Aladin El-Malaalani: Das Integrations-Paradoxon. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer&Witsch 2018
„Die zentrale Folge gelungener Integration ist ein erhöhtes Konfliktpotenzial.“ (S. 59)

So lautet die überraschende Kernthese dieses empfehlenswerten Buches über den vieldiskutierten Themenkomplex Migration und Integration. Denn die meisten erwarten sich von gelingender Integration ein Abnehmen der Konflikte und damit mehr Frieden. Die eingewanderten Ausländer sollen sich anpassen, sodass sie nicht auffallen, und dann sollte es keine Wickel mehr geben.
Doch der Autor muss es wohl besser wissen. Er arbeitet an einer deutschen Fachhochschule als Forscher, ist also ein deutscher Wissenschaftler – oder doch nicht? Seine Eltern sind vor 40 Jahren aus Syrien emigriert, er trägt einen arabischen Namen, schaut nicht wie ein "typischer Deutscher" aus und hat also einen „Migrationshintergrund“; ein Begriff, der im Buch kontroversiell diskutiert wird, ebenso wie die Frage, was denn „deutsch“ eigentlich ist.
Warum nun muss eine gelungene Integration mehr Konflikte hervorrufen? Menschen, die neu in ein Land kommen, ordnen sich zunächst unter. Sie sind froh, dass sie es geschafft haben, ihrem Fluchtgrund entkommen zu sein und lassen sich langsam auf die neue Situation ein. Sie stellen wenig Ansprüche und nehmen vieles hin. Menschen, die sich dann nach einiger Zeit in die Gastkultur integriert haben, fühlen sich mehr zugehörig und sehen mehr Gemeinsamkeiten mit anderen Mitgliedern dieser Kultur. Auf dieser Grundlage wollen sie sich aber auch mehr einmischen und mehr teilhaben. Dadurch kann mehr Streit entstehen.
Diskriminierung ist eine Folge von Bewertungen und Erwartungen
Je mehr Vertrautheit sich im neuen Land und in der neuen Gesellschaft entwickelt, desto schneller wachsen die Ansprüche und die Empfindlichkeiten. Mit dem stärker werdenden Gefühl für Zugehörigkeit wird auch deutlicher spürbar, wo es Diskriminierungen und Unduldsamkeiten gibt, die nicht länger akzeptiert, sondern kritisch thematisiert werden. „Wahrgenommene Diskriminierung entsteht erst durch die Bewertung. Nur dann, wenn eine Ungleichbehandlung als illegitim bewertet wird, fühlen sich Menschen diskriminiert. Als illegitim bewerten sie Handlungen und Situationen dann, wenn die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu groß wird, wenn also die Realität zu weit von den Erwartungen abweicht.“ (85)
Als Beispiel kann man vergleichsweise darauf hinweisen, dass die Frauen in den 1960er Jahren mit ihrer viel schlechteren Rolle zufriedener waren, als sie es heute mit ihrer viel besseren sind. Mit einer erfolgreichen Integration steigen die Erwartungen, und daraus erwachsen wiederum mehr Sensibilitäten, was Diskriminierungen anbetrifft. Solche Schlechterstellungen anzuprangern, zeugt von einem verstärkten Sicherheitsgefühl in der neuen Umgebung, erzeugt aber auch mehr Konflikte. „Integration steigert das Konfliktpotenzial in einer Gesellschaft. Es gibt aufgrund gelungener Integration Konflikte, die es ohne Integration nicht gegeben hätte.“ (123)
Der Autor sieht Streit (in einer konstruktiven Form) als Kitt der Gemeinschaft – unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven steigern das kreative Potenzial. Deshalb sind klassische Einwanderungsländer besonders produktiv und innovativ. Das gegenseitige Lernen, das beim respektvollen Streiten passieren kann, erweitert die Horizonte und schafft neue Möglichkeiten. „Näherkommen und Zusammenwachsen können dazu provozieren, die Differenzen zu betonen, weil sie kleiner werden.“ (S.15)
Integration ist mit Ängsten und Schmerzen verbunden - für beide Seiten
„Zusammenwachsen dauert und tut weh“ (S. 37), weil eigene Vorstellungen relativiert und liebgewonnene Gewohnheiten in Frage gestellt werden müssen und Fremdes und Unvertrautes näher rückt, was Unsicherheiten und Ängste auslöst. Viele hätten es lieber behaglich in der eigenen bekannten Umgebung mit den althergebrachten Traditionen, statt sich auf Neues und Fremdes einstellen zu müssen. So lautet das Kalkül der Bewahrer und der Gegner der Öffnung. Nur bewirkt das Zumachen der Grenzen den Verzicht auf Entwicklung und Wachstum. Das sei allen Enthusiasten von Mauern und Zäunen ins Stammbuch geschrieben.
Meist sind das auch die Leute, die fordern, dass sich die Menschen assimilieren, wenn sie schon ins eigene Land gelassen wird. Doch dieser Erwartung erteilt der Autor eine entschiedene Absage: Das Ansinnen, die eigene Identität, die durch das Aufwachsen in der Heimatkultur entstanden ist, aufzugeben, ist unsinnig. Die eigene Identität kann nur aufgeben, wer mit sich selber uneins ist, und wer mit sich uneins ist, braucht eine Therapie. Menschen migrieren aber nicht, weil sie mit sich selber im Zerwürfnis sind, sondern weil es die äußeren Umstände erzwingen. Sie kommen meist mit einer Bejahung ihres Glaubens, ihrer Werte, ihrer Sprache in die neue Umgebung. Sie haben keinen Grund, sich selber deshalb zu verleugnen. Wer das verlangt, denkt unmenschlich: Wir brauchen uns nur auf das Gedankenexperiment einlassen, selber auswandern zu müssen, und da würde ein Gastland z.B. Japan fordern, man müsse dort Japaner werden und alles, was zur eigenen kulturellen Identität gehört, aufgeben. Das will wohl niemand.
Loyalität und Erfolg
Allerdings wird das Problem dort komplexer, wo die Kinder ins Spiel kommen. Sie sollen es in der neuen Kultur besonders gut schaffen und ihr Bestes geben, um erfolgreich zu sein. Dazu müssen sie sich sehr an die im Gastland herrschenden Anforderungen und Werte anpassen und entfremden sich damit ein Stück von der Welt der Eltern, die sich als Migranten in der fremden Umgebung umso mehr an die eigenen Traditionen und kulturellen Elemente klammern. Sie müssen ihre eigene Identität aus einer Mischung der familialen und der neuen Kultur entwickeln. Es entsteht ein Konfliktfeld zwischen Loyalität und Erfolg, das sich durch viele Familien „mit Migrationshintergrund“ zieht und das konstruktiv bewältigt werden muss.
Die beste aller bisherigen Welten
Während wir in den Medien immer wieder über Katastrophen, Kriege und Konflikte informiert werden, geht unter, dass sich der Lebensstandard der Menschen in der ganzen Welt seit Jahrzehnten schrittweise bessert – es gibt weniger Armut und Hunger, höhere Lebenserwartung und Durchschnittseinkommen, eine enorm gestiegene Alphabetisierungsrate und eine erhebliche Steigerung des Zugangs zur Elektrizität und auch zu Bildung. Also leben wir in einer Welt, in der es so vielen Menschen noch nie so gut gegangen ist, was die Basisbedingungen und Entwicklungschancen angeht. Aus dieser Perspektive betrachtet, leben wir in der besten aller bisherigen Welten – und deshalb auch in der Welt mit dem höchsten Verbesserungsbedarf.
Nun könnten wir meinen, dass diese schon über Jahrzehnte wirkenden Trends zu einem Rückgang der Migration führen müssen. Doch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass die Migranten nicht aus den ärmsten Ländern kommen, sondern aus Schwellenländern. Migration erfordert „ein vergleichsweise hohes Maß an Fitness, viel Geld und gute Netzwerke. ...Es kommen nicht die Ärmsten und Schwächsten.“ (149)
Deshalb ist es auch naiv anzunehmen (wie das viele Politiker tun und ihren Anhängern vorgaukeln), dass die Zuwanderung nach Europa dadurch reduziert werden könnte, wenn die Entwicklungshilfe und Wirtschaftsförderung ausgeweitet wird („Die Migrationsursachen vor Ort bekämpfen“). Die Forschung geht von gegenteiligen Entwicklungen aus, denn mit dem steigenden Wohlstand in einem Land steigen auch die Ressourcen für eine Auswanderung bei denen, die noch mehr Anteil am globalen Kuchen wollen.
Statt dessen sollte der Blick darauf gerichtet werden, was die europäische Politik direkt zur Ankurbelung der Migration beiträgt: „Unfaire Handelsabkommen, interessengeleitete Subventionspolitik und natürlich nicht zuletzt … Waffenlieferungen“ (152). Migration hingegen leistet umgekehrt einen recht effektiven Beitrag zur Entwicklungsförderung, denn die Migranten, die es im neuen Land geschafft haben, überweisen Gelder zurück in ihre Heimatländer, die dort direkt den Menschen zugute kommen und an der Basis in die Wirtschaft einfließen, und nicht, wie es bei Finanzmitteln aus der Entwicklungshilfe häufig der Fall ist, in korrupten Kanälen versickern.
Ob es uns passt oder nicht – wir müssen uns darauf einstellen, dass die Migration weitergeht. Sie war und ist Teil unserer Geschichte (in der Zwischenkriegszeit war Deutschland das Auswanderungsland Nummer 1 und auch in Randgebieten Österreichs haben sich ganze Gegenden durch die Migration nach Amerika entvölkert) und sie wird auch Teil unserer Zukunft sein. Wir sollten nicht vergessen, dass es die europäischen Eroberer und Auswanderer waren, die die Globalisierung erfunden haben und dass Europa über Jahrhunderte enorm davon profitiert hat – und auch in Zukunft daraus Gewinn schöpfen kann, wenn es gelingt, die mit der Integration migrierter Menschen verbundenen Konfliktfelder konstruktiv und kooperativ zu nutzen. Wir verfügen über ein reichhaltigen Wissen über Konfliktlösungen; wenn wir darauf vertrauen, brauchen wir keine Angst vor Zuwanderung oder Überfremdung haben, sondern können sie als Chance sehen.
Wie wir noch klein waren, hat uns Vieles Angst gemacht. Wir hatten noch so wenige Fähigkeiten, die komplexen Abläufe der Wirklichkeit zu durchschauen und Harmloses und Gefährliches voneinander zu unterscheiden. Deshalb konnte uns schnell etwas ängstigen – die Dunkelheit, fremd wirkende Menschen, abweisende Blicke des Vaters, Spinnen, das Schicksal von Märchenfiguren, der Tod eines Haustiers usw. An wichtigen Punkten unserer Entwicklung konnten uns für unsere Sicherheit entscheidende Ressourcen fehlen (z.B. die Nähe zur Mutter nach der Geburt, die Ermutigung durch die Mutter bei den ersten aufrechten Schritten, das Verständnis der Eltern bei Wutanfällen und Furcht). Wir haben immer wieder Situationen der emotionalen und kognitiven Überforderung erlebt, in denen wir uns verletzt, schutzlos, hilflos und verwirrt fühlten.
Viele dieser Ängste haben unsere Kindheit überlebt, versteckt in unserem Unterbewussten. Als Erwachsene gibt es wesentlich weniger Notwendigkeiten, uns hilflos und schutzlos zu fühlen. Wir haben eine große Menge an Fähigkeiten und Kompetenzen erworben, um die Herausforderungen, vor die uns die Wirklichkeit stellt, zu meistern und die Prüfungen des Lebens zu bestehen. Wir haben auch die Kraft, nach Misserfolgen und Versagen wieder aufzustehen und weiterzugehen.
Dürfen Erwachsene ängstlich sein?
Heißt nun Erwachsensein frei von Ängsten zu sein? Oft haben wir als Kinder gehört: Du bist ja schon groß, da brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. So hat sich in uns die Annahme verfestigt, dass Erwachsensein mit Angstfreiheit verknüpft ist. Und deshalb neigen wir als Erwachsene dazu, unsere Ängste zu übersehen, zu ignorieren oder uns für sie zu schämen: Wie kann ich nur so dumm sein und mich wegen einer solchen Kleinigkeit ängstigen?
Müssen wir als Erwachsene immer stark sein und ohne Furcht durchs Leben schreiten? Die meisten Ängste, die wir als Erwachsene erleben, sind mit Erfahrungen aus unserer Kindheit verbunden und werden aus ihnen gespeist. Diese Ängste können so stark sein, dass sie uns hindern, wichtige Ziele in unserem Leben zu erreichen und konstruktive Veränderungen vorzunehmen. Sie dienen oft dazu, dass wir in Gewohnheiten verharren, die nicht mehr sinnvoll sind, sondern uns innerlich einschränken und im Äußeren irritierende Reaktionen hervorrufen. Sie halten uns davon ab, viele der Chancen, die uns das Leben bietet, zu erkennen oder zu ergreifen.
Erwachsene unterscheiden sich von Kindern nicht darin, dass sie keine Ängste mehr haben, sondern darin, dass sie sich von den Ängsten, die auftreten, wenn sie eben auftreten, nicht lähmen lassen. Es gibt zwar Erwachsene, die von sich behaupten, keine Ängste zu kennen, doch sind das meist solche, die ihre Ängste verdrängt und tief ins eigene Innere verbannt haben. Oft wollen sie sich durch besonders riskante Unternehmungen beweisen, wie angstfrei sie sind, während sie in Wirklichkeit dafür sorgen, dass ihre innere Angstabwehr verstärkt wird.
Vor allem Erwachsene, die sich mit ihren aus der Kindheit stammenden Ängsten auseinandergesetzt haben, lassen sich weit weniger ängstigen und können besser mit angstvollen Erlebnissen umgehen. Sie können ihre Ängste spüren und sie als Kraftquelle nutzen. Wenn sie vor neuen Situationen stehen, lassen sie sich nicht durch Furcht aufhalten, weiterzugehen und sich überraschen zu lassen. Dennoch kann auch eine gründliche Innenarbeit nicht vollständig vor allen Ängsten bewahren. Es kann im Leben immer wieder unvorhersehbare Herausforderungen geben, die unser Sicherheitsgefühl bedrohen und Ängste auslösen.
Erwachsensein ist also nicht durch die Abwesenheit von Ängsten definiert, sondern durch ein anderes Umgehen mit ihnen. Sie können auftauchen und werden dann ernstgenommen, sie müssen also nicht unterdrückt werden, vielmehr bekommen sie Aufmerksamkeit, ohne aber die Handlungsfähigkeit zu blockieren. Ein Erwachsener ist fähig, mit und trotz einer Angst in eine neue Erfahrung hineinzugehen. Er kann seiner Angst respektvoll einen Platz in sich zuweisen, von dem aus sie dazu dienen kann, dass der neuen Situation mit entsprechender Vorsicht und Achtsamkeit auf mögliche Gefahren, aber auch mit einer besonderen Entschlossenheit begegnet wird.
Jede Erfahrung, die Hand in Hand mit einer inneren Angst bewältigt werden konnte, macht stärker und kräftigt das Selbstvertrauen, das dann für künftige Herausforderungen zur Verfügung steht. Wir können uns im Vollzug der aktiven Handlung selbst davon überzeugen, dass wir Ängste für unsere Ziele nutzen können, wenn wir sie ernstnehmen, ohne ihnen die Macht über uns und unsere Handlungsfähigkeit einzuräumen. Mutig sind wir dann, wenn wir uns von unserer Angst nicht unterkriegen lassen, wenn wir also trotz „innerem Schweinehund“ tun, was zu tun ist. Wer seine Ängste kennt, ist sicherer als wer meint, von Ängsten frei zu sein.
Bewusstheit und Verantwortung
Erwachsenwerden geht einher mit Bewusstwerden. Es entsteht in uns eine Instanz, die die Vorgänge, die in uns ablaufen, erkennen und reflektieren kann. Wir lernen, uns von unseren Emotionen zu unterscheiden. Wir sind nicht mehr bloß die Angst, sondern sie ist ein Gefühl in uns, das begrenzt ist und vorübergehen wird. Auf diese Weise werden wir immer erfolgreicher darin, uns nicht von Ängsten beherrschen zu lassen, bis wir einen Weg finden, sie zu unseren Kumpanen zu machen, die wir auf unsere Reise durch die Welt mitnehmen.
Erwachsensein bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind es, die in uns Ängste produzieren, wir brauchen nicht gegen äußere Instanzen zu kämpfen, wenn es in Wirklichkeit darum geht, die Ängste in uns zu befrieden. Wir stehen zu Ängsten, wenn sie da sind, weil wir wissen, dass wir sie aushalten und schließlich für uns nutzen können.
Integrativ mit unseren Ängsten umgehen
Reifung bedeutet also, einen integrierenden Umgang mit unseren Ängsten und unseren Angstneigungen zu entwickeln. Wir brauchen Situationen, die uns Angst machen, nicht mehr zu meiden; wir können sie, wenn nötig, mit erhöhter Vorsicht und Achtsamkeit angehen. Wir brauchen aber auch nicht angstmachende Situationen suchen, um uns und anderen zu beweisen, dass wir keine Angsthasen sind. Das Leben hat genug an Situationen für uns im Angebot, die unsere selbstgesetzten Grenzen immer wieder bereitwillig herausfordern, wenn wir nur unsere Sinne offen halten.
Persönliche Reifung ist ein lebenslanger Prozess. Wie es auch im Wort steckt, ist das Erwachsenwerden ein Wachstumsvorgang, der niemals abgeschlossen ist, sondern besonders in solchen Situationen zum Weiterwachsen gefordert ist, in denen sich eine Angst meldet. Erst der Tod ist für uns alle der letzte Wachstumsschritt, in drastischer Weise der Endpunkt und die Vollendung des Wachsens und Erwachsenwerdens.
Gibt es eine Vollendung schon vor dem Tod? Im Diskurs um die Erleuchtung als Ziel des inneren Wachsens ist oft davon die Rede. Deshalb setzen manche Autoren die Erleuchtung mit dem erreichten Erwachsensein gleich: Nicht mehr von Ängsten eingeschränkt und geblendet zu sein und damit Teile der Wirklichkeit von sich abspalten zu müssen, sondern die Wirklichkeit in jedem Moment in ihrer Gänze annehmen zu können. Andere Autoren sehen in der Erleuchtung das Wiederfinden der kindlichen Unschuld. Vielleicht besteht zwischen diesen beiden Konzepten gar kein Gegensatz, ebenso wenig, wie das Erwachsensein dem Kindsein entgegensteht: Ein Erwachsensein, das das ganze Leben in seiner Geschichtlichkeit einschließt, das mit allen Sinnen und Geisteskräften in der Gegenwart steht und das für alles, was die Zukunft bringen mag, offen ist.
Als „böse“ gelten Intentionen und Handlungen, die das Zusammenleben der Menschen erschweren und behindern, weil sie den Eigennutzen über den Gemeinnutzen stellen. Menschliche Gemeinschaften können nur funktionieren, wenn es einen fairen Ausgleich zwischen den individuellen Strebungen und den Bedürfnissen der Gruppe gibt. Diese Balance muss immer wieder hergestellt werden, durch Kommunikation und Diskurs in der Gesellschaft und durch die Instanz des sozialen Gewissens. Böses Handeln ist dann ein solches, das sich gegen dieses Gewissen und damit gegen das Gemeinwohl entscheidet.
Der Psychiater und Verbrechensforscher Reinhard Haller sagt: „Es muss im Menschen so etwas wie einen Moralinstinkt geben. Denn Delikte wie Töten, Vergewaltigen oder Rauben werden zu allen Zeiten, in allen Kulturen als verwerfliche Taten angesehen, die man verhindern und bestrafen muss. Der Mensch weiß das also instinktiv. Tatsächlich beginnt das Böse, glaube ich, an dem Punkt, an dem man den Moralinstinkt überspringt.“ (Interview in der ZEIT)
Was Haller als Moralinstinkt bezeichnet, würde ich das soziale Gewissen nennen, jene Instanz, die wir brauchen, um unsere inneren Impulse mit den Erfordernissen der Gemeinschaft abzustimmen. Das Gewissen macht uns darauf aufmerksam, dass wir Normen und Regeln beachten müssen, aber auch, dass wir den grundlegenden Respekt vor jedem anderen Menschen aufbringen müssen. Mein Eigennutz muss sich immer wieder diesen Werten unterordnen, damit die Gemeinschaft weiter bestehen kann.
Die Leere nach der Tat
Wie geht es einem Verbrecher nach der Tat? Die Spannung, die mit der Planung der Tat verbunden war, fällt ab, das Ziel ist erreicht, das Böse ist getan. Der Täter fällt in eine Leere, die den Schmerz verdeckt über das, was anderen Menschen angetan wurde. Das soziale Gewissen holt jeden ein, die Strafe ist emotionale Kälte oder noch schlimmer, innere Leere, die durch den Verlust der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entsteht. Die Tat schädigt in ihren Folgen den Täter selbst.
Wenn uns Böses widerfahren ist, sinnen wir auf einen Ausgleich, und das ist die Rache. Indem dem Bösewicht Böses zugefügt wird, soll er seine Bosheit erkennen. Rache ist süß, solange das Opfer leidet. Danach droht auch hier die Leere. Die Bitterkeit zieht ein. Die Leere bedeutet, dass durch die Tat nichts besser wird, sondern dass deutlich wird, dass die Tat durch die Illusion motiviert war, sie könne alles zum Besseren ändern. Der Bankräuber lebt nach der Tat in der Angst, erwischt zu werden, die ihm mehr Kraft kostet als der Mangel an Geld, an dem er möglicherweise vorher gelitten hat. Die Rächerin vermeint, dass das Leiden der anderen Person das eigene Leiden mindert. In Wirklichkeit bessert sich nichts, vielmehr leidet sie zusätzlich an ihrer eigenen Schlechtigkeit und an dem Verlust einer moralisch überlegenen Position gegenüber dem ursprünglichen Täter.
Der Gewöhnungseffekt an das Böse
Menschen verfügen über eine Hemmung vor unmenschlichem Verhalten, ob es nun ein Instinkt ist oder eine verinnerlichte soziale Instanz. Es bedarf einer starken Willensanstrengung oder eines heftigen Affekts, um über diese Schranke hinauszugehen. Viele Erfahrungen belegen allerdings, dass, sobald einmal die Überwindung der Hemmung geschehen ist, das böse Verhalten selbstverständlicher wird. Das soziale Gewissen stumpft ab, wird verdrängt und stillgelegt. Die Skrupel weichen einer asozialen Haltung. Der Täter stellt sich selber außerhalb der menschlichen Gemeinschaft (auch wenn er vielleicht Mitglied einer asozialen Teilgesellschaft ist) und wird zum Außenseiter.
An diesem Punkt kann das verwerfliche Verhalten nur durch eine starke Gegenreaktion der Gesellschaft aufgehalten werden, es müssen Strafen eingesetzt werden, um den sozialen Ausgleich wieder herzustellen und den böse handelnden Menschen mit seinem sozialen Gewissen zu konfrontieren, sodass es im besten Fall zu einer „Re-Sozialisierung“ kommt: Das Individuum, das mit seinem übermäßigen Bestreben nach Eigennutz aus dem sozialen Rahmen ausgeschert ist, bekommt die Chance, wieder einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, vorausgesetzt der Egoismus wird reduziert und das Gemeinwohl erhält einen höheren Wert. Dazu ist es notwendig, dass dieser Mensch in sich das Böse integriert hat, sodass es nicht mehr als isolierter Teil der Persönlichkeit aktiv werden kann.
Das Böse in uns selbst
Wir alle haben den Wunsch in uns, dass es uns auf Kosten anderer besser geht. Wir alle kennen also das Böse in uns, auch wenn es einfacher ist, es im Außen zu lokalisieren und zu bekämpfen. Wir können unser Leben als Prozess der beständigen Auseinandersetzung zwischen unseren selbstsüchtigen Impulsen und unseren sozialen Orientierungen verstehen. Zu erlernen, bewusst mit diesen Konflikten in uns umzugehen, ist ein wichtiger Schritt zur inneren Freiheit.
Es geht zunächst darum, das Böse in uns zu spüren und anzuerkennen. Dazu müssen wir die Eitelkeit überwinden, die uns sagt, dass wir ja so gut sind oder dass wir das Böse in uns bekämpfen und nicht akzeptieren sollen. Allerdings hat jeder einen Verbrecher in sich, ob er sich offensiv oder verdeckt in unserem Leben äußert. Er ist durch viele Hemmmechanismen gezähmt, die aus unserem sozialen Gewissen und aus unserer Sozialisation stammen. Vermutlich fließen auch noch Prägungen ein, die wir aus der Generationenlinie übernommen haben.
Ein wichtiger Aspekt dieser Hemmungen ist die Angst vor diesen Impulsen und ihrer destruktiven Kraft. Das zerstörerische Potenzial des Bösen führt dazu, dass es verdrängt werden muss. Wollen wir also das Böse in uns erlösen, so müssen wir uns dieser unserer Destruktivität stellen. Es handelt sich um die Emotionen von Wut und Hass, die uns dabei begegnen. Diese Gefühle enthalten eine Menge Kraft und Energie, die wir ins Konstruktive transformieren können, indem wir ihre Destruktivität annehmen und überwinden.
Die Bereitschaft, in die Rolle des zerstörerischen Täters zu schlüpfen und sie als eigenen inneren Teil anzunehmen, verringert die Angst und ermöglicht den inneren Ausgleich zwischen der Opfer- und der Täterrolle. Weil wir erkennen, dass diese Energien Aspekte oder Teile unseres Inneren sind, können wir uns leichter von beiden Rollen desidentifizieren, von der gewohnten und der gefürchteten, der zum Selbstbild passenden und der fremden, angstbesetzten, und beide verlieren an Macht, die eine auf der bewussten und die andere auf der unbewussten Ebene. Im Alltagsverhalten kann keine von beiden mehr so leicht alleine das Kommando übernehmen. Die schwache Komponente, auf der die Opferrolle beruht, und die starke Komponente, die in der Täterrolle erscheint, gleichen einander aus, sodass immer wieder eine gute und kräftige Mitte erreicht werden kann, die balancierte Kraft, die flexibel auf die Umstände reagieren kann: Wenn die Situation vertrauensvoll ist, kann die weichere und nachgiebigere Seite zum Vorschein kommen; wenn die Situation riskanter ist, kann die härtere und durchsetzungsfreudige Seite wirksamer werden.
Der ausbalancierten Persönlichkeit kann kein Täter etwas anhaben, weil er einer klaren abgrenzenden Kraft begegnet. So besteht keine Gefahr, in die Opferrolle abzurutschen. Andererseits weitet sich der Bereich, in dem der soziale Austausch friktionslos und ausgeglichen abläuft, sodass kein Machteinsatz notwendig ist, um die Opferrolle zu vermeiden und keine Selbstverleugnung, um nicht Täter zu werden. Der ausbalancierte Mensch kennt das Böse in sich und erkennt es in anderen, muss diese Destruktivität aber nicht zum Einsatz bringen, weil die in sich ruhende Kraft den Respekt vor jedem anderen erlaubt und den Respekt von jedem anderen erzeugt.
Zum Weiterlesen:
Wut, das herausforderndste Gefühl
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses
Am 1. Oktober tritt in Österreich das Burka-Verhüllungsverbot in Kraft, ein weiterer Meilenstein für die Integrationspolitik unseres bisher schon so erfolgreichen Integrationsministers, der sich allerdings längst zu höheren Weihen berufen fühlt und hoffentlich bald an den Schalthebeln der Macht angelangt sein wird, womit nach der Wahl die schwierige Suche nach einem angemessenen Nachfolger zu einem innenpolitischen Hauptproblem werden wird.
Da wir ab jetzt sicher sein können, dass keine ganzkörperverschleierten Bankräuber und Bankräuberinnen, Terroristen und Terroristinnen ihr Unwesen treiben, können wir unser Integrationsgefühl verstärken. Wir wissen immer, wen wir vor uns haben – am unverschleierten Gesicht können wir ablesen, ob es sich um ein integriertes oder um ein fremdes, Unwesen treibendes Wesen (=Alien) handelt. Niemand mehr und nichts bleibt verborgen, alles kommt jetzt ans Licht. Jeder muss in der Öffentlichkeit zu seinem Gesicht stehen, sodass wir sofort entscheiden können, ob jemand heimisch oder fremd ist, d.h. integrierbar oder nicht.
Hier beginnt nämlich die wirkliche Integrationspolitik: Integriert werden die, die schon immer da gewesen sind, die Hofers, Mayers, Müllers, Kurze und Kerne, und mittlerweile auch die schon von Georg Kreisler weiland besungenen Vondraks, Vortels, Viplaschils (in der Telefonbuchpolka), und vielleicht sogar die Kolarics, die vor Jahrzehnten noch als Tschuschn ausgegrenzt waren, sofern sie brav integrationswillig und ausländerfeindlich wählen. Integrieren heißt, die gemeinsamen heimischen, um nicht zu sagen völkischen Werte, Sitten und Gebräuche zu vertiefen und von allen nicht heimischen zu unterscheiden. Diese Integration muss vertieft werden, damit klar wird, wer dazugehört und wer draußen bleiben muss und damit die, die dazu gehören, gleicher werden und sich die Gräben zwischen Innen und Außen noch mehr vertiefen.
Und damit beginnt die wirkliche Willkommenspolitik: Willkommen geheißen werden alle, die schon längst und immer da gewesen sind, die sich schon längst und immer angepasst haben, die sich vorbehaltlos zur Wertegemeinschaft bekennen und den Zungenschlag des Österreichischen perfekt beherrschen. Alle, die da nicht dazugehören, kriegen großzügig ihre Auffanglager weit weg jenseits der Grenzen und werden dort für immer willkommen geheißen. So können wir unter uns bleiben, integriert und willkommen, und nicht belästigt von fremdländischen Kleidungssitten und ungewohnten, Misstrauen erweckenden Hautfarben.
Nicht willkommen geheißen werden jene scheinbaren Inländer, die die volksschädliche Willkommenskultur propagiert haben, indem sie massenhaft Fremde ins Land gelockt haben, sie können ja gerne ihre Willkommenssucht in den überseeischen Auffanglagern ausleben.
So hoffen wir auf die nächsten Schritte der Integrationspolitik: Die Dirndl- und Lederhosenpflicht zumindest am Nationalfeiertag, an dem wir ja feiern, dass seinerzeit die letzten Ausländer Österreich verlassen haben, oder nicht?