Dienstag, 31. Dezember 2024

Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie

Inklusion, Antirassismus, Frauenrechte, Toleranz und Gleichbehandlung sind Leitinhalte für den Fortschritt in der Humanität, wie er spätestens seit der Aufklärung verstanden wird. Eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft muss möglichst vielen Menschen einen sicheren Raum für die Entfaltung ihrer Individualität bieten. Jede Person soll so leben können, wie sie will und wie es für sie gut ist, und soll dafür geachtet werden, solange nicht die Grenzen anderer Personen verletzt werden. So lautet das Credo der Liberalität und das soziale Programm der Moderne ist daraus abgeleitet. Eine moderne Gesellschaft schließt möglichst viele unterschiedliche Lebensformen mit ein und gewährt ihnen Rechte und Sicherheiten, während eine vormoderne Gesellschaft durch Vorurteile, willkürliche und gewaltsame Ausgrenzungen, durch strikte Über- und Unterordnung, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist. 

Der Fortschritt in der Toleranz und in der Ermöglichung von Freiheit ist spätestens seit dem Ende des Mittelalters, ausgehend von West- und Mitteleuropa weltweit im Gang.  Es herrscht in vielen Ländern Glaubens- und Religionsfreiheit, Minderheiten genießen Schutz, verschiedene sexuelle Orientierungen werden geachtet usw. Es gibt Länder, die in dieser Entwicklung weit hinten nachhinken, und es sind immer wieder Bewegungen aufgetreten, die diese Entwicklung  bekämpfen und zurückschrauben wollen, z.B. die faschistischen Ideologien im 20. Jahrhundert oder das Modell der illiberalen Demokratie nach Viktor Orbán in Ungarn. Aber auf lange Sicht betrachtet, setzt sich die Freiheitsidee immer wieder gegen alle Widerstände durch. Wir können also mit einigem Recht behaupten, dass Hegels Optimismus in Bezug auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Bestätigung in den Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte findet.

Eine aktuelle Verwerfung und Verzerrung dieser Bestrebungen hat der Politikwissenschaftler Yasha Mounk als Identitätssynthese gekennzeichnet und in seinem jüngsten Buch Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee beschrieben. Diese Strömung ist vor allem in den USA sehr wirksam und hat in den letzten Jahren weite Bereiche der den Demokraten nahestehenden linksintellektuellen Szene beeinflusst. Da viele kulturelle Entwicklungen mit Zeitverzögerung aus den USA nach Europa exportiert werden, lohnt es sich, dieses Phänomen näher zu betrachten. Es hat seine Hintergründe in verschiedenen Bereichen der sozialen Unterdrückung, vor allem durch Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus.

Postkoloniale Philosophie

Zu den Begründern dieser Ideologie zählen Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak. Sie sind postkoloniale Denker – Said mit palästinensischer und Spivak mit indischer Herkunft. Said erklärte in seinen Studien die Art und Weise, wie westliche Autoren den Orient beschrieben haben, als Formen der Machtausübung und der kolonialen Unterdrückung. Er rief zur Diskursanalyse nach Michel Foucault auf. Damit ist gemeint, dass die Hintergründe von jedem Wissens, das erworben und verbreitet wird, durch politische Macht, z.B. durch den Kolonialismus, beeinflusst sind. Die Verbreitung des Wissens stärkt dann die Macht. Wenn diese Hintergründe analysiert werden, gelingt es, sich dieser Macht zu entziehen und das machtgeprägte, z.B. koloniale Denken zu schwächen. 

Spivak beschäftigte sich in ihren Literatur- und Philosophiestudien mit den westlichen Klischeebildern von der Zurückgebliebenheit der östlichen Kulturen gegenüber dem Westen. Obwohl es kaum noch Kolonien gibt, wirke der Kolonialismus in den mentalen Konstrukten weiter. Die daraus gebildeten Identitäten, die darüber Auskunft geben sollen, was ein dunkelhäutiger, östlicher Mensch gegenüber einem weißhäutigen, westlichen wäre, sind nach wie vor maßgebend und führen zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung. Die dominierten Gruppen sollten dagegen ein Gruppengefühl (Wir-Gefühl) finden, aus dem heraus sie ihre eigene (statt einer zugeschriebenen) Identität entwickeln können. Auf der Grundlage dieser Identitätspolitik entstehen politische Forderungen z.B. nach Anerkennung, Ausgleich der Unterdrückung, Änderungen in Bildungsprozessen usw. Ein Instrument dieser Politik stellt die „positive Diskriminierung“ (auch: affirmative action) dar, bei der die negative Benachteiligung durch eine gezielte Bevorzugung ersetzt werden soll. Die unterdrückte Minderheit soll also besondere Vorteile gewährt bekommen.

Strategischer Essentialismus

Spivak hat den Begriff des strategischen Essentialismus in die Debatte eingebracht, mit dem ein Widerspruch der Identitätspolitik überwunden werden soll. Viele Wesenszuschreibungen wurden und werden zur Diskriminierung verwendet, z.B. die Abwertung von Frauen als intellektuell weniger begabt als die Männer. Damit die Macht solcher von den Mächtigen zur Absicherung ihrer Macht vorgenommenen Zuschreibungen gebrochen werden kann, sollen sich die Unterlegenen ihrer Identität besinnen und sie in der eigenen Gruppe bestärken: Frauen schließen sich in feministischen Kreisen zusammen und stellen ihre selbstgebildete Identität der zugeschriebenen entgegen. Allerdings handelt es sich wiederum um eine Wesensbeschreibung: „Frauen sind intelligent“.  In der Realität gibt es unter den Frauen, wie auch unter den Männern, intelligentere und weniger intelligente. Es gibt also keine Essenz, kein Wesen der Männer und der Frauen, sondern nur Annahmen, Konstrukte darüber, wie Männer und wie Frauen sind. Jede Annahme führt zu verzerrten Wahrnehmungen und damit zu sozialen Konflikten. Deshalb müssen Wesensbegriffe einer Diskusanalyse unterzogen und aufgelöst werden. Andererseits gelingt die Emanzipation, also die Befreiung von Zuschreibungen, nur über die Ausbildung einer Identität, die aus strategischen Gründen, also zur Durchsetzung von politischen Forderungen gebildet werden muss. Die Erkenntnisse über die Mechanismen der Unterdrückung können dort am besten gewonnen werden, wo die Gruppe unter sich ist, also wo die Sichtweisen der Unterdrücker möglichst ausgeschlossen sind (vgl. die Standorttheorie, die im nächsten Blogartikel erläutert wird). Solange die Unterdrückung weiter besteht, bräuchte es solche sicheren Orte für die Wissensgewinnung und für die Ausformung von politischen Strategien.

Die Identitätssynthese 

Mounk versteht unter der Identitätssynthese ein Konglomerat aus Ideen und intellektuellen Traditionen: „Es kreist um die Rolle, die Kategorien der Identität wie ‚Rasse‘, Gender und sexuelle Orientierung in unserer heutigen Welt spielen.“ (Mounk S. 29) 

Mounk kennzeichnet die Identitätssynthese mit sieben Haltungen:

1. Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit 
2. Diskursanalyse ausschließlich für politische Ziele
3. Identitätskategorien dürfen essentialistisch sein, wenn das politischen Strategien hilft.
4. Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften 
5. Unterstützung von Institutionen, in denen die Behandlung entsprechend der Gruppe erfolgt
6. Intersektionale Form des politischen Aktionismus 
7. Skepsis zu Verständigung zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen (S. 95f)

Skepsis und Pessimismus

(ad 1 und 4): Mit dem Stichwort Postmoderne werden die philosophischen Schulen der Dekonstruktion bezeichnet:  Etablierte Konzepte werden auf ihre sozialen Prägehintergründe durchleuchtet, damit der Raum für neue Sichtweisen geschaffen wird. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, der französische Philosoph Michel Foucault, lehnte jede Form von objektiver Erkenntnis ab. Der jeweilige Standpunkt, von dem die Erkenntnis ausgeht, ist von sozioökonomischen Faktoren geprägt, die immer nur zu einem Teil analysiert und reflektiert werden können.  Jeder Anspruch auf objektive Erkenntnis wäre wieder nur ein Machtanspruch. 

Im Zusammenhang mit dieser Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten ist das Denken von Foucault auch von einem Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften geprägt, in denen es nach seiner Meinung keinen Fortschritt in der Bewusstseinsentwicklung, im Moralverständnis oder in der Verbesserung von ungerechten sozialen Strukturen geben kann. Vielmehr gebe es nur die Illusion von Fortschritten, die sich bei näherer Betrachtung als Täuschung herausstellen. Die Illusion befördert dann wiederum das Festhalten an nicht erkannten Machtprivilegien.

(ad 5): Der Staat soll benachteiligte Gruppen besonders unterstützen. Wie oben beschrieben, wird die „positive Diskriminierung“ zur Aufhebung von Unterdrückung gefordert. Allerdings hat die Bevorzugung einer Gruppe in der Regel die Benachteiligung anderer Gruppen zur Folge, und damit ist der Nährboden für soziale Konflikte gelegt. Denn sobald eine Gruppe Vorrechte bekommt, melden sich die anderen und fordern die gleichen Rechte. So einleuchtend es erscheinen mag, dass Benachteiligte mehr Unterstützung brauchen als Besserstehende, so sorgfältig muss darauf geachtet werden, dass andere Diskriminierungen vermieden werden. 

Mit Intersektionalismus ist gemeint, dass sich verschiedene Formen der Unterdrückung gegenseitig verstärken, z.B. dass schwarze Frauen wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt werden. Deshalb sollten die Mitglieder von politischen Bewegungen umfassend gegen Diskriminierungen auftreten. Oft werden dann Anliegen mitvertreten, die nicht in den eigenen Bereich gehören, wie z.B. Greta Thunberg, die als Vertreterin der Klimabewegung Im Gazakrieg für die Palästinenser Stellung bezogen hat. Die Autorität, die in einer Thematik erworben wurde, wird in andere Bereiche übertragen, obwohl Sachkompetenz und politische Erfahrung fehlen. Die Anhängerschaft greift die Anliegen häufig mit ihrem Engagement auf, ohne die Sachverhalte näher zu prüfen.

(Ad 7): Die Plausibilität dieser These ruht hier auf der Tatsache, dass Betroffene besser Bescheid über ihre Situation haben als Außenstehende. Dennoch kann auch dieser Punkt zu Missverständnissen führen, die im nächsten Blogbeitrag näher beleuchtet werden. 

Die Dehnungen von klassischen liberalen Forderungen auf radikalere und extremere Sichtweisen, wie sie in der Ideologie der Identitätssynthese nach Mounk auftreten, können einerseits die Sensibilität vor allem bei den betroffenen Randgruppen oder Benachteiligten verstärken, wirken aber andererseits als Treibstoff für soziale und politische Konflikte. Es hilft beim Verstehen des Erstarkens der Rechtsparteien, die gegen alles „woke“ und Liberale polemisieren, dass die Ambivalenz und Radikalität der Identitätsideologie Ängste und Abwehrreaktionen auslösen – Wasser auf die Mühlen sowohl der Konservativen wie der Rechts- und Rechtsextremparteien. 

Damit wird es schwieriger, die berechtigten Anliegen der emanzipativen Bewegungen in der Demokratie durchsetzbar zu machen. Denn die Mehrheiten liegen in den meisten Fällen bei denen, die die Überlegenheitspositionen innehaben, und nur dann auf Einfluss und Macht verzichten wollen, wenn sie sich über den gesamtgesellschaftlichen Nutzen sicher sein können. Und dazu liefert die Ideologie der Identitätssynthese keine Unterstützung.  

Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023

Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen


Montag, 2. Dezember 2024

Was macht aggressive Politiker attraktiv?

In vielen demokratischen Ländern des globalen Nordens sind die rechten und rechtsextremen Parteien im Vormarsch. Was dabei auffällt ist, dass die Politiker dieser Parteien mit aggressiven Botschaften Wähler ansprechen und für sich gewinnen können. Um die Themen, die dabei angesprochen werden, nehmen sich auch andere Parteien an. Vor allem rechtskonservative Parteien fahren einen harten Kurs in der Migrationsfrage, verschärfen andauernd die Regelungen für Flüchtlinge und Asylsuchende, und doch verlieren sie ihre Wähler an die noch weiter rechts positionierten Parteien, die sich eine aggressive Rhetorik erlauben. Rechtskonservative haben ihre Wählerschaft auch in Bevölkerungsgruppen, die von Hassparolen abgeschreckt werden und müssen sich deshalb in ihrer Ausdrucksweise mäßigen. Der einzige Unterschied besteht also im Ausmaß der Aggression, das an die Öffentlichkeit gebracht wird. Es ist zwar zu beobachten, dass einzelne rechtskonservative Politiker in die Wortwahl der Rechtsextremen verfallen, doch werden sie dann meistens von ihrer Partei zurückgepfiffen. Die extremeren Politiker können dagegen hasserfüllte Wutreden halten, im Bewusstsein, dass sie ihren Anhängern aus dem Bauch reden, also deren Aggressionen in Worte fassen und in der Öffentlichkeit verbreiten. Wenn jemand anderer die eigene Wut, für die man sich vielleicht selbst schämt, ausdrückt (oder auskotzt), ist man entlastet und fühlt sich zugleich in der eigenen Aggressivität bestätigt und gerechtfertigt. 

In Wahlbefragungen geben z.B. Wähler der FPÖ an, dass sie allein dieser Partei zutrauen, die Missstände, die es gibt oder die sie erleben, abzustellen und bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Bauchgefühl, weil die Lösungen, die die österreichische Rechtspartei anbieten kann, entweder nicht durchführbar sind (weil sie der Verfassung oder EU-Regeln widersprechen) oder von anderen Parteien genauso oder ähnlich vertreten werden, und weil in den Bundesländern und Gemeinden, wo die Blauen mitregieren, die Zustände auch nicht besser sind. Aber die aggressive Wortwahl der Rechtspartei vermittelt offenbar vielen Wählern die Zuversicht, dass „endlich etwas geschieht“: Da packt wer zu und zieht die Sache durch. Wer auf den Tisch hauen kann, wird auch alles, was einen stört, abstellen. Die eigene mangelhafte Tatkraft und das eigene Ohnmachtsgefühl werden an die starken Männer da oben übertragen, die es dann mit ihrer Durchschlagskraft richten sollen. 

Aggressionen machen Angst, sie versprechen aber auch Abhilfe gegen die Angst. Ohne Zugang zum Gefühl der Wut sind wir ohnmächtig und schwach. Wut ist allerdings niemals konstruktiv. Mit zu viel Aktivierung wird sie immer gewalttätiger und neigt schließlich zur Zerstörung. 

Allzu viele weiße US-Männer wählen keine Frau, und schon gar nicht eine Farbige. Denn sie haben Angst um die Privilegien aus ihrer Männlichkeit und ihrer rassischen Überlegenheit. Nur ein weißer Mann an der Macht kann ihre Ängste beruhigen und ihre Vormachtstellung absichern. Die toxische Mischung aus Patriarchalismus, Autoritätshörigkeit und Aggression habe ich schon an anderer Stelle besprochen.

Die Wut auf „das System“

Die Aggression der rechten Demagogen richtet sich immer wieder gegen abstrakte und anonyme Gestalten wie „das System“. Dieses wird so mächtig und so böse dargestellt, dass es nur einen sinnvollen Weg geben kann, eben dieses System zu zerstören. Und das geht nach der Logik der Revolutionen nur mit Gewalt. Verschwörungsmythen werden genutzt, um diese geheimnisvolle Bedrohung noch mehr aufzublasen.

Alle Rechtsparteien, die an die Macht gekommen sind, haben allerdings „das System“ nie zerstört, sondern im Gegenteil dazu ausgenutzt, um die eigenen Taschen zu füllen. Das Orban-System in Ungarn, das Vorbild für viele Rechtsextreme bis in die USA, ist von systematischer Korruption gekennzeichnet. In Österreich war die FPÖ in diesem Jahrhundert zweimal in der Regierung; die zahlreichen Korruptionsprozesse aus diesen Zeiten (2000 – 2013 und 2017-2019) beschäftigen bis heute die Gerichte.

Aggression als Reaktion auf Komplexität

Schon Alexander der Große hat den komplexen gordischen Knoten nicht durch besonnenes Erforschen und Experimentieren ausgelöst, sondern mit einem Gewaltakt durchschlagen. Die „Männer der Tat“ sind es, die vielen Wählern Hoffnung geben, die sich durch die steigende Komplexität der Welt und der Gesellschaft überfordert fühlen. Donald Trump hat in der Zeit seiner ersten Präsidentschaft kaum Erfolge nachzuweisen, sowohl was die Einwanderung in die USA als auch was die Wirtschaft und den Lebensstandard anbetrifft, und er hat weltpolitisch sehr viel Unsicherheit erzeugt und damit viele Konflikte angeheizt. Aber sein großspuriges und wutdurchtränktes Reden erweckt bei vielen den Eindruck, dass hier jemand bereit ist, die Dinge mit Tatkraft anzugehen, ohne Rücksicht auf Konventionen und Widerstände, ohne sich um die Details zu kümmern, ja sogar, ohne sich um die Wahrheit oder die Gesetze zu scheren. Es ist nicht wichtig, ob die Vorschläge, der er vorgebracht hat, sinnvoll oder zielführend sind; es geht um den emotionalen Eindruck von einem Menschen, der keine Scham kennt und deshalb zu jeder Tat und Schandtat bereit ist. 

Wenn das eigene Leben unüberschaubar oder unkontrollierbar erlebt wird, wenn man sich selber nicht mehr hinaussieht, weil es keine einfachen Lösungen gibt, kommt jemand gerade recht, der selbstbewusst auftritt und seine Vereinfachungen und Falschinformationen lauthals und immer wieder in die aggressionsgeile Medienwelt hinaus posauniert. Je öfter und je eindringlicher etwas gesagt wird, desto wahrer und hilfreicher erscheint es, vor allem, wenn eine innere Deutungsnot besteht. Der Demagoge wird zum Heilsbringer, zum Retter vor allem Übel. Viele Trumpwähler sagen, dass sie zwar die Wortwahl ihres Idols nicht schätzen, aber dennoch meinen, er wäre als einziger in der Lage, für ein besseres Leben zu sorgen. Diese Einschätzung stammt weder aus der Rationalität noch aus einem Wirklichkeitsbezug, weil sie auf einer emotionalen Ebene getroffen wird. Eine rationale Bewertung der Lösungskompetenz und emotionalen Stabilität des Kandidaten müsste zu dem Schluss führen, dass gerade diese Person aufgrund von massiven Persönlichkeitsdefiziten im hohen Maß ungeeignet ist, die Position des mächtigsten Mannes der Welt einzunehmen. Doch treffen Menschen im Allgemeinen keine rationalen Entscheidungen, auch und gerade nicht, wenn sie ihre Stimme bei einer Wahl abgeben. Entscheidungen werden unbewusst in den emotionalen Zentren unseres Gehirns getroffen. Die Rationalität mischt sich nachher ein, indem sie Gründe für die Entscheidung liefert. 

Die Verbreitung der Gewaltsprache

Viele Wähler wählen ja die Rechtsparteien nicht, weil sie so aggressiv auftreten. Es scheint sich die Bevölkerung in den demokratischen hochentwickelten Ländern in zwei Lager abzuspalten: Die einen, denen die Aggressivität in der Politik Angst macht und die sich dafür schämen, und die anderen, die in ihr den einzigen Weg in die Zukunft sehen. Wer auf diese Form der Aggressivität anspricht, verspricht sich von Gewaltlösungen mehr als von abgewogenen und auf unterschiedliche Situationen abgestimmte Maßnahmen. 

Während in den früheren Jahren der Nachkriegszeit die aggressiven Töne in der Politik verpönt waren – allen hallten die menschenverachtenden Propagandareden der Nationalsozialisten in den Ohren nach –, begann sich die Szene in den letzten vierzig Jahren langsam zu verschieben. Immer mehr Gewaltsprache schleicht sich in die politische Debatte ein, und die Leute gewöhnen sich dran. Sie wird Teil des Wortschatzes und zunehmend als normal empfunden. Auf diese Weise werden immer mehr rhetorische Keulen eingeführt und angewendet, und es entsteht eine unheilvolle Dynamik der Aufladung mit immer schärferen Waffen. Irgendwann ist der Schritt zur manifesten Gewalt nicht mehr weit, wie beim Sturm des aufgehetzten rechtsradikalen Mobs auf das Kapitol am 6.1.2021.

Einen wichtigen Beitrag zu der Gewaltaufladung stellt die Verrohung durch die sozialen Medien in den letzten zwanzig Jahren dar. Mit Verrohung ist einerseits ein höherer Grad an Aggression gemeint und andererseits ein höherer Grad an Vereinfachung. Vereinfachte Aggression ist der direkte Weg zur Gewalt. Feindbilder, die die Gewaltbereitschaft steigern, beruhen immer auf vereinfachenden Verallgemeinerungen. Solche plumpen Konstrukte werden von den Demagogen erzeugt und durch die sogenannten sozialen Medien vervielfältigt. 

Von einer ausgleichenden zu einer machtbesessenen Politik

Damit verschiebt sich das öffentliche Gewicht immer mehr vom Überwiegen einer ausgleichenden Erwartung an die Politik zu der Einstellung, dass Politik in Konfrontation und aggressiven Durchsetzung von Machtinteressen besteht. Offenbar wollen immer mehr Menschen, dass nur ihre eigenen Interessen von der Politik befördert werden und verlieren die Sicht auf das Ganze einer Gesellschaft, die nur zusammenhalten kann, wenn möglichst viele Interessen berücksichtigt werden.

Diese Verschiebung bedeutet auch, dass die Rechtsparteien  die anderen Parteien längerfristig dazu zwingen, den gleichen Ton anzuschlagen, mit gleicher Münze zu bezahlen, sobald sie an der Macht sind. Sie zahlen scheinbar nur drauf, wenn sie eine ausgleichende, möglichst viele Teile der Bevölkerung erreichende, also auf eine demokratische Politik verfolgen. Denn viele Wähler und Wählerinnen honorieren nicht das, was ihnen eine ausgewogene Politik gebracht hat, sondern schauen auf das, was ihnen noch immer fehlt oder noch immer zu wenig an materieller Zuwendung oder emotionaler Sicherheit ist. 

Diese Entwicklung, die die Demokratie immer mehr aushöhlt, kann nur umgedreht werden, indem immer mehr Menschen die Gefühlsdynamiken hinter ihrem Wahlverhalten reflektieren und sich nicht mehr von aggressiven Parolen beeindrucken lassen. Zur staatsbürgerlichen Reife gehört auch, dass die Vernunft eine wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung spielen muss: Die rationale Einschätzung der politischen Ideen der einzelnen Parteien in Hinblick auf die eigene Lebenssituation, aber auch auf die ganze Gesellschaft, deren Teil jede*r ist.

Zum Weiterlesen:
Gendern und die Wunden des Patriarchats
Fossile Propaganda und Klimazerstörung
Petromaskulinität

Mittwoch, 27. November 2024

Über den Umgang mit Störungen

Denn eine Störung seiner Freuden 
sucht jeder möglichst zu vermeiden. (Wilhelm Busch)

Schnell kann uns etwas stören in den Abläufen, in denen wir uns befinden. Etwas entspricht nicht unseren Erwartungen, und wir fühlen uns gestört. Wir wollen spazieren gehen, es regnet plötzlich, und der Regen stört uns. Wir sitzen im Zug und freuen uns, dass der Platz daneben frei ist. Dann setzt sich jemand neben uns, der uns unsympathisch ist. Wir führen am Telefon ein Privatgespräch, und der Chef schaut bei der Tür herein. Wir fühlen uns gestört.  

Die Reaktionsmöglichkeiten auf Störungen können in zwei Paradigmen beschrieben werden. Paradigma 1: Störungen geschehen in der Welt um uns herum und wir können nichts dagegen machen, wir haben den Eindruck, ihnen ausgeliefert zu sein. Äußere Einflüsse greifen in unser Leben ein und bringen es durcheinander. Wir können das Wetter nicht ändern, wir können nicht verhindern, dass sich im Zug jemand neben uns setzt, der uns unsympathisch ist. Wir können nicht verhindern, dass der Chef aufkreuzt. Mit diesem Paradigma treten wir die Verantwortung an die Außenwelt ab. Deshalb fühlen wir uns hilflos. 

Das Paradigma 2 geht von folgender Annahme aus: Störungen tauchen nur in uns selbst auf. In der Außenwelt gibt es Abläufe und Geschehnisse. Zu Störungen werden Ereignisse erst, wenn wir sie bewerten und als störend einstufen. Das passiert dann, wenn wir sie mit unseren Erwartungen vergleichen. Fällt der Vergleich negativ aus, werden also unsere Erwartungen nicht erfüllt, sprechen wir von einer Störung. Eine Störung ist nur eine frustrierte Erwartung und hat nichts mit der Außenwelt zu tun, außer dass sie den Auslöser dafür liefert. Denn die Erwartung haben wir selber erzeugt, unter der Annahme, dass sie auch eintreten wird, was wir aber nie mit Sicherheit wissen können. Mit dieser Sichtweise bleibt die Verantwortung bei uns selbst. Das bedeutet auch, dass wir die Auswirkungen der Störung nur in uns selbst verändern und beruhigen können. 

Gewohnheitsmäßig tendieren wir zum ersten Paradigma. Die Ursache für die Störung liegt außerhalb von uns. Selbst wenn es sich um eine körperliche Störung handelt, empfinden wir unseren Körper in solchen Momenten wie einen Außeneinfluss. Außerdem kommt diese Sichtweise, die allgemein vorherrscht, unseren Überlebensstrategien entgegen. Wir haben dieses Vorgehen früh erlernt, auch an den Vorbildern der Eltern und anderer Erziehungspersonen. Da es von den meisten Menschen benutzt wird, wird es auch kaum in Frage gestellt. Deshalb ist nicht verwunderlich, dass unsere erste und unmittelbare Reaktion auf eine Störung im Ablauf unseres Lebens die Suche nach einer Ursache im Außen ist. Die Ursache setzen wir mit Schuld und Verantwortung gleich. Sobald wir wissen, wer die Störung angezettelt hat, wer also ihr Urheber ist, wissen wir, wer aus unserer Sicht schuld ist. Wir wissen, an wem wir unsere Enttäuschung und unseren Zorn abladen können. Damit fühlen wir uns aus dem Schneider. Der Zorn führt uns aus der Hilflosigkeit heraus.  

Allerdings ist die Wut immer ein zweischneidiges Schwert. Durch sie entladen wir die angestaute Frustenergie, bleiben aber im Groll auf die Täterperson, die die Störung verursacht hat, in der Opferrolle. Die Wut führt uns nicht aus der Kränkung heraus, sondern bestärkt uns im Ressentiment gegenüber unseren Mitmenschen oder gegen andere Faktoren, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. 

Das Paradigma der Außenverursachung folgt einem mechanistischen Modell: Ein Außenreiz drückt auf einen Knopf (Triggerpunkt) und sogleich entsteht das innere Gefühl der Frustration und des Ärgers. Es wird ein Automatismus ausgelöst. Diese Sichtweise stimmt insofern, als wir keinen willentlichen Einfluss auf unsere unmittelbaren Reaktionen auf Au0enereignisse haben. Die Stresshormone werden so schnell ausgeschüttet, dass wir mit unserer Bewusstheit nicht eingreifen können. Das Modell ist aber andererseits irreführend, weil wir unsere Reaktion verändern können, sobald sie uns bewusst wird und wir sie nicht für selbstverständlich nehmen, sondern für eine Eigenproduktion, deren Produktionsbedingungen wir auch ändern können. 

Unsere Erwartungen stecken hinter dem, was wir als Störung erleben

Damit sind wir beim zweiten Paradigma, das aus unserer Bewusstheit entwächst. Wir gelangen zu dem Verständnis, dass es nur unsere selbstgebastelten Erwartungen sind, die unsere Enttäuschungen bewirken und dazu führen, dass wir uns gestört fühlen. Mit dieser Einsicht legt sich schnell der Frust und wir entspannen uns wieder. Sobald wir diese Einstellung zur Gewohnheitsreaktion werden lassen, verschwindet der Begriff Störung aus unserem Repertoire: Es gibt nur Ereignisse, die uns dazu bewegen, unsere Erwartungen zu verändern.  Auf diese Weise gewinnen wir mehr Gelassenheit in unserem Leben.  

Übungen in der Innenversenkung und Gefühlsbeobachtung, die wir regelmäßig praktizieren, sind eine Hilfe zur Entmachtung der Reaktionen auf Störungen. Auch wenn wir eine Meditation machen, tauchen Störungen auf – Außengeräusche oder Gedankenschleifen. Da die Übung darin besteht, die Aufmerksamkeit von der Störung auf das Innere, z.B. auf das Fließen des Atems zurückzulenken, lernen wir, bei uns selbst zu bleiben und jede Störung zu verabschieden. 

Hier ein Zitat von Edgar Allan Poe: "Den Grad der Versunkenheit eines Meditierenden können wir ermessen an der Art, wie er auf eine Störung reagiert. Je tiefer sein Erschrecken, desto seichter sein Nachdenken und umgekehrt."

Noch ein Zitat, diesmal von Albert Einstein:
„Wer glaubt, dass andere schuld sind an der eigenen Unzufriedenheit, der glaubt auch, dass Bleistifte Rechtschreibfehler machen.“
 

Zum Weiterlesen:

Störungen zerstören Illusionen
Störungen in der Meditation
Erwartungen und Enttäuschungen

Montag, 18. November 2024

Pränatale Wurzeln der Fremdenangst

Warum haben viele Menschen Angst vor dem Fremden? Bei Kleinkindern ist das Fremdeln eine übliche Phase, die sich dann wieder legt. Aber unter Erwachsenen ist dieses Phänomen weit verbreitet und bildet bei vielen ein Hauptmotiv bei der Wahlentscheidung in den wohlhabenden Ländern des Westens: Welche Partei schützt mich am besten vor dem (den) Fremden? Angstreaktionen, sobald etwas Fremdes auftaucht oder sobald von Fremdem die Rede ist, melden sich mit der impliziten Botschaft, dass effektive Schutzmechanismen ergriffen werden müssen. Die Gefahren sind oftmals nicht real, aber das Unbewusste suggeriert eine wirkliche Bedrohung und löst die Stressachse aus. Da sich Bürger in den demokratischen Systemen alleine hilflos und ohnmächtig fühlen, suchen sie sich Machtträger, die ihnen Schutz vor den eingebildeten Bedrohungen anbieten und die dafür notwendigen Narrative propagieren, mit denen die Bedrohtheitsgefühle verstärkt werden. Damit wollen sie ihre Macht stärken, eine Schlagseite vor allem bei rechten und rechtsextremen Politiker.  

Hier möchte ich den Blick auf die Pränatalzeit richten. In dieser Phase unseres Lebens finden wichtige Prägungen im Emotionalgedächtnis statt, die sich im späteren Leben aus dem Unbewussten heraus ins Alltagsleben und –erleben einmischen. Aus dieser Perspektive stoßen wir auf den Hinweis, dass das Fremde Angst macht, wenn die Einnistung schwierig war. Die Nidation findet zwischen dem 6. und 10. Tag nach der Empfängnis statt. Die Blastozyste fällt vom Ende des Eileiters, in dem die Befruchtung stattgefunden hat, in die Gebärmutter und sucht dort einen Platz, an dem sie sich in die Uterusschleimhaut einwachsen kann. Es ist ein neuer, fremder Ort, in dem jetzt eine Heimstatt gefunden werden muss, an dem die weitere Reifung bis zur Geburt erfolgen kann. Wenn nun der mütterliche Organismus dem Embryo mit ambivalenten Gefühlen begegnet oder ihn ablehnt, wird dieses Fremde als feindlich und unnahbar erlebt. Das werdende Menschenwesen muss selber schauen, wie es Fuß fassen und sich einwurzeln kann, um überleben zu können. Das Fremde ist das Bedrohliche, mit dem ums Überleben gekämpft werden muss, statt mit ihm zu kooperieren. Dieser Eindruck verfestigt sich im Inneren und wirkt später weiter. Die Angst und Unsicherheit bei der Einnistung wird zusätzlich bestärkt, wenn ein Kind schon bei der Empfängnis spüren musste, dass es nicht willkommen ist. 

Solche Schwierigkeiten können auch der Grund für einen Frühabgang sein, wenn der Embryo zu schwach ist, sich gegen den Widerstand einen Einnistungsplatz in der Gebärmutter zu schaffen. Ohne das Andocken an der Gebärmutterwand ist der Embryo nicht lange lebensfähig. Gelingt jedoch das Verbinden von Plazenta und Gebärmutter, dann hat das Leben eine Chance, weiterzuwachsen, auch wenn es vielleicht durch einen holprigen Beginn überschatten sein kann. 

Auf diese Verunsicherung gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten, die sich in unterschiedlichen Haltungen ausprägen. Zum einen gibt es Menschen, die sich nirgendwo zuhause fühlen und oft übersiedeln, weil sie sich nirgendwo sicher und vertraut fühlen. Sie können nirgends dauerhafte Wurzeln schlagen. Zum anderen verwurzeln sich Menschen besonders tief an einem Platz und wollen von dort um keinen Preis wieder weg. Dieser Platz muss auch vor allem Fremden geschützt sein, damit die einmal gewonnene Sicherheit nicht mehr verloren geht.

Das Fremde und das Lernen  

Lernen besteht darin, Fremdes aufzunehmen und zum Eigenen zu machen. Wenn wir z.B. eine Fremdsprache lernen, müssen wir uns mit deren Fremdheit anfreunden. Wir müssen zulassen, dass sie sich in unserem Inneren Platz nimmt und sich ausbreitet. Auf diese Weise verwandeln wir Fremdes in Eigenes.

Lernhemmungen entstehen dort, wo das Fremde, das gelernt werden soll, abgelehnt wird, weil alles Fremde als feindlich erlebt wird – die Wiederspiegelung eines Einnistungstraumas. Die Neugier wird in diesem Fall von der Angst unterbunden. Neues wird mit Misstrauen beäugt. Beim Lernen kann es sein, dass sich der von der Angst geleitete Widerstand unbewusst so auswirkt, dass das Fremde nicht behalten werden kann und immer wieder vergessen wird.

Die Fremdenfeindlichkeit

Auch das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, das in der Politik eine wichtige Rolle spielt, können wir als Ausdruck dieser Früherfahrung verstehen. Eine Gebärmutter, in deren Wand die Einnistung stattfinden muss, damit das Überleben gewährleistet ist, und die als ablehnend und abweisend erlebt wird, führt zu dem Eindruck, dass dem Fremden grundsätzlich nicht vertraut werden kann. Es gibt keine Basis für einen Vertrauensvorschuss, der notwendig wäre, um das Fremde näher kennenzulernen. Das Vertrauen kann nur in sich selber aufgebaut werden, und das Fremde muss draußen bleiben. Es bedroht die innere Sicherheit. Deshalb kann man sich nur möglichst lückenlos davon abschotten. 

Das Fremde wird also nicht als Feld des Lernens und der Erweiterung des Horizonts genutzt, vielmehr wird es als Gefahrenquelle gesehen. Daraus entsteht die Überzeugung, dass das eigene Überleben nur dann gesichert werden kann, wenn dem Fremden misstraut wird. Für die eigene Existenzsicherung muss man aus eigenen Kräften sorgen. 

Schon während der Schwangerschaft hat diese Überzeugung zu Dauerstress geführt, der oft noch weit darüber hinaus gewirkt hat. Jede neue Begegnung mit etwas Fremdem kann dann die alte Angst und Stressreaktion auslösen. 

Mit diesem Verständnis der Fremdenangst wird auch klar, warum Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo am wenigsten Fremde leben, ähnlich wie der Antisemitismus dort am stärksten verbreitet ist, wo am wenigsten Juden leben. Der Kontakt mit dem Fremden verändert notgedrungen die Perspektive und ermöglicht neue Einsichten. Das ist wie bei jeder Angst: Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, ihr ins Auge schauen, wird sie kleiner; wenn wir uns vor ihr verstecken oder von ihr abtrennen, wenn wir sie also aussperren, wird sie mächtiger.

Zum Weiterlesen:
Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln
Das volle Boot und die Angst vor Überflutung

  


Montag, 11. November 2024

Über das Nichtbewerten und die Notwendigkeit des Bewertens

Nicht zu beurteilen ist eine hohe Tugend im zwischenmenschlichen Umgang. Wir sollten uns von Urteilen über andere fernhalten, weil wir uns mit jedem Urteil eine übergeordnete Position gegenüber der beurteilten Person anmaßen. Wir setzen uns auf einen Richterstuhl ein und fällen von dort aus das Urteil. Die beurteilte Person befindet sich damit automatisch in einer unterlegenen und beschämenden Position, selbst wenn das Urteil positiv ist. Denn das Urteil liegt im Ermessen der beurteilenden Person, die nach ihrem Gutdünken den anderen ihren Wert zu- oder abspricht. Es besteht ein Machtgefälle zwischen dem, der beurteilt, und dem, der beurteilt wird. Machtunterschiede enthalten immer die Elemente von Stolz auf der Seite der mächtigen Person und Scham auf der Seite der untergeordneten Person.

Gilt diese Tugend der Beurteilungsfreiheit für alle Fälle, unter allen Umständen, oder gibt es Bereiche, in denen es das Urteilen braucht, um Schaden abzuwenden oder bessere Lösungen zu erreichen? Werden wir unseren Werten gegenüber untreu, wenn wir eine Haltung oder Aussage, die unseren Werten widerspricht, nicht beurteilen? 

Grundsätzlich gilt: Menschen sind wichtiger als Werte. Werte entstehen aus eingeschränkten Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Was ist aber mit Werten, die das Absolute widerspiegeln, wie z.B. der Wert, der Menschen vor Werte reiht? Auch dieser Wert ist nicht absolut, denn jeder Aspekt des menschlichen Lebens ist relativ. Zwar schulden wir Menschen einander den unbedingten Respekt und die uneingeschränkte Wertschätzung, schaffen sie aber immer nur auf bedingte und eingeschränkte Weise. Es ist und bleibt also ein Ideal, das wir anstreben, aber nur in besonderen Momenten annähernd verwirklichen können. 

Deshalb ist auch die bewertungsfreie Einstellung zu unseren Mitmenschen nur ansatzweise erreichbar, und wir sind in diesem Bemühen immer wieder fehleranfällig. Unser Unterbewusstsein unterläuft unser Bestreben beständig, weil es kontinuierlich Bewertungen produziert, die wir erst nachträglich, wenn sie uns bewusst werden, zurücknehmen können. Wir kommen nie mit dem Bewusstmachen nach. Die Bewertungen sind schon längst in unsere Bewertungskategorien eingeflossen, bevor wir sie überhaupt bemerken. 

Bewertung in der Kommunikation

Was wir in Hinblick auf die Bewertungsfrage kultivieren können und sollten, ist unsere Kommunikation. Wir sollten danach streben, sie möglichst frei von Bewertungen zu halten, um keine Ängste und Schamgefühle bei den Kommunikationspartnern auszulösen. Selbst wenn also unser Unterbewusstsein beständig Bewertungen aufstellt, sollten wir unsere Mitmenschen davor bewahren, indem wir die Bewertungen nicht äußern, sondern innerlich loslassen.

Weiters können wir in unserem Inneren mehr und mehr bewertungsfreie Räume schaffen. Das ist die Arbeit des Bewusstmachens. Wir erkennen, dass wir die Person A bewerten und können uns damit beschäftigen, woher diese Bewertung kommt, wie sehr sie mit der Realität übereinstimmt und was sie übersieht. Wir können erkennen, dass wir in uns Anteile haben, die dem, was wir an der anderen Person bewerten, ähnlich sind.  Auf diese Weise relativieren sich unsere Bewertungen und treten in den Hintergrund vor der größeren und wichtigeren Realität, die in der anderen Person enthalten ist. Wir öffnen uns für die Ganzheit des anderen Menschen, in der sein unschätzbarer Wert enthalten ist. 

Meditation ist eine gute Gelegenheit für die Pflege von bewertungsfreien Innenräumen. Gedanken, die aufsteigen, enthalten häufig Bewertungen, und wir können beim stillen Beobachten dieser Gedanken die Bewertungen erkennen und verabschieden.

Grenzen der Bewertungsfreiheit

Wir stoßen auf Grenzen der Bewertungsfreiheit, wenn wir im Kontakt mit Menschen sind, die konträre Werte vertreten. Wie gehen wir mit jemanden um, der rechtsextreme Positionen vertritt, oder mit jemanden, der den Klimawandel leugnet? Wie gehen wir mit Menschen um, die seltsamen Verschwörungstheorien anhängen und uns dann noch dazu davon überzeugen wollen?

Wir sollten die Welt verbessern, wo sie im Argen liegt. Dazu gehört, dass wir Menschen darauf aufmerksam machen sollten, wenn sie den Pfad der Menschlichkeit verlassen haben. Wir sollten die Fahne der Humanität  unerschrocken hoch halten. Dazu müssen wir diese Werte vertreten und Werte, die wir für schädlich halten, kritisieren. 

Natürlich sollte es nicht darum gehen, die Menschen abzuurteilen, die die anderen Werte vertreten. Wichtig ist es aber, klar Stellung für „bessere“ Werte zu beziehen. Die Güte von Werten bemisst sich daran, wie nahe sie sich an der Menschlichkeit verbinden, also an den Notwendigkeiten, die ein respektsvolles und angstfreies Zusammenleben der Menschen möglich machen. Diese Nähe muss im Einzelfall überprüft werden, weil wir uns in dieser Hinsicht auch irren können. Im Diskurs, der möglichst gewaltfrei ablaufen sollte, kann sich herausstellen, welchen Werten der Vorzug gegeben werden muss, um an der Entwicklung Welt mitzuwirken, die für alle besser ist. Und diese Werte müssen von möglichst vielen Menschen kompromisslos vertreten und in Handlungen umgesetzt werden, damit sie in den allgemeinen  Bewusstseinsraum Eingang finden und dort Resonanzen erzeugen. Gute Werte, die also der Menschlichkeit dienen, üben eine Anziehungskraft auf alle Menschen aus, soweit sie nicht von ihren Überlebensimpulsen gesteuert sind.

Zum Weiterlesen:
Bewerten und Beziehungsstörung
Das Bewerten der Bewerter
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewerten im bewertungsfreien Bereich


Samstag, 26. Oktober 2024

Erwartungen und Enttäuschungen

Wir sind enttäuscht, wenn ein Ereignis, das wir erwarten, entweder überhaupt nicht eintritt oder abweichend von unserer Erwartung abläuft. Das Bedürfnis, dessen Erfüllung die Erwartung versprochen hat, bleibt unbefriedigt. Darin besteht das Leiden der Enttäuschung. Auf der neurobiologischen Ebene spielt sich folgendes ab: Jede freudvolle Erwartung löst einen Dopaminschub aus, der als lustvolle Spannung erlebt wird, oft verbunden mit erhebenden Gefühlen und gesteigerter Aktivität. Sobald sichtbar wird, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nicht eintritt, fällt der Dopaminspiegel jäh ab. Der erhoffte Belohnungsreiz bleibt aus, und der Entzug an Dopamin wird als sehr lästig und unangenehm erlebt. Die freudige Anspannung bricht ab. Stattdessen machen sich unangenehme Gefühle der Frustration breit. Im Hintergrund baut sich Stress auf. Der positiv erlebte Stress in der Erwartungsspannung verwandelt sich in eine negative, von Frustration und Ärger geprägte Stimmung der Enttäuschung.

Wer ist schuld?

In den Phasen der Enttäuschung entsteht meist die Frage nach der Ursache: Wer ist schuld am Ausbleiben der Belohnung? Denn wir meinen, wenn wir die Ursache kennen, k wir die Enttäuschung in der Zukunft verhindern. Bei der Ursachenfrage gibt es zwei Richtung: Nach außen oder nach innen. Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, irgendetwas oder irgendjemand anderen verantwortlich zu machen. Sie entwickeln in sich Gefühle von Ärger und Wut gegen diese Instanz. Jene, die die Verantwortung eher bei sich selbst suchen, reagieren mit Traurigkeit und Scham bis hin zu Depressionen. Die ersteren entlasten sich von der Verantwortung und schieben sie ihren Mitmenschen zu, die zweiteren laden sie sich selbst auf und tragen schwer daran.

Es gibt Enttäuschungen, für die niemand eine Verantwortung trägt, wie z.B. solche, bei denen die Erwartungen an die Natur gerichtet sind: Wir unternehmen eine Reise an einen Badesee und die geplante Ferienwoche wird total verregnet. Wir pflanzen Gemüse an und die Schnecken fressen es. Andere Enttäuschungen befinden sich ganz im eigenen Rayon – solche, die mit Fehlern zu tun haben, die uns unterlaufen sind: Wir werfen die Wohnungstür hinter uns zu und merken erst dann, dass der Schlüssel drinnen geblieben ist.

Wenn die Erwartung auf eine Person gerichtet ist und sie sich nicht entsprechend verhält, erscheint es klar, dass sie uns damit Leid bereitet hat. Wir freuen uns auf den Besuch des Freundes, und er sagt kurzfristig ab, mit einer Begründung, die uns fadenscheinig vorkommt. Der Freund ist schuld, dass es uns jetzt schlecht geht. Wir haben irgendjemanden, der unseren misslichen Zustand verursacht hat. Er ist verantwortlich für das Leid geben können, das uns die Enttäuschung bereitet.

Wir übersehen dabei allerdings, dass wir uns selbst das Leid zufügen, weil wir an unserer Erwartung festhalten, statt dass wir uns mit der geänderten Realität arrangieren. Jede Störung, mit denen uns die Wirklichkeit in Form von eigenen Fehlleistungen, Verfehlungen anderer Menschen oder Unvorhersehbarkeiten äußerer Umstände herausfordert, ist eine Übung im Akzeptieren. Die Abläufe sind, wie sie sind; unsere inneren Bewertungen machen aus ihnen passende oder unpassende, willkommene oder störende Ereignisse. Wenn wir akzeptieren, was ist, kommen wir in Frieden damit, wenn wir dagegen ankämpfen, leiden wir.

Es ist wie beim Schachspielen: Das Spiel entwickelt sich zu unseren Gunsten und wir spüren schon das Hochgefühl des Sieges. Doch findet die Gegnerin einen pfiffigen Zug, den wir übersehen haben, und schon droht die Niederlage. Das Hochgefühl verschwindet ins Nichts und macht einer ängstlichen Frustration Platz. Spielsituationen lieben wir vermutlich deshalb, weil sie uns das Einüben des Umgangs mit Frustrationen möglich machen. Wir leiden kurz, bis uns klar wird, dass es ja nur ein Spiel ist.

Gegen das Leben kämpfen

Außerhalb der Spielkontexte ist das Leben unser „Gegner”, indem es unsere Erwartungen ignoriert und überraschende und unvorhergesehene Winkelzüge präsentiert. Sich beim Leben für die liebsamen und unliebsamen Überraschungen zu beschweren, ist eine Strategie, die aus den „Anleitungen zum Unglücklichsein“ (Paul Watzlawick) stammen könnte. Die Wirklichkeit kümmert sich in ihren Abläufen nicht um unsere Erwartungen, sondern orientiert sich an anderen Gesetzmäßigkeiten, deren Logik uns zumeist nichts als Rätsel aufgibt. Wir schaffen uns selber das Leid und stehlen uns nur aus der Verantwortung, wenn wir irgendwelche Faktoren in der Außenwelt für unsere inneren Zustände haftbar machen.

Das trifft auch auf unsere Mitmenschen zu, von denen wir erwarten, dass sie sich gemäß unseren Erwartungen verhalten, und die uns enttäuschen, wenn das nicht der Fall ist. Von der Kassierin im Supermarkt erwarten wir, dass sie freundlich und fröhlich ist; schließlich sind wir die Kunden und wünschen uns ein angenehmes Einkaufserlebnis. Begegnen wir einem missmutigen Menschen an der Kassa, sind wir enttäuscht und vielleicht sogar empört, ohne dabei an die Belastungen zu denken, denen die Kassierin ausgesetzt ist.

Das Recht auf die Erfüllung unserer Erwartungen

Wir haben eine Instanz in uns, die uns sagt, wir hätten ein Recht darauf, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Sie stammt aus unseren frühesten Erfahrungen, aus unseren Ursprüngen. Wir sind mit der Erwartung in dieses Leben getreten, dass wir geliebt, genährt und geschützt werden. Unser Urvertrauen sagt uns, dass wir das Recht darauf haben, dass die Existenz, die uns das Leben verliehen hat, alles zu ihrem Bestand und Weiterwachsen Notwendige bekommen wird. Auf einer unbewussten Ebene wissen wir, was wir brauchen, um gut überleben und uns angemessen entwickeln zu können. Doch auch gute Eltern sind nur Menschen, deshalb können sie diesen Erwartungen nur zu einem bestimmten Teil nachkommen. Das Enttäuschen der Erwartungen ist dann mit der Angst vor der Gefährdung des eigenen Überlebens verbunden. Solche Erfahrungen lösen manchmal massiven Stress aus, den Babys mit heftigem Geschrei ausdrücken.

Im Zuge des Aufwachsens haben wir gelernt, dass es immer wieder Enttäuschungen gibt und dass die Realität nicht so beschaffen ist, dass sie alle unsere Erwartungen erfüllt. Wir lernen, unsere Wünsche mit den aktuellen Möglichkeiten abzugleichen und notfalls auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten. Doch bleibt häufig die Gefühlsdynamik so, wie wir sie in unseren Anfängen erlebt haben: Das unbefriedigte Bedürfnis wird übermächtig und löst eine unangenehme Enttäuschung aus, mit der wir fertig werden müssen.

Frustrationstoleranz

Erwachsenwerden heißt auch, Frustrationstoleranz zu erwerben, also die Fähigkeit, Enttäuschungen wegstecken zu können, ohne daran zu leiden. Hilfreich ist die Kompetenz, das frustrierte innere Kind zu beruhigen und zu vertrösten. Wie einfühlsame Eltern ihrem Kind begegnen, gehen wir auf die Ungeduld unseres inneren Kindes ein. Wir signalisieren ihm, dass wir sein Bedürfnis mit all der Dringlichkeit verstehen, während aber die Umstände gerade so beschaffen sind, dass eine Befriedigung nicht sofort möglich ist, sondern erst in einiger Zeit oder auf andere Weise erfolgen kann. Wir versprechen unserem inneren Kind, dass wir uns um das Bedürfnis kümmern. Der innere Konflikt und die Anspannung lösen sich dann auf und wir gelangen zu einem inneren Frieden.

Unser erwachsenes Ich weiß, dass unser Überleben nicht gefährdet ist, wenn wir nicht das, was unser Bedürfnis fordert, sofort und in der gewünschten Form bekommen. Als Erwachsene kennen wir verschiedene Reaktionsmöglichkeiten auf Bedürfnisspannungen, die je nach Situation angewendet werden können:

Wir können die Befriedigung aufschieben: Wir haben Hunger, aber gerade keine Zeit, um uns etwas zum Essen zu besorgen. Wir können abschätzen, wann wir unseren Hunger stillen können und uns bis dahin gedulden.

Wir können eine andere Form der Befriedigung finden: Wir wollen in ein bestimmtes Restaurant essen gehen, doch es hat geschlossen, also suchen wir ein anderes.

Wir haben auch die Möglichkeit, die Befriedigung zu verabschieden, indem wir die Erwartung zurücknehmen. Wir erwarten uns einen Gefallen von einem Freund, doch dieser hat keine Zeit. Wir suchen nach anderen Wegen, um an unser Ziel zu gelangen.

Erwartungsfreiheit

Können wir uns ganz von Erwartungen lösen, die uns immer wieder zu Enttäuschungen führen? Erwartungslos zu sein, erscheint als ein erstrebenswertes Ziel. Allerdings sind Erwartungen ein fixer Bestandteil unseres inneren Inventars. Sie tauchen gemeinsam mit unseren Bedürfnissen auf und sind an sie geknüpft. Bedürfnisse sind Signale des Organismus, die wir nicht abstellen können und auch nicht abstellen sollen, weil wir sonst nicht für die Mängelzustände im Inneren sorgen könnten.

Der Weg der Bewusstheit führt uns dazu, Erwartungen als Erwartungen zu erkennen, verbunden mit der Einsicht, dass die Zukunft immer ungewiss ist. Wir können sie nur in einem ganz geringen Ausmaß beeinflussen und in die Richtung unserer Erwartungen drängen. Weitaus die meisten Faktoren befinden sich nicht in unserer Kontrolle. Naturkatastrophen sind Beispiele für wuchtige Erfahrungen mit dieser Unwägbarkeit und Unverfügbarkeit der Wirklichkeit. Auch bei schweren Erkrankungen, die den Tod in den Erwartungshorizont rücken, durchkreuzt das Schicksal alle Pläne. Solche Ereignisse werfen die gesamten Erwartungen der Betroffenen über den Haufen. Sie müssen alle Vorstellungen über die Zukunft revidieren und ihre Lebensperspektiven völlig neu aufstellen.

Je schwerer und unerwarteter der Schlag ist, den das Schicksal versetzt, desto schwerer ist das Akzeptieren der entsprechenden Wirklichkeit. Allerdings ist der Schweregrad der Enttäuschung wiederum eine Sache unserer Bewertung. Wir müssen uns also eingestehen, dass wir unseres Glückes wie unseres Unglückes Schmied sind, in jedem Moment, bei jeder Erfahrung.

Mit dem Einüben dieser Perspektive werden die Erwartungen, die in uns entstehen, immer unwichtiger und die Enttäuschungen immer schwächer. Wir lernen, gelassener mit den Màandern und Hochschaubahnen des Lebens zurechtzukommen.

Die Absichtslosigkeit

Aus der Einsicht über die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Erwartungen kommen wir zur Einstellung der Absichtslosigkeit. Sie zählt auch zu den Tugenden, die wir im Zug der spirituellen Suche erwerben können. Allerdings ist sie kein absolutes Ziel, das wir erreichen müssen, um die innerliche Freiheit zu erlangen. Der Begriff macht uns vielmehr darauf aufmerksam, dass wir unsere Erwartungen über die Zukunft immer wieder loslassen können. Denn, wie ich in einem früheren Blogbeitrag geschrieben habe, sind „unsere Absichten nur Luftblasen, die wir zerplatzen lassen können, sobald sie ihr kreatives Schillern verloren haben. Jede verschwundene Luftblase kann einer neuen Platz machen, und so bleibt unser Leben ein kreativer, aus sich heraus wachsender Prozess. Dazu ist es wichtig, dass wir den leeren Raum zwischen den Blasen bewusst wahrnehmen als den Einstieg in die eigentliche Quelle von allem. Die Freiheit von Absichten gehört zum Luxus des meditativen Lebens; die Kunst, Absichten klar zu erkennen, zu bewerten, zu Entscheidungen zu führen, und sie dann zum besten Zeitpunkt zu vergessen, ist Teil der alltäglichen Lebenskompetenz, an der wir immer wieder feilen müssen.“

Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Absichtslosigkeit in der Therapie
Akzeptiere, was ist, dann verändert es sich


Sonntag, 29. September 2024

Fossile Propaganda und Klimazerstörung

Die jüngste Überschwemmungskatastrophe hat viel Zerstörung und Leid verursacht. Sie hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Klimawandel voll im Gang ist und dass solche Ereignisse immer häufiger auftreten werden. Bei Überflutungen wird nachher immer wieder nach effektiveren Schutzmaßnahmen gerufen. Es steht zu hoffen, dass endlich starke Rufe nach effektiven Klimaschutzmaßnahmen vor der nächsten Katastrophe laut werden und von der Politik gehört und umgesetzt werden. Den Schaden nachher notdürftig zu reparieren, der vorhersehbar ist, ist nicht nur dumm, sondern auch kostspielig. Das Scheinargument, dass die Umstellung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit teuer ist, ist längst widerlegt. Jedes Zuwarten mit notwendigen Maßnahmen macht diese laufend teurer, kostet also Geld. Die Verzögerungskräfte bei der CO2-Steuer, bei der Bodenversiegelung, bei der Renaturierung usw., die vor allem in den konservativen und rechten Parteien maßgeblich sind, sind für diese Kostensteigerungen verantwortlich, ebenso wie für das Ausmaß künftiger Katastrophen.

Darüber gäbe es keinen Zweifel, wenn nicht seit Jahren Zweifel gesät worden wären, ob es den Klimawandel gibt, ob er menschengemacht ist, ob er überhaupt gravierende Auswirkungen hat oder nicht. Diese Diskussionen flammen immer wieder auf, unbeschadet der Tatsache, dass die Übereinstimmung in den Wissenschaften über die wesentlichen Zusammenhänge bei der Erderwärmung immer höher wird und schon bei 99,9% liegt. Es ist also vieles schon lange außer Streit, was irreführend als zweifelhaft dargestellt wird.

Säe Zweifel und die Menschen rennen dir nach

Die Zweifel an den Wissenschaften wurden systematisch verbreitet, genau von den Kreisen, die durch eine konsequente Klimaschutzpolitik auf Gewinne verzichten müssten, nämlich alle, die an der Förderung und Verbrennung von fossilen Brennstoffen verdienen. Diesen Menschen ist nichts anderes wichtig, als ihre Gewinne langfristig abzusichern, obwohl sie wissen, dass sie damit die Erdatmosphäre zerstören und viel Leid anrichten.

Christian Stöcker hat in seinem Buch: „Männer, die die Welt verbrennen“ (Ullstein 2024) die Propagandamechanismen hinter den Ablehnungskampagnen gegen die Klimaschutzpolitik beschrieben. Er hat recherchiert, wie die Lobbys der Erdölindustrie seit über dreißig Jahren systematisch Fehlinformationen, Fakenews und gefälschte Studien verbreitet haben, um die Menschen im großen Stil zu manipulieren und für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die Erkenntnisse der Wissenschaften zum Klimawandel, die im Kreis der fossilen Magnaten bekannt waren, sollten diskreditiert werden, indem bezahlte Scheinstudien das Gegenteil beweisen sollten. Diese Ergebnisse wurden lautstark verbreitet und in den entsprechenden, dafür offenen politischen Kreisen verankert. Gefälschte Studien werden bald aufgedeckt, aber es wurde und wird damit kalkuliert, dass die Widerlegungen viel später auftauchen werden und wenig Publizität erhalten, während der Hauptzweck der Aktion schon erreicht ist: Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in die Wissenschaften zu untergraben. Und wenn eine gefälschte Studie entlarvt wird, kann man leicht sagen: Ah, da sind sich die Wissenschaftler uneins, die einen sagen dies und die anderen das Gegenteil. Es gibt also gar keine sichere wissenschaftliche Meinung, sondern nur unterschiedliche Standpunkte. Solche Relativierungen sind für Menschen eine Erleichterung, die durch den Klimawandel beunruhigt sind, aber nichts in ihrem Leben ändern wollen. Sie können sich jetzt beschwichtigen, dass es wohl nicht so schlimm sein kann und dass man mit dem eigenen Leben so weiter machen kann wie bisher. Politikern, die über Gesetze beraten müssen, sind Ausreden willkommen, damit sie etwaige unpopuläre Maßnahmen vermeiden oder in die übernächste Legislaturperiode verschieben können.

Das Säen von Lügen und Desinformationen ist also ein Mittel der Machtpolitik, bei der es darum geht, das, was den Interessen der eigenen Profitsteigerung im Weg steht, zu eliminieren oder zu schwächen, und das ist erstaunlich gut gelungen. Immer mehr Menschen neigen der Wissenschaftsskepsis zu, indem sie glauben, dass wissenschaftliches Wissen genauso relativ ist wie jedes andere Wissen. Die Wissenschaftsfeindlichkeit, die in der Coronazeit bei vielen Leuten aufgetaucht ist, war nur auf der Grundlage des Vertrauensverlustes in die Wissenschaften, der schon länger systematisch von einschlägigen Kreisen vorangetrieben wurde, möglich.

In den USA gibt es eine regelrechte Tradition von Kampagnen zur Manipulation der Öffentlichkeit für plumpe wirtschaftliche Eigeninteressen und gegen das Allgemeinwohl. Die Tabakindustrie hat lange Zeit die Schädlichkeit des Rauchens heruntergespielt und entsprechende Studien kleingeredet oder durch getürkte Gegenstudien relativiert. Es hat sehr lange gedauert und viele Menschenleben auch von Nichtrauchern gefordert, bis endlich das, was man schon lange wusste, gegen viele Widerstände zum Schutz der Nichtraucher gesetzlich beschlossen wurde.

Ähnlich ist die Zuckerindustrie vorgegangen. Als durch wissenschaftliche Studien klar wurde, dass Zuckerkonsum zur Gewichtszunahme führt, wurde eine riesige Kampagne entfesselt, in der das Fett als Dickmacher herausgestellt wurde. Auch in diesem Bereich wurden Untersuchungen gefälscht, um die Harmlosigkeit des Zuckers zu belegen und die Gewinne der Unternehmen in diesem Bereich nicht zu schmälern. In der Folge wurde Zucker in immer mehr Lebensmittel vor allem bei Fertiggerichten, Soßen, Getränken usw. hinzugefügt, sodass die Konsumenten zur Zuckersucht konditioniert werden konnten.

Eine Achse des Bösen

Die „Achse des Bösen“ reicht vom Koch-Netzwerk (rechtsextreme Ölmilliardäre, die verschiedene Desinformationsinstitute gegründet haben) über das Murdoch-Imperium (rechtsgerichtete Medien, z.B. der republikanische Propagandasender Fox) bis in die konservativen, liberalen, rechten und rechtsextremen Parteien in Europa. Die Hauptvertreter der FPÖ z.B. wiederholen die Propagandaformeln dieser Desinformationsnetzwerke , als hätten sie die Wahrheit und als gäbe es keine Wissenschaften, die in Tausenden Studien das Gegenteil nachgewiesen haben: Den Klimawandel gibt es nicht („Es kommt eine neue Eiszeit); wenn es ihn gibt, dann ist er nicht menschengemacht („Es war früher auch schon wärmer“), es ist nicht das CO2 schuld („Das brauchen ja die Pflanzen“), es sind die Sonneneruptionen, die zu Klimaschwankungen führen, und die „Klimahysterie“ führt nur dazu, dass ein „wohlstandvernichtender Ökosozialismus“ eingeführt wird. 

Mehr von rechtskonservativer Seite kommen die Argumente: Wir tun schon so viel, aber die Chinesen, Inder, usw. verursachen viel mehr Treibhausgase.  Oder: Wir tragen so minimal zu den CO2-Emissionen bei, dass es keinen Unterschied machen würde, wenn wir den CO2-Ausstoß auf null reduzieren würden. Die Rechtsextremen leugnen oder bezweifeln den menschengemachten Klimawandel, während die rechtsgerichteten Konservativen die Klimapolitik auf minimaler Sparflamme halten wollen. Beide Richtungen ziehen deshalb den Karren der Ölmagnaten und spannen ihr Wahlvolk zusätzlich ein.

Natürlich sind all die Argumente von rechtsextrem bis rechts nichts als billige Ausreden, die leicht widerlegbar sind. Außerdem sind sie zynisch, weil das Klimaproblem die gesamte Menschheit betrifft und alle ihren größtmöglichen Beitrag bringen müssen, wenn die ärgsten Auswirkungen vermieden werden sollen. Außerdem sind, historisch betrachtet, die jetzt reichsten Länder des Westens seit zwei Jahrhunderten die Vorreiter der Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid, dass dieser Vorsprung in der Täterschuld lange nicht von anderen Ländern aufgeholt werden kann.

Mit solchen Kurzschlüssen, Dummheiten oder Naivitäten arbeiten diese Parteien den Großverdienern in der Fossilbranche in die Hände, und vermutlich fließt über irgendwelche Kanäle die entsprechenden Belohnungen. Jedenfalls sahnen sie ihre Wählerstimmen im Feld der Skeptiker und Verunsicherten ab, indem sie ihnen als Heilmittel den schamlosen Zynismus schmackhaft machen: Angesichts der sich häufenden Klimakatastrophen bestürzt zu sein und stur zu behaupten, dass es nichts zu ändern oder zu lernen gibt.

Die erwähnte Achse kann als böse benannt werden, weil sie dazu dient, ob wissentlich oder unwissentlich, dass der Menschheit massiver Schaden zugefügt wird, bzw. dass alle Maßnahmen zur Verhinderung des Schadens torpediert werden , nur um die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen und dort zu mehren. Es sind also blanke Egoismen, die, mit viel Geld in der Hinterhand, im großen Stil gegen die Menschlichkeit und Vernunft kämpfen. Sie sind aktiv gegen das Gemeinwohl gerichtet, denn die vom Klimawandel ausgelösten Lebensveränderungen betreffen alle und besonders jene, die zu den Schwächeren und Ärmeren in der Gesellschaft gehören.

Diese Strategien waren sehr erfolgreich und haben dazu beigetragen, dass die Bereitschaft für die kritiklose Übernahme von „alternativen“, in Wirklichkeit aber gefälschten und manipulierten Fakten in weiten Bereichen der Gesellschaft gewachsen ist und zunehmend von der fossilen Wirtschaft für die eigenen Zwecke genutzt werden kann. Es gelang, eine Armee von nützlichen Idioten zu erschaffen, die nichts an den Kampagnen verdienen, aber dennoch in Gesprächen und in den sozialen Medien bereitwillig mithelfen, Unwahrheiten zu verbreiten, Menschen zu verunsichern und die Klimaschutzpolitik in Misskredit zu bringen und zu blockieren.

Zum Weiterlesen:
Petromaskulinität und toxische Männlichkeit

Dienstag, 10. September 2024

Petromaskulinität: Toxische Männlichkeit und Klimazerstörung

Immer wieder fällt auf, dass sich beim Thema Klimaschutz aggressive Abwehrlinien zeigen, sobald es um Autos mit Verbrennermotor geht und dass es vor allem Männer sind, die sich persönlich bedroht fühlen, wenn das Aus für diese Antriebsart gefordert wird und die sich deshalb für die oft unseriös geführte Kritik an der E-Mobilität engagieren. Es handelt sich dabei um Personen, die eher konservativen oder rechten Parteien zugeneigt sind und autoritären Führern folgen oder ihnen zumindest teilweise Glauben schenken. Mit diesen Einstellungen ist zusätzlich noch häufig eine offene oder verdeckte Frauenfeindlichkeit verbunden.

Cara New Daggett ist in ihrem Buch „Petromaskulinität“ diesen Zusammenhängen nachgegangen. Bei dieser Thematik wirken verschiedene Faktoren zusammen: Toxische, also in der patriarchalen Ideologie wurzelnde Männlichkeit, Autoritarismus, Ausplünderung der fossilen Brennstoffe. Es sind mächtige Faktoren, die vor allem mit den Mitteln der Desinformation den Kampf gegen die Erderwärmung und ihre Auswirkungen untergraben wollen. Daggett nennt dieses Konglomerat eine „desaströse Konvergenz“. Alle diese Faktoren sind in den Programmen und Reden der rechtsorientierten Parteien versammelt und bilden dort zusammen mit dem Migrationsthema das Zentrum der Propaganda und die Zielrichtung der angestrebten Gesellschaftsveränderung. 

Die Unterdrückung des Begehrens

Die psychologische Dynamik bei dieser Konstellation wird in der Analyse von Daggett durch den Begriff des „Begehrens” bestimmt, den sie von Klaus Theweleit („Männerphantasien“, erschienen 1977 – „der Klassiker über die seelischen Grundlagen des Faschismus“) übernommen hat. Theweleit argumentiert in seiner Analyse der faschistischen Freikorpskämpfer in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, dass die Industrialisierung zur Entgrenzung der Produktionsmöglichkeiten geführt hat (auf Kosten vor allem der  fossilen Ressourcen, wie wir heute wissen), dass dieser Prozess aber nur deshalb erfolgreich war, weil parallel dazu die „Entfaltung der menschlichen Lüste“ begrenzt und eingedämmt wurde. Das Ausleben des lustbetonten Begehrens ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn daraus neue Arbeitskräfte hervorgehen. Die männlichen Körper und ihre Triebenergien müssen nach dieser Logik durch einen autoritären Staat eingedämmt werden, damit diese Kräfte zur Gänze der Güter- und Profitproduktion dienen können. Männlichkeit ist mit Härte verbunden, mit Rigidität und Starrheit. Theweleit spricht vom „soldatischen Damm-Mann“, der als Schutzwall gegen alles Stand hält, was fließt und überfließen könnte. Mit dem Fließen ist das Weibliche assoziiert, das dem Damm-Mann Angst macht. Fließen darf nur die Produktion (oder die Förderung von fossilen Brennstoffen); begehrt wird statt der Frau, die eine ungezügelte Lust und das Eintauchen in ein hemmungslosen Vergnügen verspricht, der autoritäre Staat, der das Fließen im Außen garantiert und die innere Triebunterdrückung belohnt. Das Fließen und Strömen, das in der Hingabe an das Weibliche erfahren werden könnte, würde die Härte aufweichen und zu Verletzlichkeit und Schwäche führen. Es herrscht die Angst, dass die Stärke, die in der Starrheit aufbewahrt ist, dadurch aufgezehrt wird, gewissermaßen aufgeweicht und dann weggeschwemmt von der weiblichen Flut begehrlicher Gefühle.

Der Frauenhass, der in diesen seelischen Konstrukten Wirkung entfaltet, ist nichts als der Ausdruck der männlichen Angst vor dem verbotenen Begehren. Die Ersatzbefriedigung wird in der Destruktivität gefunden. Die erstarrte Stärke des Damm-Mannes kann sich nur aggressiv ausdrücken. Sie zeigt sich in der Gewalt gegen Frauen, im schlimmsten Fall als Femizid. Stellvertretend für die Aggressionen auf reale Frauen wirkt die Zerstörungswut gegen die Natur, gegen das Symbol des Weiblichen. Je unsicherer das Verhältnis zur eigenen Männlichkeit ist, desto stärker ist die Neigung zu Dominanz und Aggressivität. Die Verfügung über PS-starke und laute Motoren in Autos, Flugzeugen, Motorrädern und Jachten drückt diese beiden destruktiven Energien aus.

Die Faszination des schwarzen Goldes

Im englischen Wort für Benzin, „petrol“ steckt das lateinische Wort für Stein (petra), also für das Harte; aber im Zusammenklang mit „oleum“ (Öl) zeigt sich das Fließende, das schwarze Gold. Das Erdöl, das Flüssige, das aus dem Harten und Festen kommt, entfaltet seine Kraft im Verbrennen. Diese Kraft verheißt dem modernen Menschen (Mann) Macht bis hin zur Weltherrschaft. Deshalb kämpfen vor allem Männer um den Zugang zu diesem Rohstoff. 

In dieser Machtverheißung liegt die Anziehungskraft der Verbrennungsmotoren für die verängstigte und verunsicherte Männlichkeit, die im Leistungs- und (Selbst-)Ausbeutungswahn gefangen ist. Die Identifizierung mit der scheinbar unendlichen Kraft und Macht, die aus dem Verbrennen kommt, wird zum Rettungsanker, der die Sicherheit vor den unheimlichen Mächten des Fließens verspricht und die patriarchale Dominanz aufrechterhalten soll. 

Im Prozess des Verbrennens wird durch die Destruktion von Natur Platz für Neues geschaffen. Diese Form der Weiterentwicklung, in der immer ein Moment der Zerstörung und der Gewalt enthalten ist, gilt als das einzige Form, mit der das Schlechte erfolgreich beseitigt werden kann. Die Form einer langsamen, evolutionären Veränderung wird ebenfalls mehr dem Weiblichen zugeordnet und genießt deshalb wenig Vertrauen beim abgehärteten Mann. Das Feuer steht dagegen für eine schnelle und nachhaltige Vernichtung von allem, was der männlichen Macht im Wege steht.

In dieses Spektrum passt der Befund aus Befragungen, dass Männer klimawandelskeptischer sind als Frauen und dass sie eher zu rechtsgerichteten Parteien tendieren, die lieber von „Klimahysterikern“ reden als sich um die Folgen und die Opfer der Klimaveränderungen zu kümmern. Der FPÖ z.B. ist das Thema nicht einmal ein Absatz in ihrem Wahlprogramm wert. Viele Männer sind blind für den Zusammenhang zwischen den Profitinteressen der Fossilindustrie und deren zerstörerischen Auswirkungen auf das Weltklima. Sie identifizieren sich mit der Macht, die durch das Verbrennen von Öl entsteht, ohne zu merken, dass die Profite, die sie mit ihrem Engagement fördern, nur wenigen Privatpersonen zugutekommen, während sie selber an den Auswirkungen der Zerstörung der Erdatmosphäre leiden müssen. Sie ignorieren die Einsicht, dass diejenigen, die am wenigsten zur Klimazerstörung beitragen, am meisten davon betroffen sind, sowohl innerhalb der Staaten als auch weltweit. Und sie verstehen nicht, dass, wie im Kapitalismus üblich, Private die Profiteure der Zerstörung sind und die Allgemeinheit, also vor allem die „kleinen Leute“ die Kosten für die angerichteten Schäden tragen müssen. Die zerstörerischen Folgen für die Lebensqualität und Gesundheit von Milliarden Menschen sind den Leuten, die Tag für Tage Milliarden an der Verbrennung fossiler Brennstoffe verdienen, völlig egal und sie haben auch keine Skrupel, durch systematische Desinformation Anhänger zu finden, die sich als nützliche Idioten an die Propagandamaschinerie der Klimaleugner anhängen.

Fossile Rohstoffe und autoritäre Regierungsformen: Begehren, was beherrscht und ausbeutet

Privilegien und Profite, die durch die Ausbeutung fossiler Rohstoffe entstehen, können am besten dadurch abgesichert werden, dass ihre Nutznießer autoritäre Regierungsformen anstreben und faschistische oder andere demokratiefeindliche Parteien fördern, die sich diesem Ziel widmen. Die Verbrennerideologie dient mit dem Einsatz von riesigen Summen dem Zweck, Personen und Personengruppen zu mobilisieren, sich für die Interessen der fossilen Industrie einzusetzen. 

Dazu passt das Zitat von Michel Foucault über den Faschismus, „der uns die Macht lieben und genau das begehren lässt, was uns beherrscht und uns ausbeutet.“ Mit dieser Täuschung gelingt es, Menschen mit geringem Einkommen dazu zu bringen, Politiker zu wählen, die ihnen noch mehr wegnehmen, indem sie die Steuern der Reichen senken und die Armen belasten. Viele Menschen unterstützen die Propaganda der Ölfirmen gegen Windkraft, Wärmepumpen, Solarstrom oder E-Autos, obwohl kein Cent der 5 Milliarden $, die die Förderung fossiler Brennstoffe pro Tag abwirft, in ihre Taschen fließt und obwohl sie unter den Folgen des schleppenden Einsatzes gegen die Erderwärmung zu leiden haben. Oder sie unterstützen politische Richtungen, die mit ihrer verbrennerfreundlichen Politik aktiv das Untergraben der Lebensbedingungen auf dem Planeten fördern. Es gibt genügend Frauen, die frauenfeindliche und von toxischer Männlichkeit infizierte Propaganda oder Witze verbreiten und meinen, sie tun damit Gutes. Selbst die besessene Verherrlichung von hypermännlichen Idealen wird von manchen Frauen geteilt oder bewundert. 

Psychologisch betrachtet steckt hinter den männlichen Machtansprüchen die „tief liegende Angst angesichts der sozialen Fragilität von Maskulinität sowie das allen gemeinsame Gefühl, diesem Ideal persönlich nicht gerecht geworden zu sein.“ (Daggett S. 31) Auf das Gaspedal zu drücken und das Aufheulen des Verbrennermotors zu hören, der dem eigenen Willen gehorcht, verleiht ein Gefühl von Macht, das eine momentane Überlegenheit und Unantastbarkeit verspricht. Es sind ein überhöhtes* Selbstbild und eine Scheinsicherheit, die auf einer Weise der Zerstörung natürlicher Ressourcen beruhen, mit der zugleich die Erdatmosphäre in Mitleidenschaft gezogen wird, mit der also doppelter Schaden angerichtet wird.

* Nicht zufällig steigen die Verkaufszahlen der umweltschädlichen SUVs, in denen der Fahrer höher thront als die Konkurrenten auf der Straße.

Literatur:

Cara New Daggett: Petromaskulinität. Fossile Energieträger und autoritäres Begehren. Berlin: Matthes & Seitz 2023
Christian Stöcker: Männer, die die Welt verbrennen. Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit. Berlin: Ullstein 2024

Freitag, 23. August 2024

Dimensionen des Glücks

Wenn es um das Glück geht, wird häufig zwischen Hedonismus und Eudaimonismus unterschieden. Beide Begriffe gehen auf die griechische Philosophie zurück. Mit Hedonismus (griech. hedoné: Vergnügen, Lust, Begierde) wird ein Glückszustand verstanden, der kurzzeitig anhält und möglichst häufig erreicht werden soll. Der psychologische Hedonismus ist eine Theorie, dass alle menschlichen Handlungen auf die Vermehrung von Lust und die Verringerung von Schmerz ausgerichtet sind.

Der Eudaimonismus geht auf Aristoteles zurück, der das Glück mit dem ethisch rechten Handeln in Verbindung brachte. Wenn die Lebensführung dem Guten dient, werden nicht nur die eigenen Fähigkeiten optimal entfaltet, es stellt sich auch ein ausgeglichenes und gelassenes Gemüt ein. Gutes zu tun, trägt einen inneren Wert in sich und führt zur Übereinstimmung mit sich selbst, während böse oder schlechte Taten nicht nur Schaden anrichten, sondern auch zu einer inneren Spaltung und zum Unglück führen. 

Zwei US-amerikanische Psychologen haben eine Studie veröffentlicht, in der sie für eine dritte Dimension des Glücks plädieren. Sie berufen sich dabei auf Friedrich Nietzsche, der seinen Zarathustra im Kapitel „Der Wanderer“ sprechen lässt: „Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Größe: Nun ist deine letzte Zuflucht worden, was bisher deine letzte Gefahr hieß!“ Shigehiro Oishi (Psychologieprofessor in Chicago) und Erin Westgate (Assistenzprofessorin an der Universität von Florida) sehen die Figur des Wanderers als Beispiel für ein „psychologisch reiches Leben“, das sich mit Hedonismus (Glück als Lustmaximierung) und Eudaimonismus (Glück als sinnerfülltes Tun des Guten) nicht zufrieden gibt.

Kognitive Komplexität

Nach den Studien von Oishi und Westgate geht es bei dieser Form des Glücks zunächst um „kognitive Komplexität“. Das mentale Erfassen der Vielgestaltigkeit der Phänomene, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt ist eine Qualität, die das Wechseln von Perspektiven und das Einnehmen unterschiedlicher Sichtweisen erleichtert. Damit wird die Wirklichkeit mehrdimensional wahrnehmbar und verständlich. Einseitige Standpunkte, monotone Gedankenschleifen oder wiederkehrende emotionale Muster  werden langweilig und überflüssig. Andere Menschen werden nicht mehr auf isolierte Bewertungen festgenagelt („Herr X. ist ein Schwachkopf“), sondern in ihrer Vielschichtigkeit („Herr X. hat mir einen schlechten Rat gegeben, aber sonst ist er ein netter Mensch.“) Das Tun der Menschen, auch wenn es nicht den eigenen Normen entspricht, wird erst aus einer Vielzahl von möglichen Motiven verständlich. 

Menschen, denen diese Form des Glücks vertraut ist, lassen sich gerne überraschen und entdecken mit Vorliebe neue Aspekte an dem, was sie erleben. Oft pflegen sie eine Vielfalt an Interessen. Sie sind in ihren politischen Ansichten offen und lernfähig. Es fällt ihnen leicht, Toleranz zu üben und unterschiedliche Lebensformen oder sexuelle Orientierungen zu akzeptieren. Durch die Flexibilität in ihrem Erleben gelingt es ihnen, aus Erfahrungen, die unangenehm oder irritierend sind, einen Wert zu ziehen und einen positiven Kontext zu finden. Dadurch wird das Ertragen von Belastungen und schlechten Erfahrungen erleichtert. Krisen können als Lernchancen begriffen und genutzt werden.

Diese Form des Glücks taucht auch bei allen Formen der Kreativität auf. Der schöpferische Prozess beinhaltet Momente der Überraschung und des Entdeckens von neuen Möglichkeiten. Er erweitert den Horizont und öffnet neue Perspektiven, für die Person, die das Werk in die Welt bringt, und für alle, die es erleben. Der Vorgang des Schaffens ist häufig von einem erhebenden und mitreißenden Flow-Zustand begleitet: Das kreative Tun wird zu einem Geschehen, das das ganze Innere ausfüllt, ohne irgendeine Kontrolle durch einen kritischen Verstand. 

Die Reise in die Tiefe

Der wandernde Zarathustra ist allerdings jener, der die Reise nach innen sucht und sich mit den Abgründen des Seelenlebens auseinandersetzt: „Tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal.“ In dieser Seelentiefe ist das Höchste zu finden: „Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen.“

Nach Nietzsche und auch nach den Lehren vieler spiritueller Meister und Mystiker kann das höchste Bewusstsein nur erreicht werden, wenn die inneren Dämonen konfrontiert werden. Es sind Schmerzen und Ängste, die in diesen Gestalten stecken. Sie müssen erfahren, durchlebt und entmachtet werden, um in die Tiefenschichten der Seele vorzustoßen und dort das höchste Potenzial freizulegen, über das Menschen verfügen. Dort findet sich eine Form des Glücks, das völlig frei ist von äußeren Bedingungen und aus einer tiefen Quelle des eigenen Seins fließt.

Oishi und Westgate haben ihre Studie mit amerikanischen Studenten gemacht. Sie ist deshalb nur beschränkt aussagekräftig, was die Motive und Glücksstrategien der Menschen anbetrifft. Auch scheint der Begriff des Eudaimonismus, den sie verwenden („Glück durch Sinn und Bedeutsamkeit“), wenig mit dem Glücksverständnis von Aristoteles zu tun zu haben. Und schließlich finde ich den Begriff des „psychologischen Reichtums“ als nicht sehr glücklich gewählt. Zwar ist es nachvollziehbar, dass Psychologen ihrer Wissenschaft die höchste Bedeutsamkeit zumessen, doch scheint das Phänomen, das sie untersucht haben, weit über die Psychologie und ihr Fachgebiet hinauszugehen. Außerdem sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass man ein Psychologiestudium für diese Form des inneren Reichtums braucht.

Geo-Artikel zu dem Thema

Zum Weiterlesen:
Das Geheimnis der Lebensfreude
Das individuelle Glück und die Ungeheuerlichkeit des Leids
Der Mythos vom verlorenen Glück


Mittwoch, 21. August 2024

Die politische Korrektheit

Im Hintergrund und Umkreis der erörterten Begriffe von wokeness, kultureller Aneignung und cancel culture steht die political correctness. Hier geht es vor allem darum, Diskriminierungen in der Sprache zu vermeiden. In vielen sprachlichen Ausdrücken schwingen negative Bewertungen mit, die bei den angesprochenen Gruppen Verletzungen auslösen und deshalb vermieden werden sollten. Die Idee besteht darin, durch die Änderung von Sprachgewohnheiten das Bewusstsein zu ändern, das dann zur Aufhebung von sozialen Benachteiligungen führen könnte. 

Wie bei ähnlichen Bestrebungen, die von liberalen oder linksgerichteten Intellektuellen initiiert wurden, entstanden auch beim Thema der politischen Korrektheit bald kulturpolitische Auseinandersetzungen, bei denen konservative und rechte Kreise sich dagegen zur Wehr setzten, Gewohnheiten zu verändern. Wie bei anderen verwandten Themen trat auch hier der Effekt auf, dass irgendwann der Ausdruck selber abgewertet oder lächerlich gemacht wurde. Wer sich politisch korrekt verhalten will, sei ein „Hypermoralist“, der/die nur die anderen zu kleinlichen, umständlichen oder absurden Formulierungen zwingen will. Diese Kreise sprechen sich in der Regel zwar nicht direkt für Diskriminierungen aus, lassen aber in ihrem Kampf gegen Sprachveränderungen jeden Respekt vor den benachteiligten Personen vermissen.

Das Gendern

Bekannt und weit verbreitet ist die Debatte um das Gendern, das den rechtsgerichteten Politiker*innen ein Dorn im Auge ist, sodass in den österreichischen Bundesländern, in denen die FPÖ mitregiert, ebenso wie in Bayern das Gendern im amtlichen Bereich verboten wurde. Auf die Zusammenhänge zwischen dem Kampf gegen das Gendern und für die Aufrechterhaltung des Patriarchalismus bin ich an anderer Stelle eingegangen. 

Benennungen und Status

Eine andere Kritik an der politischen Korrektheit weist darauf hin, dass die Veränderung des Sprachgebrauchs nichts an den Diskriminierungen ändert und höchstens verschleiert, dass es sie nach wie vor gibt. Es erweckt den Anschein, als wäre eine „Raumpflegerin“ sozial oder ökonomisch besser gestellt als eine „Putzfrau“ oder als hätten „Sexarbeiterinnen“ mehr Prestige als „Prostituierte“ oder gar „Huren“. Andererseits können solche Sprachveränderungen dazu führen, das Selbstgefühl der betroffenen Personen zu heben, indem sich z.B. ein „facility manager“ wertvoller und respektvoller behandelt fühlt als ein „Kloputzer“.

Manche politisch korrekte Bezeichnungen sind mittlerweile im Großen und Ganzen unbestritten, wie z.B. die Ächtung des Begriffs „Neger“, der im Duden mit einem besonderen Hinweis versehen ist, der auf den diskriminierenden Bedeutungsinhalt hinweist. Oft ist an solchen Stellen nur mehr vom N-Wort die Rede. Sinti und Roma werden nicht mehr als Zigeuner bezeichnet; die Eigenbenennung einer ethnischen Gruppe soll immer den Vorrang vor oft abwertend verwendeten Fremdbezeichnungen haben. Ähnliches gilt für die Inuit. Diese Beispiele zeigen Fortschritte in der Bewusstheit in der Achtung von Minderheitenrechten, die sich gegen konservative Widerstände durchgesetzt haben.

Politische Korrektheit in Hinblick auf die Vergangenheit

Ob allerdings der Gebrauch dieser inzwischen verpönten Ausdrücke auch auf die Vergangenheit übertragen werden sollte, wird heftig debattiert. In Österreich ging es z.B. um den Kinderbuch-Klassiker „Hatschi Bratschi Luftballon“ von Franz K. Ginzkey (erstmals 1904 erschienen), in dem Schwarze und Türken rassistisch abgewertet vorkommen. Soll das Buch deshalb nicht mehr verkauft werden? Es gibt jetzt abgewandelte und entschärfte Versionen, aber auch die ursprüngliche Fassung kann mit einem Begleitheft erworben werden, in dem auf die zeitbedingten ethnischen und rassistischen Blindheiten aufmerksam gemacht wird.

In Deutschland gab es vor zwei Jahren eine große Aufregung, weil die Winnetou-Filme angeblich nicht mehr im Fernsehen gezeigt werden sollten. Manche befürchteten einen Kahlschlag nationaler Kulturgüter im Namen der politischen Korrektheit und deckten sich rechtzeitig mit Karl-May-Ausgaben ein, sodass die Winnetou-Bände für einige Zeit an die Spitze der Bestsellerliste kamen. Von einem Politiker wurde sogar ein „Winnetou-Gipfel“ verlangt: Die Koalitionsparteien müssten damit den Häuptling „retten“ und der Kanzler dort „endlich Flagge zeigen“. Schließlich stellte sich heraus, dass die Filme weiterhin gezeigt und die Bücher ungehindert lieferbar sind, und die Debatte verlief im Sand.

Historische Bedingtheiten

Wer mit einigem historischen Verständnis ausgestattet ist, kann solchen Debatten wenig Sinnvolles abgewinnen. Die Vorurteile und Stereotypen, die in früheren Zeiten selbstverständlich waren,  haben sich überlebt, auch wenn das noch nicht allen aktuellen Zeitgenoss*innen bewusst geworden ist. Wir erkennen einen Fortschritt in der Achtung von anderen Kulturen und Traditionen, von Hautfarben und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Dieser Fortschritt soll mit den Hinweisen auf politische Korrektheit weiter vorangetrieben werden. Historisch denken heißt, alle kulturellen Hervorbringungen als Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche, eines Zeitgeistes mit all seinen Beschränkungen zu verstehen. Deshalb ist in solchen Fällen nur ein Mehr an geschichtlichem Reflektieren notwendig und nicht das Korrigieren von klassischen Texten. Es ist bekannt, dass Karl May ein guter Geschichtenschreiber war und spannende Romane verfassen konnte, aber nicht, dass er über ein toleranteres Weltbild verfügt hätte als der Durchschnitt seiner Zeitgenoss*innen. Die Bücher von Ginzkey sind eben auch Zeitdokumente und führen uns vor Augen, mit welchen Brillen unsere Vorfahren die Welt erlebt haben.

Sich sprachlich und auch sonst politisch korrekt zu verhalten, ist Ausdruck der Toleranz und des Respekts vor den Rechten von Randgruppen, Minderheiten und anderen benachteiligten Gruppen. Wie alles Menschliche hat auch die politische Korrektheit ihre Grenzen und stellt kein Allheilmittel gegen soziale Ungerechtigkeiten dar. Aber sie setzt Maßstäbe für die Verbesserung des ethischen Umgangs in der Gesellschaft, die wir beachten sollten, wenn wir unseren Mitmenschen achtungs- und würdevoll begegnen wollen. 

Zum Weiterlesen:
Gendern und die Wunden des Patriarchats
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung
Das Reizthema LBTQ und der Patriachalismus
Das N-Wort und die politische Korrektheit


Freitag, 16. August 2024

Kulturelle Aneignungen im Kapitalismus und in der Kulturentwicklung

Im Reigen der neueren Begriffe in der kulturpolitischen Debatte fehlt jetzt noch jener der „kulturellen Aneignung“. Dieser Begriff ist eng mit der Kolonisationsgeschichte verbunden, geht aber auch darüber hinaus. Er kommt vom englischen Cultural Appropriation, und das heißt so viel wie widerrechtliche Aneignung oder Inbesitznahme, was soviel bedeutet wie kultureller Diebstahl. Die gebräuchliche Übersetzung ins Deutsche klingt harmloser und wird deshalb häufig missverstanden.

Die Sensibilisierung in den westlichen Gesellschaften für dieses Thema hat in den westlichen Gesellschaften vor ungefähr 40 Jahren im Kreis der Kultur- und Sozialwissenschaften begonnen und  ist nun in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Auch die Erkenntnisse in der Aufarbeitung der Kunsträubereien durch die Nationalsozialisten haben zur Bewusstheit für diese Thematik beigetragen und dazu geführt, dass entwendete Kulturgüter an die ursprünglichen Eigner zurückgegeben wurden. Probleme treten vor allem dort auf, wo Kulturgüter unter Ausnutzung von asymmetrischen Machtverhältnissen angeeignet werden und die Ursprungskultur verschwiegen oder verachtet wird. 

Das Thema kulturelle Aneignung kann viele Emotionen entfesseln, weil es bei Schwarzen, indigenen Menschen oder People of Color Erinnerungen an traumatisierende Erfahrungen mit rassistischen Abwertungen weckt. Diese Empfindlichkeit spiegelt die Lasten des Kolonialismus wider, der bis heute wirksam ist und dessen Ideologie besagte, dass die Weißen allen anderen Rassen überlegen sind. Die vor allem von Europa ausgehende koloniale Expansion zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert hat nicht nur mit der Sklaverei und der Ausplünderung von Bodenschätzen unendliches Leid hervorgebracht und viele Kriege angezettelt, sie hat auch eine große Zahl von indigenen Kulturen und Traditionen ausgerottet oder schwer beschädigt. Das, was den Weißen von den einheimischen Kulturgütern als interessant oder hübsch erschienen ist, haben sie einfach mitgenommen und stolz in unsere Museen gestellt.

Viele weiße Personen, die von den Gräueln des Kolonialismus nichts wissen oder wissen wollen, können die verletzten Gefühle der Vertreter indigener Völker oft nicht nachvollziehen und verstehen die Empfindlichkeiten nicht. Es fehlt an historischer Aufklärung über die Schneisen an Gewalt und Ausbeutung, die durch die Kolonialmächte quer durch die südlichen und östlichen Kontinente geschlagen wurden. Die Verachtung und Arroganz, mit welcher die Kolonialherrn alle nicht-weißen Menschen behandelt und misshandelt haben, wirken bis heute als kollektive Traumen nach und nähren die Scham- und Wutgefühle bei den betroffenen Menschen, die sich dann an jeder neuen Form der hochmütigen weißen Ignoranz aufs Neue entzünden. Der Respekt für jede Form von Kultur ist erst in letzter Zeit in den westlichen Ländern langsam gewachsen und schwächt den strukturellen Rassismus, den es nach wie vor in unseren Breiten und in Übersee gibt und der auf viele Normen und Sichtweisen hierzulande einen subtilen Einfluss ausübt.

Strittige Fälle der kulturellen Aneignung

Die UNESCO hat schon 1970 ein Abkommen verabschiedet, mit dem der Handel mit Kulturgütern unterbunden und das nationale Erbe des jeweiligen Landes geschützt werden soll. Dennoch gibt es immer wieder Fälle der kulturellen Aneignung, bei denen die Rechte der ursprünglichen Besitzer nicht geachtet werden. 

Ein Beispiel bilden die Dreadlocks. Sie stammen aus der Rastafari-Bewegung schwarzer Jamaikaner und wurden als Symbol der Unterdrückung und des Protestes dagegen getragen. Als sie zum Modegag für Leute wurden, die alle westlichen Freiheiten genießen und zu den Profiteuren des Kolonialismus zählen, reagierten viele mit antikolonialem Hass. 

Der Hip-Hop als Musikrichtung diente zunächst und ursprünglich der Wiedergabe der Lebenswelt schwarzer Menschen, die Texte waren vor allem gegen Diskriminierung und Benachteiligung gerichtet. Als auch Weiße mit diesem Musikstil Geld machten, fühlten sich die schwarzen Hip-Hopper bestohlen und ihres Protestmittels beraubt.

In Mexiko soll erstmals die kulturelle Aneignung unter Strafe gestellt werden. Der Anlass besteht darin, dass westliche Modelabels Webmuster der indigenen Bevölkerung  ungefragt und ohne Kompensation für ihren Profit verwendet haben. Diese Muster haben für die Bevölkerung eine hohe kulturelle und religiöse Bedeutung.

Kapitalismus und kulturelle Aneignung

Der Kapitalismus breitet sich ungehemmt aus, wenn er nicht durch staatliche Gesetze oder zwischenstaatliche Abkommen eingeschränkt wird. Er inhaliert auch alle kulturellen Güter, aus denen Profit geschlagen werden kann, wie z.B. eine verkitschte Mozartmelodie, die im Einkaufszentrum zu konsumieren anregen soll. Das mexikanische Beispiel schlägt in die gleiche Kerbe. Kulturgüter werden zu Waren und dienen der Ankurbelung der kapitalistischen Prozesse, bei denen an irgendeiner Stelle der Reichtum angehäuft wird und anderswo schrumpft.  Die Traditionen werden eingeebnet und gleichgeschaltet, sodass sich die mondänen Einkaufsstraßen in den Metropolen durch nichts mehr voneinander unterscheiden: Die Modeketten, die mit ihren Schaufenstern locken, sind überall auf der Welt die gleichen, ebenso wie die Melodien, die drinnen dudeln. 

Zwar gibt es immer wieder Kunstwerke, die der Vermarktung voraus sind, aber irgendwann werden sie eingeholt, außer sie sind so widerspenstig wie die Zwölf-Ton-Musik oder der Free-Jazz. Den Kulturtraditionen und indigenen Kulturen ergeht es nicht anders. Irgendwann werden ihre passablen Elemente entdeckt und in eine neue Modeströmung eingebaut, in der sie ihre ursprüngliche Aussagekraft verlieren. Sobald die nächste Welle kommt, werden sie wieder vergessen, und ein Stück Ursprünglichkeit ist für immer dahin. Die Profitkarawane zieht weiter und schert sich nicht darum, wer sich verletzt und wütend fühlt. Staatliche Gesetze können dieses Treiben da und dort eindämmen, aber alle Kulturgüter, die durch solche Maßnahmen aus dem Sog der Vermarktungsdynamik herausgehalten und eigens geschützt werden, verhalten sich zur Ursprungskultur wie Zootiere zu ihren wild lebenden Artgenossen. 

Keine Kultur ohne Aneignung

Es gibt keine Kulturentwicklung ohne die Übernahme von Kulturelementen aus anderen Traditionen. Kultur lebt vom Austausch und von gegenseitiger Befruchtung an den Grenzen der Kulturräume. Jeder Kulturschaffende gewinnt seine neuen kreativen Impulse aus dem, was andere bereits geschaffen haben. Allerdings ist es auch Teil der Kultur, denjenigen Respekt und Anerkennung zu zollen, denen man die eigenen Schöpfungen zu verdanken hat.  Dort, wo dieser Akt der Bescheidenheit und Dankbarkeit versäumt wird, kann man von ungerechtfertigter und unmoralischer Aneignung sprechen. 

Der antikoloniale Affekt ist verständlich, der in Bezug auf viele Kulturschöpfungen aus benachteiligten Kulturräumen und –traditionen ausbricht, wenn sie ungefragt kopiert und in entfremdende neue Kontexte eingebettet oder zu Profitzwecken vermarktet werden. Solche Wutgefühle genügen aber nicht dafür, die Kulturentwicklung insgesamt einzuschränken. Die Freiheit, die diese Entwicklung braucht, ist wesentlich für ihr Gedeihen, und ihr Gedeihen ist wesentlich für den Fortbestand der Gesellschaft und letztlich für das Wohlbefinden der Menschen. In dieser Entwicklung finden immer mehr Traditionen und Kulturräume ihren mitgestaltenden Platz, indem sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert anerkannt und zugleich zu einem kommunikativen Austauschprozess eingeladen werden. Auch indigene Kulturtraditionen haben nicht nur einen historischen Wert, der bewahrt werden sollte, sondern auch ein inneres Veränderungspotenzial als Reaktion auf die verändernden Rahmenbedingungen und auf die historischen Prozesse, in denen sich alle Traditionen befinden. 

Andererseits ist es ein wesentlicher Teil der Kulturentwicklung, die bewertungsfreie Anerkennung aller Kulturschöpfungen und kulturellen Traditionen zu fördern, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Wir sind Teil einer Weltkultur, die aus allen Quellen der Kreativität der Menschen auf dieser Erde schöpft und in ihrer Gesamtheit Wirkungen auf alle Menschen entfaltet. Jede Abwertung irgendeiner kulturellen Tradition bedeutet einen Rückschritt in der Kulturentwicklung. Die Debatten um die kulturelle Aneignung machen auf diese Dimension aufmerksam und dienen deshalb selber als Teil dem kulturellen Fortschritt.