Ein Etikett geistert in den Debatten im kulturell-politischen Bereich herum, schillernd und wandelbar, in Verwendung für moralische Imperative und für pauschale Abwertungen. Es taucht als Selbstzuschreibung für eine tolerante und auf Ungerechtigkeiten sensibilisierte Werthaltung auf und wird zunehmend eher als verallgemeinerte Fremdzuschreibung für gegnerische politische Orientierungen gebraucht.
Es geht hier um das „Woke“-Sein. Der Duden definiert"woke" als: „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung."
Der Begriff war ursprünglich gegen rassistische Diskriminierung
gerichtet, als Aufruf an die Angehörigen von Minderheiten oder benachteiligten
Gruppen, bezüglich der Verletzungen von Menschenrechten wachsam zu sein und
sich für die Verbesserung der eigenen Situation zu engagieren. Der Begriff ist
in den 19-dreißiger Jahren in afro-amerikanischen Kreisen entstanden und ist in
den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend in den öffentlichen Diskurs gekommen.
Dabei wurde die Begriffsverwendung ausgeweitet und auf jede Form von
Diskriminierung (rassistisch, sexistisch, sozial) angewendet. Seitdem hat sich
die Bedeutung des Begriffes in verschiedene Richtungen verändert. Als Tendenz kann
beobachtet werden, dass sich immer weniger Menschen selbst als „woke“
bezeichnen, während der Begriff umso mehr als Fremdbezeichnung verwendet wird. Konservative
oder rechtsorientierte Gruppierung nutzen ihn in einem abwertenden und
abwehrenden Sinn, um Tendenzen zu bekämpfen, die ihnen nicht gefallen oder vor
denen sie Angst haben. Die „wokeness“ bezeichnet inzwischen eher eine
Grenzlinie im aktuellen Kulturkampf als eine klare politische Einstellung und
Werthaltung.
Ein Aspekt in dieser Begriffsentwicklung scheint mir interessant
und typisch für verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zu sein. Ursprünglich
als Aufforderung zum Erkämpfen und Wahren von Minderheitsrechten der
Afroamerikaner geprägt, wurde das Wort verallgemeinert und immer detaillierter auf
alle möglichen Aspekte von sozialer Benachteiligung angewendet. Der Katalog an
Einstellungen, die notwendig waren, damit sich jemand als „woke“ bezeichnen
konnte, wurde ständig erweitert. Damit verlor der Begriff an direkter Schlagkraft
und wurde zu einer allgemeinen Bezeichnung für eine offene und inklusive Position
im kulturellen und politischen Spektrum. Ab diesem Punkt hat er die Gegner
solcher Entwicklungen auf den Plan gerufen, und sie hatten ein Schlagwort, unter
das sie alles subsummieren können, was sie an den kulturellen Veränderungen verhindern
wollen.
Der Begriff ist also als Abwehrwaffe gegen gesellschaftliche
Veränderung in das Repertoire von rechtsgerichteten Politikern gelangt. Gewissermaßen
ist dem Begriff eine koloniale Aneignung widerfahren, ein Prozess, der in solchen
Zusammenhängen immer wieder aufscheint und kritisch registriert wird: Ein Wort
mit emanzipativem Gehalt und Impuls wird seinem ursprünglichem Zusammenhang
entnommen und auf andere Anliegen angewendet, um diesen mehr Gewicht zu
verleihen. Durch die Erweiterung der Anwendung verliert der Begriff an Kraft.
Zugleich wächst die Gegnerschaft, denn jedes neue Anliegen hat neue Gegner. Sie
nehmen das Wort auf und nutzen es als Etikett für ihre Gegenaktionen. Es wird
in der Folge zur Überschrift für alles, was nach der Meinung der Gegner in die
falsche Richtung geht. Ein Wort, das ursprünglich als Ermutigung zur Befreiung
aus Umständen mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung gedient hat, hat sich in
diesem Prozess in einen Begriff zur Abwehr dieser Befreiung und damit zur
Aufrechterhaltung von Benachteiligung und Unterdrückung verwandelt.
Zum Beispiel wurde durch die Verallgemeinerung der „wokeness“
die Verwendung einer gendergerechten Sprache zu einem Zeichen für die
Unterstützung emanzipativer Bestrebungen. Wer korrekt gendert, ist „woke“.
Andererseits: Wer gegen die Verwendung der genderkonformen Sprache ist, und das
sind konservative und rechte Kreise, lehnt nicht nur das Gendern ab, sondern,
indem es als „woke“ abgewertet ist, zugleich die anderen in diesem Begriff zusammengefassten
Befreiungsanliegen. Es lehnen also Leute, die gegen das Gendern sind, auch die
anderen emanzipativen Anliegen ab, obwohl sie vielleicht explizit gar nicht
gegen eine Aufhebung der Diskriminierung von schwarzen US-Bürgern sind. Aber weil
der Begriff als negativ konnotiertes Codewort in den Diskurs eingebracht wird, werden
implizit alle bestehenden Unterdrückungsbedingungen bekräftigt. Wer gegen das
Gendern in Schrift und Rede auftritt, indem er es als „woke“ Spinnerei kritisiert,
argumentiert nicht nur gegen bestimmte Sprechformen, sondern zugleich gegen
alle anderen emanzipatorischen Bewegungen. Auf diese Weise ist die „wokeness“ eine
begriffliche Waffe gegen die Weiterentwicklung von Freiheitsrechten geworden
und wird fleißig in die diversen Propagandakanäle eingespeist.
Die vielfältigen emanzipativen Bewegungen haben ihren inneren
Sinn und ihre Wichtigkeit, weil das Leiden von den betroffenen Gruppen
verringert oder beseitigt werden muss. Für die Findung und Förderung von Wegen
zur Befreiung hat der Begriff der „wokeness“ inzwischen jede Aussagekraft verloren.
Die Konfliktlinie verläuft nach wie vor zwischen denen, die die bestehenden
Privilegierungen verteidigen wollen, und jenen, die für die Erweiterung und
Vertiefung von Freiheitsrechten eintreten. Die Konflikte müssen zu allen Anliegen,
die von Gruppen aufgebracht werden, die sich benachteiligt fühlen,
ausgestritten werden. Viele Unterdrückungsverhältnisse konnten im Lauf der
Geschichte aufgehoben werden, viele warten noch darauf, und neue werden laufend
benannt und angeklagt. Das ist der Prozess der gesellschaftlichen Emanzipation,
der seit Beginn der Menschheit im Gang ist. Er wird aktuell da und dort
zurückgefahren, auch unter Verwendung des angeeigneten Woke-Schlagwortes. Aber ist
gibt überall immer wieder Menschen, die daran glauben und sich dafür einsetzen,
dass allen Menschen die grundlegenden menschlichen Geburtsrechte zugestanden
werden müssen.
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