Wie im letzten Blogartikel beschrieben, sollte in einem Konfliktfall die Parteilichkeit mit den Opfern die oberste Leitlinie sein. Es gibt Konflikte, in denen die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern eindeutig ist, z.B. zwischen Eltern und kleinen Kindern, und solche, in denen die Rollen von vornherein uneindeutig verteilt sind und von Situation zu Situation unterschieden werden muss, was gerade gilt, z.B. zwischen Geschwistern. Wenn in einer patriarchalen Struktur Konflikte zwischen Männern und Frauen ausbrechen, sind die Männer die Täter, weil sie durch die Struktur eine mächtigere Position innehaben, und die Frauen Opfer. Wo sich die patriarchalen Rollen auflösen, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, die Rollen werden austauschbar.
Übertragen auf Konflikte in Organisationen: Bei hierarchischen
Strukturen sind die Täter in der Regel oben auf der Ordnungsleiter und die
Opfer befinden sich weiter unten. Bei Konflikten zwischen Mitarbeitern auf der
gleichen Hierarchieebene gibt es wiederum keine klare Unterscheidung. Bei
zwischenstaatlichen Konflikten ist der Staat, der einen anderen angreift, der
Täter. Beispiele für solche zwischenstaatliche Angriffskriege sind: Der Angriff
Österreich-Ungarns auf Serbien 1914, der Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen
1939 und auf die Sowjetunion 1941, der Angriff der USA auf den Irak 2003 und
der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022.
Bürgerkriege in einem Staat sind meist weniger eindeutig,
während Aufstände und Befreiungskonflikte klare Machtverteilungen aufweisen: Es
wehren sich die Opfer von Unterdrückung gegen die vorherrschende Macht.
Es gilt also die Regel: Wo die Macht ungleich verteilt ist, werden
im Konfliktfall diejenigen mit mehr Macht zu den Tätern und diejenigen mit
weniger zu den Opfern. In solchen Fällen ist die Parteinahme mit den Opfern
angebracht und wichtig, um ungerechte Strukturen in gerechtere überzuführen.
Jede Parteinahme in einem Konflikt fördert das
Gewaltpotenzial, wie im letzten Blogbeitrag argumentiert wurde. Wenn die Lage
eindeutig ist, wenn also klar ist, wer der Täter und wer das Opfer ist, gilt
die Parteilichkeit den Opfern und steigert damit das Gewaltpotenzial, aber auf
der Seite der Schwächeren. Die Gewalt, die durch die Parteinahme mobilisiert
wird, kommt den Opfern zugute. Als die Schwächeren brauchen sie Unterstützung
und Beistand. Die Täter, die Gewalt ausüben, müssen durch Gegengewalt in die
Schranken gewiesen werden; freiwillig werden sie ihre Machtpositionen nicht
hergeben. Die Parteinahme zielt auf einen Ausgleich der Kräfte und auf die
Verringerung ungleicher Machtverhältnisse, die immer zur Benachteiligung der
Schwächeren führt. Gerechtere Formen der Machtverteilung sind zugleich
menschlicher, weil sie dem menschlichen Bedürfnis nach Fairness entsprechen und
einer größeren Zahl von Menschen mehr Möglichkeiten verschaffen.
Der Nahostkonflikt und die Parteilichkeit
Der schwere Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern
liefert ein Beispiel für die Austauschbarkeit der Rollen. In der langen,
mindestens hundert Jahre dauernden Konfliktgeschichte sind beide Seiten unzählige
Male zu Opfern und Tätern geworden. Gewaltakte folgen auf Gewaltakte, und es gibt keinen Maßstab, nach dem eine
Eindeutigkeit in der Rollenverteilung gefunden werden könnte. Es ist nicht
auszumachen, wer gut und wer böse ist, und
deshalb ist jede Parteilichkeit willkürlich und anmaßend und pumpt mehr Gewalt
in eine Seite des Konflikts. In der jüngsten Entwicklung ist die
palästinensische Hamas zunächst zum Täter geworden, und die Parteinahme gilt
den Opfer dieser Aggressionen. In der Logik dieses Konflikts haben sich dann
die Rollen vertauscht, und die Palästinenser wurden zu den Opfern der
israelischen Aggressionen, die Anteilnahme und Unterstützung verdienen.
Viele Solidarisierungen mit einer Konfliktpartei sind von tiefgehenden
und oft unbewussten historischen und psychologischen Wurzeln gesteuert. In den
Konflikt untrennbar hineinverwoben ist aus europäischer Sicht die unheilvolle
Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust. Die systematische ideologische
Judenfeindschaft ist eine Erfindung Europas, zunächst als religiöser
Antisemitismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und ab dem 19.
Jahrhundert der rassische Antisemitismus, der den Juden rassische Merkmale
andichtete, die sie zu bösen Menschen machten.
Ausgrenzungen und Abwertungen von Teilen der eigenen
Gesellschaft lösen immer starke Scham- und Schuldgefühle aus, erst recht, wenn
sie zu gewaltsamen Ausbrüchen bis zur physischen Vernichtung führen. In den
Träger- und Täterländern der nationalsozialistischen Judenvernichtung,
Deutschland und Österreich, besteht deshalb eine massive Scham- und
Schuldbelastung, die mehr oder weniger erfolgreich in den letzten Jahrzehnten
aufgearbeitet wurde, aber immer noch einen unparteilichen Blick auf die
Konfliktlage erschwert. Für die Geschichte Österreichs ist es übrigens
bezeichnend, dass einzig der Jude Bruno Kreisky als Bundeskanzler in den
siebziger Jahren eine diplomatische Brücke zu den Palästinensern schlagen
konnte. Von dort aus öffnete sich in weiterer Folge der Weg zu den hoffnungsvollen
Projekten für eine Zwei-Staaten-Lösung in Palästina zwanzig Jahre später, denen
aber leider kein Erfolg beschieden war.
Gibt es Aussichten?
Was ist die Perspektive? Erst wenn die Parteilichkeit mit
den Opfern globale Ausmaße annimmt, die überwiegenden Mehrheiten in den
Konfliktgebieten bildet und die Parteilichkeiten für eine der Konfliktseiten
übertrifft und in den Schatten stellt, besteht die Hoffnung, die
Konfliktparteien zu einem Einlenken zu bringen. Es ist die überwältigende Macht
der Menschlichkeit, die es verbietet, dass es in irgendeiner Form zu
Menschenrechtsverletzungen und Opfern an Leib und Gesundheit kommt. Sie muss
jede Form der Gewaltanwendung wirksam und nachhaltig unterbinden. Es sind die
Kräfte des Friedens, die über die Parteinahme mit den Opfern die Fahne der
Menschlichkeit so lange hochhalten, bis genügend Menschen verstanden haben, dass
es sinnlos ist, weitere Menschenleben zu opfern und dass der Konflikt so
beigelegt wird, dass beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen.
Zum Weiterlesen:
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt