Die Kindheit ist politisch, lautet der Titel eines Buches, in dem die Kindheit von Gewalttätern und Diktatoren beschrieben ist*. Das Resultat verwundert nicht: All die Personen, die im späteren Leben zu Gewalttätern, Menschenverächtern und brutalen Herrschern wurden, hatten eine Kindheit voll von massiven Missachtungen der Grundbedürfnisse und von traumatisierenden Grenzüberschreitungen. Jedes Beispiel in diesem Buch liest sich wie eine Bestätigung der These, dass alle Täter vorher Opfer waren.
Hier gehe ich der
Frage nach, ob es an der Kindheit liegt, dass Erwachsene zu Demokraten werden
oder dass sie eher zu Diktatoren und autoritativen Machtverhältnissen neigen.
Könnte die Kinderstube ein Lernfeld für spätere politische Ausrichtungen sein?
Da politische Einstellungen viel mit Gefühlen zu tun haben und Gefühle eine
ganz zentrale Rolle in der Kindheit spielen, scheint dieser Zusammenhang nicht
abwegig.
Ein Grundgedanke
der Demokratie besteht darin, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft
gleichrangig an der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilhaben. Es
sollen die Einzelinteressen gehört und im Ganzen berücksichtigt werden.
Zugleich steht das Gemeinwohl im Zentrum aller Beschlüsse. Ein weiteres Element
stellt die vorrangige Beachtung der Schwächeren dar. Der Ausgleich zwischen
Stärkeren und Schwächeren ist in jedem demokratischen System wichtig. Werden
die Unterschiede zu groß, leidet der Zusammenhalt der Gesellschaft.
Schammechanismen sorgen dafür, dass die Reichen nicht zu reich und die Armen nicht
zu arm werden. Wer Reichtum anhäuft, hat häufig die Tendenz, auch politische
Macht anzuhäufen. Um dem entgegenzuwirken, muss in der Demokratie dafür gesorgt
werden, dass es eine transparente Grenze zwischen wirtschaftlicher und
politischer Macht geben muss.
Die Demokratie
ist ein inklusives System, das versucht, allem seinen gebührenden Rang zu
geben, was dazugehört. Sie bietet den weitesten Rahmen für die individuellen
Freiheiten, für die Diversität von Lebensstilen und die Vielfalt von Meinungen
und Ideen. Ihr Medium ist der Diskurs, der möglichst frei von Herrschaft
gehalten werden soll.
Die Haltung der
Rücksichtnahme und Berücksichtigung, also des Einschließens all der anderen
Mitglieder in den Horizont der Gemeinschaft gelingt nur, wenn es dafür tragfähige
Erfahrungen aus der Kindheit gibt. Herrscht in einer Familie ein demokratischer
Grundkonsens, dann nehmen Kinder von Anfang an das menschliche Zusammenleben
als gleichwertigen Austausch von unterschiedlichen Positionen wahr und können
diese Erfahrungen später auf die Gesellschaft und die Menschheit im Ganzen
übertragen.
Die Kinderstube der Demokratie
Die Voraussetzung
für den erwähnten Grundkonsens liegt darin, dass Kinder von Anfang an als
Partner ernstgenommen werden: Partner in der Interaktion und in den
Lernprozessen, die mit dem In-die-Welt-Treten des Kindes beginnen, beim Kind
und bei den Erwachsenen. Wenn den Eltern klar ist, dass sie so viel vom Kind
lernen müssen wie das Kind von ihnen, dann wissen sie, dass sie keine Autorität
brauchen, um das Kind in irgendeine Richtung zu erziehen, sondern dass es darum
geht, zu erkennen, in welcher Weise sich das Kind entwickeln will, um es
bestmöglich dabei zu unterstützen.
Früher
verbreitete Auffassungen von Erziehung als Weitergabe von Kenntnissen und
Wissen in einem Kompetenz- und Machtgefälle sind nicht mehr zeitgemäß, weil
mittlerweile klar ist, dass Wachstum und Lernen eine Atmosphäre von Entspannung
brauchen, frei von Macht und Angst. Es gibt zwar einen enormen Unterschied
zwischen den Erwachsenen und den Kindern in diesen Bereichen, aber diese
Unterschiede sind nicht ausschlaggebend für das Interaktionsgeschehen und das
damit verbundene emotionale Lernen. Wenn es sich nur um unterschiedliche
Kompetenzen handelt, hat das Kind kein Problem, diese schrittweise zu
übernehmen, ohne sich dabei missachtet oder gedemütigt zu fühlen.
Das Erlernen der Unterschiede in der Gerechtigkeit
Demokratie hat
viel mit Gerechtigkeit zu tun, ebenso wie das Aufwachsen von Kindern. Die
gerechte Behandlung aller Gesellschaftsmitglieder, die Regelung der
gesellschaftlichen Abläufe nach den Grundsätzen der Fairness und der Gleichheit
aller Mitglieder sind demokratische Grundelemente. Kinder, die unter der Obhut
solcher Grundsätze aufwachsen, kommen zu einem intuitiven Verständnis für
Gerechtigkeit und Fairness und erwarten sie auch in allen Belangen über die Familie hinaus. Kinder hingegen, die sich
in ihrer Familie ungerecht behandelt oder zurückgesetzt gefühlt haben,
entwickeln ein gestörtes Verhältnis zur Gerechtigkeit. Sie glauben überall,
dass sie zu kurz kommen und benachteiligt werden. Sie verstehen unter
Gerechtigkeit, zu kriegen, was ihnen fehlt, also einen Ausgleich für das
Zu-kurz-gekommen-Sein. Da die Benachteiligung auf emotionaler Ebene erfolgt
ist, geht sich ein Ausgleich auf einer materiellen Ebene nie aus. Damit
verstärkt sich eine Tendenz, Politikern zu folgen, die ein schiefes Bild von
Gerechtigkeit propagieren und realitätsferne Versprechungen
machen, die nie eingelöst werden.
Es gibt nach
Thomas von Aquin eine kommutative und eine distributive Gerechtigkeit. Die
erste Form zielt auf die Gleichbehandlung, etwa nach dem Grundsatz, dass vor
dem Gesetz alle gleich sind, und die andere danach, was jedem gebührt oder
zukommt, also eine verteilende Gerechtigkeit, die für den Ausgleich zwischen
den Stärkeren und den Schwächeren sorgt. Eltern sollen und wollen zumeist ihre
Kinder gleich behandeln, was in der Praxis nie aufgeht, weil die Kinder
unterschiedlich sind und deshalb auch unterschiedliche Bedürfnisse haben, auf
die die Eltern unterschiedlich reagieren müssen. Andererseits wollen die Kinder
gleich behandelt werden und fühlen sich unwohl, wenn sie bevorzugt oder
benachteiligt werden. Erbschaftsstreitigkeiten entstehen häufig aufgrund einer
frühen Ungleichbehandlung zwischen den Kindern, die dann bei der
Verlassenschaftsabwicklung lange wirkende Unstimmigkeiten bis Feindschaften
zwischen den Nachkommen nach sich ziehen.
Da im Idealfall
beide Formen der Gerechtigkeit je nach Bedürfnislage berücksichtigt werden,
schwanken die Abläufe in der Familie zwischen diesen beiden Polen. Die Kinder
lernen auf diese Weise, das Gleichheitsprinzip und das Ausgleichsprinzip zu
unterscheiden und zu verstehen und entwickeln einen ausgewogenen
Gerechtigkeitsbegriff. Es kann z.B. sein, dass ein Geschwister häufiger krank
ist und deshalb mehr Fürsorge braucht oder dass es schlechter in der Schule ist
und mehr Unterstützung in Anspruch nehmen muss. Das andere Kind, das den Eltern
weniger Probleme bereitet, braucht dennoch die gleiche Liebe von den Eltern.
Sonst fühlt es sich zurückgestellt, ungerecht behandelt und zugleich hilflos,
weil es die Notlage des Geschwisters versteht.
Das Erlernen der
demokratischen Grundsätze in der Familie ist komplex und hängt stark von den
Fähigkeiten der Eltern ab, die beiden Formen der Gerechtigkeit mit den
jeweiligen Bedürfnissen und Kompetenzen der Kinder abzustimmen. Kinder, die mit
Einfühlung und Respekt aufwachsen, werden im gesellschaftlichen und politischen
Kontext zu Demokraten, sie können gar nicht anders. Denn sie erwarten das, was
sie in ihrer Familie als Garanten von Sicherheit und Achtung erlebt haben, auch
in der Gesellschaft, und sie sind von sich aus bereit, dazu beizutragen.
Kinder hingegen,
die in einer Familie aufgewachsen sind, in der emotionale Versorgung und
Rücksichtnahme mangelhaft war, neigen dazu, die Frustrationen und
Traumatisierungen auf die Gesellschaft und auf die Politik zu projizieren und
von diesen Instanzen zu erwarten, dass sie dem persönlichen Gefühl, ungerecht
behandelt worden zu sein, abhelfen. Sie bringen kein Grundverständnis für die
Demokratie mit und misstrauen deshalb leicht den demokratischen Abläufen und
Entscheidungsprozessen. Sie neigen dazu, Politikern zu vertrauen, die dieses
Misstrauen teilen und sich als lautstarkes Sprachrohr für alle mögliche
Frustrationen und gegen alle Missstände verstehen und sich zugleich als die
einzig wirksamen Erlöser präsentieren.
Literatur:
* Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch (Heidelberg: Mattes-Verlag 2019)
Zum Weiterlesen:
Demokratie in der Krise?
Demokratie und Gefühle
Die Verharmlosung von Diktatoren und die Demokratie
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