wieder rückgängig gemacht. Die zweite Präsidentschaft hat Trump nun von Anfang an ganz offen auf vielen Ebenen durch das Prinzip des Mächtigeren und Stärkeren gegenüber dem Recht ausgerichtet. Gerichtsentscheide werden von der Regierung einfach ignoriert, Richter diffamiert oder abgesetzt. Die Exekutive stellt sich über die Legislative und über die Jurisdiktion, und damit gibt es keine Gewaltenteilung mehr. Wo die Gewaltenteilung ausgehebelt ist, ist eine Diktatur entstanden – die USA befinden sich gerade auf diesem Weg.

Die Konkurrenz der Autokratien und die EU

Die mächtigsten Staaten der Welt, USA, Russland und China, sind damit Diktaturen oder Halbdiktaturen. Sie befinden sich in fortlaufenden Konkurrenzspannungen, die manchmal zu kriegerischen Auseinandersetzungen, oft über Stellvertreter, führen. Die EU, zwar als Wirtschaftsraum mächtig, kann diesen Staaten auf militärischem Gebiet  nichts entgegensetzen. Außerdem fehlt die politische Geschlossenheit in dem Vielstaatengebilde. Aber der Grundkonsens der EU besteht nach wie vor darin, der demokratischen Willensbildung, der Gewaltenteilung und der Korruptionskontrolle den Vorrang einzuräumen, auch wenn es einzelne rechtsgerichtete Regierungen gibt, die diesen Konsens zu unterlaufen versuchen. 

Die politische Weltlandschaft ist also zurzeit so beschaffen, dass die EU den einzigen demokratisch funktionierenden Gegenpol zu den drei autokratisch regierten Weltmächten darstellt. Als 1945 vorgeschlagen wurde, den Papst in die Neuordnung der Welt nach dem 2. Weltkrieg einzubinden, soll Stalin gefragt haben: „Wieviele Divisionen hat der Papst?“ Ähnlich scheint es sich mit dem moralischen Gewicht, das die EU in die Machtthemen der Welt einbringen will, zu verhalten. Wer über die größere Zerstörungskraft verfügt, kann vorgeben, wo es lang geht, wer nicht mit militärischer Übermacht drohen kann, muss sich fügen. Es helfen keine frommen Gebete und moralischen Appelle, wenn die Geschütze losdonnern und die Bombenteppiche ausgebreitet werden. 

Deshalb hat die EU nur die Wahl, weltpolitisch eine nachgeordnete Geige zu spielen oder aufzurüsten, um die europäischen Werte, die der Aufklärung verdankt und verpflichtet sind, mit Gewicht in die verschiedenen Konflikte einzubringen und damit für mehr Menschlichkeit und weniger Willkür zu sorgen. Die Weltlage ist zurzeit so beschaffen, dass es keinen anderen Player gibt, der diese Aufgabe wahrnimmt.

Die Rechtlosigkeit des „Rechts des Stärkeren“

Das „Recht des Stärkeren“, das von Diktatoren und autoritären Herrschern beansprucht wird, ist allerdings kein Recht, sondern besteht in der Außerkraftsetzung des geltenden Rechts. Es ist nichts als die gewaltsame Durchsetzung eigener Willkür. Der blanke Egoismus soll mit der Überstülpung des Begriffes des „Rechts“ eine moralische Legitimation erhalten. Was Recht ist, was erlaubt und was richtig ist, wird vom Machthaber festgelegt und durchgesetzt. Moralische Überlegungen spielen keine Rolle. 

Willkürherrschaft ist ungeeignet für eine moderne Gesellschaft.

Historisch betrachtet, geht die Zurückdrängung von Willkürherrschaft einher mit der Entwicklung von Rechtsstaaten, in denen die Herrschenden auf Gerechtigkeit und Ausgleich achten, damit die immer komplexer werdende Gesellschaft mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt mitkommen kann. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, bei denen die Gesellschaft hinter dem Fortschritt zurückgeblieben ist, und dann kam es fast unweigerlich zu Unruhen und Aufständen. Die großen Revolutionen haben alle mit solchen Spannungszuständen zu tun. 

In einer modernen Gesellschaft ist das „Recht des Stärkeren“ dysfunktional und erzeugt massive Konflikte. Denn die Basis für die Abläufe auf allen Ebenen stellen die Werte der Aufklärung dar. Wenn diese Werte zugunsten voraufklärerischer Werte ignoriert werden, kann die Gesellschaft nicht mehr funktionieren und hat nur die Chance, sich auf eine überholte Form der Interaktion zurückzuentwickeln, wie das in autoritär geführten Staaten der Fall ist. Die Prinzipien wie Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte haben dort keinen Stellenwert. Das Leben der Individuen ist stark eingeschränkt und getragen von einem starken Risiko der Bestrafung, falls von den vorgegebenen Normen abgewichen wird.

Willkür ist untauglich, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn sie überhandnimmt, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder bricht die Gesellschaft irgendwann zusammen und zerfällt in voneinander abgeschottete Festungen oder die Willkür der Mächtigen wird gebrochen. Die Geschichte zeigt jedenfalls auf längere Sicht, dass die Willkür immer wieder in ihre Schranken gewiesen wird. Denn sie bedroht nicht nur die Individuen, sondern ist auch untauglich zur Regulierung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen.

Rechte werden verliehen, nicht angeeignet.

Der Terminus vom „Recht des Stärkeren“ enthält einen weiteren Pferdefuß: Recht ist nicht etwas, das sich Einzelpersonen oder Gruppen einfach nehmen, sondern es wird von der Gemeinschaft formuliert und dann Einzelnen zuerkannt oder abgesprochen. In tribalen Gemeinschaften beraten die Menschen untereinander, welche Regeln für alle gelten.  In Demokratien gibt es Parlamente, in denen diese Prozesse ablaufen. Es heißt, dass das Recht vom Volk ausgeht, also auf einer Zustimmung einer großen Mehrheit in der Gesellschaft aufbaut und auf Basis dieser Rückkoppelung laufend weiterentwickelt wird.

Die Äußerung des Obmanns der FPÖ Herbert Kickl, dass das Recht der Politik folgen muss, stellt eine Ansage für die Errichtung einer Autokratie dar. Das Recht ist der Gegenpol zur politischen Macht und setzt ihr dort Grenzen, wo die Interessen des Gemeinwohls verletzt statt gefördert werden. Zwar entsteht das Recht aus politischen Prozessen, aber wenn es in Geltung gesetzt ist, hat sich die Politik an die Gesetze zu halten und kann sie nur mit qualifizierten Mehrheiten abändern. Wenn Gesetze von Politikern willkürlich gebrochen oder ignoriert werden, müssen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, tendieren rechte Politiker zu autoritären Regierungsformen, in denen das Recht nicht mehr vom Volk ausgeht, sondern von den Werten und Interessen der eigenen Partei oder der Führungsperson.

Um die sozialen Rückentwicklungen, die durch die Implementierung des „Rechts des Stärkeren“ in Gang gesetzt werden, hintanzuhalten, gilt es, wachsam gegenüber allen autoritären Tendenzen zu sein und die demokratischen Grundsätze und die Menschen mit allen Mitteln zu verteidigen.

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und die Korruption
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten

 

Freitag, 20. Juni 2025

Die Unverschämten und die Korruption

Zurzeit wird in Österreich ein Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen FPÖ-Parteiobmann und Vizekanzler Heinz Christian Strache vorbereitet. Er soll sich massiv an den Parteifinanzen für private Zwecke bedient haben: Schiurlaube, Geburtstagsfeste, Taxifahrten von Kindern und Mutter, teure Manschettenknöpfe, die als Büromaterial verbucht wurden usw. Da es sich bei den Parteifinanzen um Gelder handelt, die aus der öffentlichen Hand stammen, also von der Gesellschaft bezahlt werden, „vom kleinen Mann“, für den sich dieser Politiker so hingebungsvoll eingesetzt haben will, geht es um Korruption.

In diesem Artikel behandle ich die Zusammenhänge zwischen unverschämter Machtausübung und Korruption, nach der Erkenntnis, dass Macht korrumpiert, und absolute Macht absolut korrumpiert. Politiker, die zu einer absoluten Machtposition streben, innerhalb einer Partei oder eines ganzen Staates, sind deshalb der Korruption besonders zugeneigt.

Die Flucht aus der Beschämung

Die Sehnsucht von allen Verschämten liegt darin, aus der Scham herauszufinden und selber beschämen zu können, also andere in die Lage der Schwäche und Herabwürdigung zu bringen. Es gibt Verschämten, denen es gelingt, die Seite zu wechseln und in die Rolle der Unverschämten zu schlüpfen. Sie schaffen also die Gegenbesetzung, die Verkehrung ins Gegenteil – die Überwindung der Ohnmacht durch den Erwerb der Macht. Es ist eine Macht, die dann um jeden Preis gehalten und ausgebaut werden muss, denn sie bietet die Sicherheit gegen jede Beschämung.

Ein verbreitetes Mittel zur Verstärkung der Machtposition besteht darin, sie für eigene, persönliche Zwecke (oder die von Nahestehenden oder Verwandten) auszunutzen. Unverschämte, die an die Staatsmacht gelangt sind, sehen das als Einladung zur Selbstbedienung an den Ressourcen des Staates. Sie verfügen über vielfältige Möglichkeiten, Geld, das eigentlich der Gemeinschaft gehört, in die eigenen Taschen abzuzweigen, also Korruption zu praktizieren.

Beschädigung des Gemeinschaftsgefühls

Unter Korruption versteht man den Missbrauch einer anvertrauten Machtstellung oder Funktion zum privaten oder persönlichen Vorteil. In dieser Definition ist übrigens enthalten, dass Macht immer anvertraut ist, also einen Vertrauensvorschuss jener beinhaltet, die die Macht abtreten, z.B. die Wähler in einer Demokratie. Das lateinische Wort corrumpere bedeutet so viel wie verderben. Wenn Einzelne die Allgemeinheit für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen, verderben sie das Gemeinschaftsgefühl in sich selber, sie lassen also die Schamgefühle, die sie an prosoziales Handeln erinnern, absterben. Sie sind dann verdorben oder verfault in dem Bereich ihrer Seele, der sie auf die Bedürfnisse der Mitmenschen aufmerksam machen will. 

Sie beschädigen auch das Gemeinschaftsgefühl im Außen. Denn der gesellschaftliche Zusammenhalt wird mit jeder korrupten Handlung geschwächt, die Vertrauensgrundlage erleidet einen Riss, das Misstrauen wächst. Dazu kommt, dass gemeinschaftsschädigendes Verhalten den Anreiz zur Nachahmung bietet. Menschen wollen sich grundsätzlich sozial verhalten, wenn sie aber merken, dass sich andere ihren Egoismus erlauben, sehen sie nicht ein, warum sie auf eigene Vorteile gegenüber der Gemeinschaft verzichten sollen. Auf diese Weise beginnt der soziale Zusammenhalt zu erodieren.

Außerdem ist eine besondere Form der Unverschämtheit, sich an der Gemeinschaft für die eigene Bereicherung zu bedienen, denn im Grund wird die ganze Gemeinschaft beschämt, der die beschämende Person angehört. Sie wird als Objekt der Bereicherung betrachtet, ohne eigenen Wert. Man kann ihr wegnehmen, was man will, ohne jede Rücksichtnahme.

Zwar entzieht sich die unverschämte Person gewissermaßen selbst den Boden, der ihre Sicherheit gewährleistet. Denn sie leben ja selber aus und durch die Gemeinschaft. Aber unverschämte Menschen sind unfähig, an die Konsequenzen ihrer Handlungen zu denken, weil sie den Blick in die Zukunft perfekt verschließen können. In ihrer Machtverblendung meinen sie, dass es das Universum gut mit ihnen meint, weil es sie an die Spitze gebracht hat und nun so reichlich mit öffentlichen Gütern versorgt. Also kümmern sie sich nicht um die Folgen ihrer Unverschämtheiten, sondern genießen sie. Fliegen die Machenschaften auf, so geben sie sich verwundert und empört, als wäre es eine bodenlose Frechheit und Bosheit, wenn jemand die Verbrechen aufdeckt, in die sie sich verwickelt haben. 

Rache an Eltern als Hintergrund der Korruptionsgier

Die Rechtfertigung für ihr Tun finden die Unverschämten im Hintergrund ihrer Seele in ihrer Vergangenheit und in allem, was ihnen angetan wurde, als sie noch klein und ohnmächtig waren. Die Unverschämtheit ist die Rache für erlittene Beschämungen. Die Korruption besteht darin, sich zurückzuholen, was einem die Eltern schuldig geblieben sind. Aus der kindlichen Sichtweise wirken die Eltern als Allmacht im Ganzen; für die korrupten Politiker steht dann der „Vater“-Staat stellvertretend für die Eltern, an dem sie sich jetzt schadlos halten können – als Rache und als Ausgleich für erlittenes Leid. Den Tätern in der eigenen Lebensgeschichte soll heimgezahlt werden, was sie verbrochen haben. Es sind solche unbewusst wirkende Mechanismen, die Politiker zur Korruption und Wirtschaftstreibende zur Steuerhinterziehung anleiten. 

Da Unverschämte viel zu wenig Empathie in ihren Aufwachsen erhalten haben, bringen sie auch kein Mitgefühl für die Opfer der eigenen Rücksichtslosigkeiten und Bosheiten auf, sondern glauben sich im vollen Recht, sich auf Kosten anderer Menschen und der Allgemeinheit zu bereichern. Sie denken nur an die Schädigungen, die sie selbst erlitten haben, und sie suchen jene Formen der Wiedergutmachung, die sie reicher und mächtiger macht. Denn Reichtum und Machtfülle gelten ihnen als einzige Absicherung gegen jede Gefahr der Beschämung und Demütigung.

Ein funktionierendes Justizsystem in demokratischen Staaten ist der beste Garant gegen ausufernde Korruption. Dazu kommen investigative Medien, die oft Korruptionsfälle aufdecken. In autoritär regierten Staaten werden deshalb die Medien an die Kandare genommen, die Justiz wird politisch beeinflusst, um die korrupten Machenschaften nicht zu behindern. 

Zum Weiterlesen:
Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung
Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten
Die Verschämten und die Unverschämten


Freitag, 13. Juni 2025

Die Unverschämten und ihr Kampf gegen die Aufklärung

Die Unverschämten, die auf dem Machttrip sind, spüren, dass reflektierte, selbstbewusste und ethisch reife Menschen an dem Ast sägen, auf dem sie sich sesshaft und breit gemacht haben. Um ihr „Stimmvieh“ zu erhalten, das sie an die Macht bringt und dort hält, muss alles verhindert werden, was die Menschen von ihrer Scham befreit, denn nur Schambefangene sind in der Lage, den Unverschämten bedingungslos zu folgen. Also versuchen die unverschämten Machtpolitiker, das Bildungssystem zu ideologisieren, den obrigkeitlichen Gehorsam zu verstärken und jede Form von kritischer Reflexion zu diskreditieren oder zu unterbinden. Sie bekämpfen zu diesem Zweck auch die moderne Kunst und Kultur, die die Menschen aus ihren gewohnten Erfahrungsschienen herausholen und zum Nachdenken und Verändern von Sichtweisen motivieren will. Alles, was die Menschen innerlich freier macht und ihren Horizont erweitert, ist den Unverschämten ein Dorn im Auge. Denn sie wissen, dass ihre Macht darauf beruht, dass es genug Menschen gibt, die auf einem Bewusstseinsniveau verbleiben, das unterhalb oder vor der Aufklärung liegt. Ein zentrales Anliegen der Aufklärung war es ja, jede weltliche und geistliche Autorität auf den Prüfstand der kritischen Vernunft zu stellen und mit diesem Blick viele Emanzipationsbewegungen möglich zu machen. Wer die Prinzipien der Aufklärung verstanden und in die eigene Werthaltung übernommen hat, kann keinem populistischen Demagogen auf den Leim gehen.

Wer die Grundgedanken der Aufklärung nicht verstanden hat oder von zu vielen Ängsten davon abgehalten wird, entspricht hingegen dem Beuteschema der Rechtsdemagogen. Sie versuchen, Leute zu ködern, deren Werthorizont primär in der Stammesvergangenheit der Menschheit wurzelt, wo die Grundregel gilt, den nahen Menschen zu vertrauen und die entfernten oder fremden Menschen als Gefahr oder Bedrohung anzusehen. Solche archaischen Motive führen allerdings in moderneren komplexen Gesellschaften nur mehr zu Gruppenegoismen, die in Demokratien eingedämmt werden müssen, weil sie die Mächtigen und die Reichen auf Kosten der großen Mehrheit begünstigen. 

Die Vorläufer der Aufklärung waren Weisheitslehrer und Religionsstifter wie Buddha, Lao Tzu, Jesus und Muhammad. Sie haben den Menschen Mut gemacht, sich aus den Begrenztheiten der tribalen Regeln zu befreien und die Liebe und das Mitgefühl auf eine universelle Ebene zu erweitern. Nicht nur die Nächsten sollen geliebt werden, sondern auch die Fernsten. Das menschliche Mitgefühl hat keine Schranke an der eigenen Haustür, sondern gilt allem, was leidet. Diese Lehrer haben die Wirkung der Scham, die im kleinen Kreis darauf aufmerksam macht, dass wir uns lieblos verhalten haben, auf die gesamte Menschheit und noch darüber hinaus ausgeweitet. 

Die Aufklärung hat diese Impulse aufgegriffen und auf eine rationale Ebene gebracht, entkleidet der religiösen Dimension. Damit werden diese ethischen Prinzipien auf die ganze Menschheit hin verallgemeinerbar. Der kategorische Imperativ, den Immanuel Kant ausgearbeitet hat, trug dazu bei, diesen Ansatz zu verbreiten und damit den Gedanken des Weltbürgertums zu verbreiten.

Soziale Scham

Wir schämen uns, wenn wir Bettler sehen oder erfahren, dass Menschen in grausamer Weise deportiert werden. Wir schämen uns, wenn irgendwo auf der Welt ein schrecklicher Krieg tobt und wir es nicht schaffen, Frieden zu stiften. Die Unverschämten haben solche Schamregungen unterdrückt, während die Verschämten an ihrer Scham leiden. Um dieses Leiden zu lindern, schauen sie zu den Unverschämten auf, die ihnen erzählen, dass Bettler organisierte Kriminelle und Immigranten Parasiten sind, gegen die vorgegangen werden muss, um das eigene Volk zu schützen. Über Kriege werden immer wieder verbogene Begründungen hervorgebracht, wie z.B. die nicht vorhandene Nazi-Herrschaft in der Ukraine oder über nicht vorhandene Chemiefabriken im Irak.

Die Unverschämten werden also von den Verschämten als Leitfiguren gesucht, damit sie sich von der Scham und der damit verbundenen Schuld entlasten können. Die Schamlosen geben ihren Anhängern durch ihre demonstrative Unmenschlichkeit die Erlaubnis, die eigene Menschlichkeit über Bord zu werfen und mit zynischer Miene soziale Grausamkeiten und Grauslichkeiten gut zu heißen. Sie erteilen den Verschämten die Absolution aus ihrem scham- und schuldbeladenen sündhaften Dasein, indem sie archaische Formen der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit unter dem Begriff des „Volkes“ reaktivieren.

Tribale Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit

Die Funktionsweise der Demokratie kann nur mit einem aufgeklärten Bewusstsein verstanden werden. Diese Regierungsform, die auch eine Gesellschaftsform darstellt, erfordert das Übersteigen und Überwinden von tribalen Prägungen, die Oxytocin-gesteuert sind, die also die Bindungen zu den face-to-face-Gruppenmitgliedern intensivieren und vertiefen und zugleich das Misstrauen und die Feindschaft gegen alle, die nicht zur Gruppe gehören, verstärkt. Die archaischen hormonellen Einflüsse bewirken, dass Nahestehende bevorzugt und Fernstehende als Bedrohung erlebt werden. Sie fördern das Ausschließen, die Exklusion von allem, was als fremd erlebt wird. Sie sind also antidemokratisch – deshalb waren auch in der ersten bekannten Demokratie im Athen des Altertums Frauen, Unfreie und Zugezogene vom Mitbestimmungsprozess ausgeschlossen.

Die Vernunft als Wegbereiterin des moralischen Fortschritts

Diese Prägungen können nur mit Hilfe der Rationalität, also der Vernunft überwunden werden. Es heißt zwar, die eigene Haut ist einem immer am nächsten, aber eine komplexe Gesellschaft kann nur im Gleichgewicht bleiben, wenn genügend Menschen in der Lage sind, neben den eigenen Vorteilen auch die vieler anderer mitzubedenken. Dazu ist Vernunft von Nöten. Diese menschliche Ressource entwickelt sich durch Bildungsprozesse und verwirklicht sich im Medium des Reflektierens der Lebensumstände mit der Fähigkeit, verschiedene Blickpunkte einnehmen zu können. Sie wurde über 2000 Jahre nach der attischen Demokratie durch die Aufklärung ins Zentrum gestellt und als Maxime für Politik und Ethik eingefordert. 

Wenn z.B. eine Gesellschaft die Altersversorgung ausverhandelt, kann das nur gelingen, indem die älteren Leute, die nicht mehr im Arbeitsprozess sind, Verständnis für die Einzahler ins Pensionssystem haben, und die anderen das System des Ausgleichs unterstützen, das ihnen selbst einmal Vorteile bringen wird, obwohl sie aktuell auf einen Teil ihres Einkommens verzichten müssen. Der Sozialstaat beruht also auf der Vernunft. Die Jüngeren zahlen für die Älteren, die Gesunden für die Kranken, die Unbehinderten für die Behinderten, die Besserbemittelten für die Wenigerbemittelten.

Die Scham als Sensorium für mehr Menschlichkeit

Es ist die Scham, die im Hintergrund die Fäden zieht, wenn es um soziale Anliegen geht, indem sie die Mitmenschlichkeit einfordert. Die Scham lässt nicht zu, dass Menschen ausgegrenzt oder schlechter behandelt werden. Sie sorgt für den gesellschaftlichen Ausgleich in Kleingruppen und in demokratischen Regierungssystemen. Mit Unterstützung der Vernunft wird das Schamempfinden von den nahen Bezugsgruppen auf das gesellschaftliche Ganze ausgeweitet: Jedes Mitglied der Gesellschaft verdient die gleichen Rechte und Rücksichtnahmen. Das Leid jedes einzelnen Mitglieds betrifft alle anderen. Aus diesem Blickpunkt der Vernunft sind die Grundsätze von Demokratie und Sozialstaat abgeleitet, die das Ziel verfolgen, möglichst vielen Menschen zu existenzieller Sicherheit und allen zu mehr Wohlstand zu verhelfen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn der Unverschämtheit, die als Egoismus in jedem Gesellschaftsmitglied wirksam ist, effektive Grenzen gesetzt werden. Das Schambewusstsein liefert die emotionale Motivation des Einsatzes für eine menschenwürdige Gesellschaft, in der alle in Gleichheit und Freiheit ihren Platz haben.

Die versuchte Verbannung der Aufklärung ins linke Eck

Ein Propagandatrick der Rechten besteht darin, die Aufklärung als linkes Projekt zu definieren und nicht als einen Fortschritt im Bewusstsein, der allen zugutekommt und der eine konsistente Fortsetzung der Botschaft des Christentums und anderer Religionen darstellt. Mit dieser Zuordnung wird suggeriert, dass es die Alternative gibt, die Aufklärung zu unterstützen und sich damit links zu positionieren und dass man gegen die Aufklärung sein kann, weil man nicht links sein will. Die Aufklärung ist in dieser selbst ideologisch formulierten Zuordnung eine beliebige, von politischen Interessen gesteuerte Angelegenheit, also eine ideologische Festlegung, die von anderen Ideologien bekämpft werden kann oder muss.  Der Fortschritt in der Ethik im Sinn einer Universalisierung wird auf diese Weise eingeebnet und zur politischen Meinung degradiert; mehr Menschlichkeit wird als willkürliche Moralisierung abgetan. Damit wird dem Weiterbestehen von Unmenschlichkeiten die Legitimation verliehen.

Es geht dann nicht mehr um einen Zugewinn an Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, der notwendig wäre für die Stabilisierung des gesellschaftlichen und globalen Friedens. Es geht nicht mehr um die Entwicklung einer Ethik, die komplexen modernen Gesellschaftsstrukturen entspricht. Vielmehr wird das Bekenntnis zur Aufklärung in eine Wahl zwischen politischen Alternativen umgemünzt, die mit ihren jeweiligen Ideologien um Anhänger werben. Es wird so getan, als ginge es um willkürliche, interessensgeleitete Veränderungen im Gegensatz zur Bewahrung des Bestehenden, das um jeden Preis verteidigt werden muss wie die Naturheilkunde gegen mRNA-Impfungen. In Wirklichkeit gibt es im Bereich der Ethik ein Besser und ein Schlechter in Hinblick auf die Fähigkeit eines ethischen Systems, kompliziertere Zusammenhänge so regeln zu können, dass möglichst viele Personen zufriedengestellt und soziale Spannungen reduziert werden. 

Das Vorgehen der Rechtspopulisten hingegen setzt auf vormoderne oder sogar tribale Modelle der Konfliktregelung, die unter den heutigen Umständen wie die sprichwörtliche Anwendung des Holzhammers wirken. Es gibt immer wieder Beispiele, wo bei sozialen Spannungen schnelle Lösungen durch den Einsatz von Gewalt gewählt werden statt mit den Betroffenen zu reden. Solche plumpe Maßnahmen verschärfen und vertiefen dann nur die Spannungen und bereiten den Boden für noch mehr gesellschaftlichen Unfrieden. Statt zu kalmieren, wird Öl ins Feuer gegossen und auf heftigere Proteste mit noch mehr Gewalt geantwortet – eine eskalierende zerstörerische Entwicklung, die immer mehr Opfer fordert und steigenden Hass hervorruft.

Hinter derartigen Manövern steckt die Ideologisierung des Fortschritts in der Ethik durch den Versuch, dem Einsatz für mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte ein Mäntelchen der Unmoral umzuhängen. Damit wird der ethische Fortschritt in der Gesellschaft behindert und Unheil gesät. Denn wir haben nur die Wahl, die Ethik entsprechend den ökonomischen und sozialen Veränderungen weiterzuentwickeln oder zuzulassen, dass die Lösungsmöglichkeiten für die entstehenden Konflikte unzureichend bleiben.

Zum Weiterlesen:
Die Verschämten, die Unverschämten und die Demokratie
Die Verschämten und die Unverschämten


Mittwoch, 11. Juni 2025

Die Demokratie, die Verschämten und die Unverschämten

Nichts stört die Unverschämten mehr als eine übergeordnete Kontrolle. Sie können ihr Muster am besten ausspielen, wenn ihrem Machtstreben kein Widerstand entgegensteht. Im Wesen der Unverschämtheit liegt es, die eigenen Grenzen immer weiter auszudehnen, gleich ob dies auf Kosten der anderen geht. Macht will weiterwuchern, bis sie auf eine Gegenmacht stößt, die ihr Einhalt gebietet. In der Demokratie gibt es institutionalisierte Grenzen für die Machtausübung von Einzelpersonen und Gruppen: Wahlen, begrenzte Funktionsperioden, Kontrollen für das Wirtschaften der öffentlichen Hand, parlamentarische Willensbildung, Antikorruptionsbehörden, unabhängige Medien usw. In einer funktionierenden Demokratie wird jede Unverschämtheit irgendwann publik und ist dann Gegenstand von öffentlicher Beschämung. 

Deshalb versuchen unverschämte Politiker, sobald sie an die Macht gekommen sind, die Demokratie zu unterlaufen oder ihre Kontrollmechanismen abzubauen. Die antidemokratische Zerstörungswut kann so weit gehen, dass Gesetze und richterliche Anordnungen ignoriert werden, dass Notstandsgesetze ohne Not aktiviert werden, dass freie Medien verboten werden usw. Auf diese Weise soll die Spielwiese erhalten bleiben, auf der sich ihre Unverschämtheit austoben kann. 

Die Verschämten als Spielbälle der Unverschämten

Insgeheim (manchmal auch offen) verachten die Unverschämten die Demokratie, weil dieses System dem Ausufern der Macht Grenzen setzt. Sie sind dermaßen überzeugt von ihrer Mission, dass ihnen jede Kontrolle als Bosheit erscheint. Sie meinen generell, dass die Verschämten in diesem System ihre Macht auf Kosten der Unverschämten ausüben können. Sie nehmen an, dass die minderbemittelten Leute ihre Schwächen durch ein Regierungssystem kompensieren wollen, das die „Schwachen“ auf Kosten der „Starken“ bevorzugt. Sie setzen Unverschämtheit mit Stärke gleich und geben sich das Recht, die Schwachen für ihre Zwecke auszunutzen. Sie brauchen sie, um in der Demokratie an die Macht zu kommen und dann ihre Politik verfolgen zu können, die sich einen Deut um die verachteten „Schwachen“ kümmert.

Irgendwann merken die Verschämten das Spiel, das mit ihnen gespielt wurde. Dann wenden sie sich ab und schämen sich für die eigene Blindheit. Aber, solange sie von ihrer Scham beherrscht bleiben, suchen sie nur die nächste unverschämte Person, der sie nachlaufen, weil sie sich von ihr die Rettung und Erlösung erhoffen. Die vorgespielte Stärke der Unverschämten imponiert ihnen und gibt ihnen Hoffnung, aus der Misere herausgeführt zu werden.

Die Unverschämten haben einen manipulativen Dreh entwickelt, mit dem sie die Verschämten vor ihren Karren spannen können. Sie überzeugen die Verschämten davon, sie, also die Unverschämten zu wählen, weil sie ihnen versprechen, sie aus ihrer Schamposition herauszuholen. „Ich mache euch wieder groß, wenn ihr mir folgt“ – so die Botschaft unverschämter Machtpolitiker. Einmal an der Macht, versuchen sie, die demokratischen Kontrollen zu unterlaufen, um die Unverschämtheit ungehindert ausleben zu können. Damit nehmen sie den Verschämten weg, was sie schützt und stützt. Diese werden aber im Glauben gelassen, dass das alles nur zu ihrem Guten geschieht. 

Die Blockierung des Lernens aus der Geschichte

Die Schamimprägnierung, die die Verschämten in ihrer Rolle der Schwäche festhält, hindert wirkungsvoll am historischen Lernen: Am Erkennen der Destruktivität, die in der Unverschämtheit liegt, und der Mittäterschaft, der sie sich schuldig machen, weil sie sie unterstützen. Deshalb wiederholt sich das Schauspiel, wie wir es zur Zeit in den USA beobachten können und wie es die Wahlerfolge der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich und ähnlich gestrickter Parteien in anderen europäischen Ländern widerspiegeln. Die Leistungsbilanz dieser Parteien der Unverschämten, die Regierungsverantwortung übernommen haben, schaut denkbar schlecht aus. Die Sozialgesetze werden beschnitten, die individuellen Freiheitsrechte werden eingeschränkt, die Gewaltenteilung wird unterlaufen, die unabhängigen Medien werden ausgehungert oder verboten, die Kulturlandschaft verödet, die Korruption gedeiht, die Klimapolitik wird vernachlässigt. Einzig rigorosere Einwanderungsgesetze, die den Menschenrechten oder zumindest der Menschlichkeit widersprechen, können sie für sich verbuchen.  

Die Schamprägung überwinden

Für die Verschämten liegt der einzige Ausweg aus ihrer Opferrolle darin, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und ihre Schambarrieren zu überwinden. Wenn sie ihre eigenen Tendenzen zur Unverschämtheit erkennen, gewinnen sie mehr Selbstvertrauen und achten mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen und erkennen leichter, wenn sie jemand zu manipulieren versucht. Sie erinnern sich an das, was ihnen von den Unverschämten angetan wurde und gehen ihnen nicht mehr auf den Leim.

Mit dem Selbstbewusstsein von Bürgern, die an ihrem eigenen Regierungssystem verantwortlich mitwirken, können sie dann erkennen, dass die Demokratie ein System des Ausgleichs darstellt, das tendenziell die Schwächeren stärkt. Die Kraft, die durch das Verlassen der Opferrolle freigesetzt wird, verhilft dazu, die versteckten Tendenzen zur Unverschämtheit im eigenen Inneren zuzulassen. Denn es braucht ein Stück Unverschämtheit, sich gegen Unverschämtheiten zu wehren und die Auswirkungen von schamlosen Taten einzudämmen. Nur mündige Menschen, die ihre erworbenen Schamprägungen überwunden haben, sind in der Lage, die Unverschämtheit einzudämmen, indem sie die Machtallüren der Unverschämten ohne Scham zurückweisen. Auf diese Weise können sie konstruktiv an der Demokratie mitarbeiten und sie weiterentwickeln. 

Zum Weiterlesen:
Die Verschämten und die Unverschämten


Dienstag, 3. Juni 2025

Die Verschämten und die Unverschämten

In diesen Tagen ist es fast unmöglich, irgendein Nachrichtenmedium zu konsumieren, ohne einer personifizierten Unverschämtheit in der einen oder anderen Form zu begegnen. Zur Unverschämtheit gehört es, sich ins Rampenlicht zu stehen, um von allen Beachtung und Bewunderung zu bekommen. Viele von ihnen erlauben sich jede Frechheit und Dreistigkeit und leben ungehemmt ihre Egoismen aus. 

Im Schatten sitzen die Verschämten, die sich das Schauspiel der Unverschämten mit Verachtung und manchmal mit heimlichem Genuss geben. Sie spüren die Verachtung der Unverschämten für Ihresgleichen und geben mit gleicher Münze ihre moralisch aufgeladene Verachtung zurück: Wir sind die Guten und ihr seid die Schlechten, Üblen und Bösen. Wir sind zwar machtlos und schwach, aber haben die Moral auf unserer Seite und hoffen, dass sie letzten Endes den Sieg über die Unmoral davonträgt.

Die Dynamik der Verachtung zwischen den Unverschämten und den Verschämten

Jede Verachtung stammt aus dem Gefühl der Unterlegenheit, von dem die Verschämten wie die Unverschämten gleichermaßen betroffen sind. Die Verachtung entzieht ihrem Objekt die Achtung, also die Menschenwürde, und kann deshalb eine überlegene Position einnehmen, sodass sie vor ihm keine Angst mehr zu haben braucht. Sie benötigt also ihr Objekt, um aus einer angst- und schambesetzten Schwächeposition herauszukommen. 

Die Unverschämten verachten die Schwachen, weil diese sich alles gefallen lassen und mit ihrem geheuchelten Gutmenschentum ihre Feigheit kaschieren. Sie sind es, die das Schlechte in der Welt am Leben halten statt es abzuschaffen oder zu zerstören. Die Verschämten verachten die Starken und Mächtigen, weil es denen an Moral fehlt. Durch den Mangel an Menschlichkeit und Empathie sind sie so hoch hinausgekommen und haben nun so viele Möglichkeiten für Unterdrückung und Korruption; dafür können und dürfen sie nicht geachtet werden.

Schließlich verachten sich beide Seiten wegen ihrer Verachtung. Die Verschämten spüren die Verachtung, die ihnen die Schamlosen entgegenbringen, und verachten sie deshalb zusätzlich. Die Unverschämten nehmen die  abwertenden und missbilligenden Reaktionen der Verschämten wahr, was sie mit der Verstärkung der Verachtung quittieren. Die Verachtung der Gegenposition trifft auf einen eigenen wunden Punkt, dessen Aktivierung durch die erwiderte Verachtung verhindert wird. Mit der Potenzierung der Verachtung, die in dieser Dynamik abläuft, zementiert sich jede Seite in der eigenen Sichtweise und Erlebenswelt ein. 

Als Folge kommt es zur Vertiefung von gesellschaftlichen Spaltungen. Dem blanken Egoismus und steht ein naiver Altruismus gegenüber. Beide starren wechselseitig auf die jeweiligen Mängel im Gegenüber und meinen, dass die Welt nur besser werden könne, wenn sich die Anderen ändern und das eigene Muster übernehmen.

Tatsächlich ist es so, dass sich beide Seiten brauchen, um in der eigenen Position verharren und sich selbst bestätigen zu können. Ohne Verschämte hätten die Unverschämten niemanden zum Unterdrücken und Manipulieren; ohne Unverschämte verlören die Verschämten ihre moralische Überlegenheit und ihr rechthaberischer Pathos ginge ins Leere.

Beide Positionen sind zusätzlich durch einen wechselseitigen Neid miteinander verbunden. Die Einen schielen auf die Moral, an der es ihnen mangelt, die Anderen auf die Durchsetzungskraft, die sie sich nicht zutrauen. 

Die Verschämten wissen um ihre Schwächen und unterschätzen ihre Stärken. Bei den Unverschämten ist es genau umgekehrt. Die Verschämten suchen viel leichter Hilfe und Unterstützung, weil sie stärker an ihrem Mangel leiden. Viele nehmen z.B. Therapien in Anspruch oder besuchen Selbsterfahrungsgruppen, weil sie aus ihrer Schambelastung herauskommen wollen. Die Unverschämten dagegen sonnen sich in ihrem Narzissmus und sehen die Schwächen nur bei den anderen. Also brauchen sie nicht an sich arbeiten. 

Der Ausweg aus den Rollenfixierungen

Die Verschämten, die sich von ihrer Schamlast befreit haben, können aus der Rolle als Gegenspieler zu den Unverschämten heraustreten, was auch für die vermutlich weniger zahlreichen Unverschämten gilt, die sich ihrem Muster stellen und es durchschauen und ablegen können. Der nächste Schritt besteht darin, die Verachtung, die der jeweiligen Position innewohnt, zu erkennen und loszulassen. Die Verschämten können dann das, was sie an den Unverschämten heimlich bewundert haben: Selber unverschämt, d.h. egoistisch zu sein, wenn es notwendig ist. Statt immer nachzugeben oder sich alles gefallen zu lassen, beginnen sie sich zu wehren und ihre Bedürfnisse und Ansprüche einzufordern. Die Unverschämten lernen ihre Scham kennen und finden einen Weg, um sich dem Mitgefühl zu öffnen.

Wo immer es gelingt, das eigene Muster aufzubrechen, wird die Gesellschaft offener und toleranter. Statt sich aufheizender Konfliktlinien entstehen Felder des Verständnisses und der Entspannung.