Montag, 11. November 2024

Über das Nichtbewerten und die Notwendigkeit des Bewertens

Nicht zu beurteilen ist eine hohe Tugend im zwischenmenschlichen Umgang. Wir sollten uns von Urteilen über andere fernhalten, weil wir uns mit jedem Urteil eine übergeordnete Position gegenüber der beurteilten Person anmaßen. Wir setzen uns auf einen Richterstuhl ein und fällen von dort aus das Urteil. Die beurteilte Person befindet sich damit automatisch in einer unterlegenen und beschämenden Position, selbst wenn das Urteil positiv ist. Denn das Urteil liegt im Ermessen der beurteilenden Person, die nach ihrem Gutdünken den anderen ihren Wert zu- oder abspricht. Es besteht ein Machtgefälle zwischen dem, der beurteilt, und dem, der beurteilt wird. Machtunterschiede enthalten immer die Elemente von Stolz auf der Seite der mächtigen Person und Scham auf der Seite der untergeordneten Person.

Gilt diese Tugend der Beurteilungsfreiheit für alle Fälle, unter allen Umständen, oder gibt es Bereiche, in denen es das Urteilen braucht, um Schaden abzuwenden oder bessere Lösungen zu erreichen? Werden wir unseren Werten gegenüber untreu, wenn wir eine Haltung oder Aussage, die unseren Werten widerspricht, nicht beurteilen? 

Grundsätzlich gilt: Menschen sind wichtiger als Werte. Werte entstehen aus eingeschränkten Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Was ist aber mit Werten, die das Absolute widerspiegeln, wie z.B. der Wert, der Menschen vor Werte reiht? Auch dieser Wert ist nicht absolut, denn jeder Aspekt des menschlichen Lebens ist relativ. Zwar schulden wir Menschen einander den unbedingten Respekt und die uneingeschränkte Wertschätzung, schaffen sie aber immer nur auf bedingte und eingeschränkte Weise. Es ist und bleibt also ein Ideal, das wir anstreben, aber nur in besonderen Momenten annähernd verwirklichen können. 

Deshalb ist auch die bewertungsfreie Einstellung zu unseren Mitmenschen nur ansatzweise erreichbar, und wir sind in diesem Bemühen immer wieder fehleranfällig. Unser Unterbewusstsein unterläuft unser Bestreben beständig, weil es kontinuierlich Bewertungen produziert, die wir erst nachträglich, wenn sie uns bewusst werden, zurücknehmen können. Wir kommen nie mit dem Bewusstmachen nach. Die Bewertungen sind schon längst in unsere Bewertungskategorien eingeflossen, bevor wir sie überhaupt bemerken. 

Bewertung in der Kommunikation

Was wir in Hinblick auf die Bewertungsfrage kultivieren können und sollten, ist unsere Kommunikation. Wir sollten danach streben, sie möglichst frei von Bewertungen zu halten, um keine Ängste und Schamgefühle bei den Kommunikationspartnern auszulösen. Selbst wenn also unser Unterbewusstsein beständig Bewertungen aufstellt, sollten wir unsere Mitmenschen davor bewahren, indem wir die Bewertungen nicht äußern, sondern innerlich loslassen.

Weiters können wir in unserem Inneren mehr und mehr bewertungsfreie Räume schaffen. Das ist die Arbeit des Bewusstmachens. Wir erkennen, dass wir die Person A bewerten und können uns damit beschäftigen, woher diese Bewertung kommt, wie sehr sie mit der Realität übereinstimmt und was sie übersieht. Wir können erkennen, dass wir in uns Anteile haben, die dem, was wir an der anderen Person bewerten, ähnlich sind.  Auf diese Weise relativieren sich unsere Bewertungen und treten in den Hintergrund vor der größeren und wichtigeren Realität, die in der anderen Person enthalten ist. Wir öffnen uns für die Ganzheit des anderen Menschen, in der sein unschätzbarer Wert enthalten ist. 

Meditation ist eine gute Gelegenheit für die Pflege von bewertungsfreien Innenräumen. Gedanken, die aufsteigen, enthalten häufig Bewertungen, und wir können beim stillen Beobachten dieser Gedanken die Bewertungen erkennen und verabschieden.

Grenzen der Bewertungsfreiheit

Wir stoßen auf Grenzen der Bewertungsfreiheit, wenn wir im Kontakt mit Menschen sind, die konträre Werte vertreten. Wie gehen wir mit jemanden um, der rechtsextreme Positionen vertritt, oder mit jemanden, der den Klimawandel leugnet? Wie gehen wir mit Menschen um, die seltsamen Verschwörungstheorien anhängen und uns dann noch dazu davon überzeugen wollen?

Wir sollten die Welt verbessern, wo sie im Argen liegt. Dazu gehört, dass wir Menschen darauf aufmerksam machen sollten, wenn sie den Pfad der Menschlichkeit verlassen haben. Wir sollten die Fahne der Humanität  unerschrocken hoch halten. Dazu müssen wir diese Werte vertreten und Werte, die wir für schädlich halten, kritisieren. 

Natürlich sollte es nicht darum gehen, die Menschen abzuurteilen, die die anderen Werte vertreten. Wichtig ist es aber, klar Stellung für „bessere“ Werte zu beziehen. Die Güte von Werten bemisst sich daran, wie nahe sie sich an der Menschlichkeit verbinden, also an den Notwendigkeiten, die ein respektsvolles und angstfreies Zusammenleben der Menschen möglich machen. Diese Nähe muss im Einzelfall überprüft werden, weil wir uns in dieser Hinsicht auch irren können. Im Diskurs, der möglichst gewaltfrei ablaufen sollte, kann sich herausstellen, welchen Werten der Vorzug gegeben werden muss, um an der Entwicklung Welt mitzuwirken, die für alle besser ist. Und diese Werte müssen von möglichst vielen Menschen kompromisslos vertreten und in Handlungen umgesetzt werden, damit sie in den allgemeinen  Bewusstseinsraum Eingang finden und dort Resonanzen erzeugen. Gute Werte, die also der Menschlichkeit dienen, üben eine Anziehungskraft auf alle Menschen aus, soweit sie nicht von ihren Überlebensimpulsen gesteuert sind.

Zum Weiterlesen:
Bewerten und Beziehungsstörung
Das Bewerten der Bewerter
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewerten im bewertungsfreien Bereich


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