Es gibt kein Schicksal in der äußeren Wirklichkeit, sondern nur Abläufe und Geschehnisse. Der Begriff Schicksal entsteht in unserem Denken, er ist ein Konzept des Bewusstseins. Es handelt sich um die Benennung und Bewertung unseres Erlebens in bestimmten Momenten, als Bezeichnung für eine Erfahrung, die etwas Unbegreifliches enthält. Das Schicksal stößt uns zu, gewissermaßen ruckartig und gewaltsam tritt es in unser Leben und nimmt uns voll in Beschlag. In der Rückschau ragen die schicksalhaften Erlebnisse wie mächtige und dunkle Marksteine aus der Umgebung heraus: Nach solchen Vorkommnissen war nichts mehr wie früher, das Leben wurde ein anderes.
Unverfügbare Abläufe in unserem Inneren
Wir haben den
Eindruck, dass wir unsere innere Situation immer beeinflussen und regulieren
können, zum Unterschied von der Außenwelt, auf die wir in nur sehr geringem Maß
Einfluss haben. Allerdings ist auch dort vieles vorgegeben, also „Schicksal“.
Denn unsere Impulse, Stimmungen und Gedanken werden von Vorgängen erzeugt, die im
Organismus und seelisch im Unterbewussten, also ohne unsere bewusste Mitwirkung
ablaufen. Wir haben keine Macht darüber, was als Gefühl oder als Gedanke
auftaucht. Wir sind ihm ausgeliefert wie einem Schicksalsschlag, obwohl Gefühle
und Gedanken in der Regel viel harmloser sind als das, was wir als
schicksalhaft beschreiben.
Sobald allerdings
etwas in unser Bewusstsein getreten ist, können wir darauf einwirken, indem wir
die Kraft unserer Aufmerksamkeit einsetzen. Den Inhalten unseres Bewusstseins,
denen wir Aufmerksamkeit geben, verleihen wir mehr Macht als jenen, die wir
übergehen oder beiseite stellen. Wir verfügen also über die Fähigkeit,
Bewusstseinsinhalten, die uns angenehm und förderlich erscheinen, mehr
Bedeutung zu verleihen, als jenen, die uns runterziehen oder in ungewollte
Gewohnheiten verstricken. Wir sind nicht Herr (Frau) unseres unmittelbaren
Erlebens, sondern der Verarbeitung dieses Erlebens. Unsere Einflussnahme kommt
also immer hinten nach, gleichwohl wirkt sie längerfristig darauf ein, was als
erstes auftaucht. Denn Bewusstseinsinhalte, die wir durch unsere Aufmerksamkeit
pflegen und stärken, melden sich öfter als solche, die wir vernachlässigen oder
ignorieren. So können wir mit unseren Gedanken umgehen, und Ähnliches gilt für
Gefühle. Wir sind in der Lage, belastenden Gefühlen weniger Bedeutung
zuzumessen und befreienden Gefühlen mehr Raum zu geben. Auf diese Weise
schwächen wir die einen und fördern die anderen.
Das ist der Weg,
auf dem wir die Verantwortung für unser Erleben übernehmen, sprich für die
Übersetzung dessen, was uns im Außen begegnet, in unser Inneres. Wir haben
keine Zuständigkeit für das, was wir erleben, sind aber dann zuständig für das,
was nach der Bewusstwerdung geschieht. Wir können nicht verhindern, dass die
Erde zu beben beginnt und dass wir in Panik geraten. Aber wir können
beeinflussen, wie wir mit dieser Erfahrung umgehen: Ob wir in der Panik bleiben
oder ob wir schnell wieder zur Ruhe finden und das Vernünftige tun.
Verantwortung beruht auf Bewusstheitsschulung
Es gibt noch
eine weitere Ebene dieser Zugangsweise. Sie liegt darin begründet: Das
Bewusstmachen des Inneren wird erst möglich, wenn jemand beginnt, am eigenen
Schicksal und an den Verstrickungen, die die Seele damit macht, zu arbeiten.
Menschen mit wenig Bewusstheit ihrer selbst bringen die Aufmerksamkeit nicht
auf, die es braucht, das Innenleben zu beeinflussen. Solche Menschen werden oft
von Gefühlen überschwemmt und finden schwer wieder heraus. Andere sind von
Gedanken dominiert, die auch aufs Gemüt drücken können. Die Annahme dabei ist,
dass alles im Inneren geschieht und dass es keine Einflussmöglichkeiten darauf
gibt.
Es ist wiederum
das Schicksal, das manche auf den Weg der Selbsterforschung bringt und andere
nicht. Es ist nicht eigentlich ein Verdienst, eine bewusste
Verantwortungsübernahme, die zu diesem Schritt führt, sondern etwas, das sich ergeben
hat, vielleicht aus drängender Not oder aus Neugier, vielleicht auf Anraten
oder unter Druck, vielleicht durch traumatische Erfahrungen oder durch eine
sensible Persönlichkeitsstruktur. Natürlich braucht es eine freiwillige Zustimmung,
sich auf den Erforschungsweg zu begeben, aber die Bedingungen dafür, dass es
dazu kommt, liegen nicht in der eigenen Entscheidungsbefugnis. Das Schicksal
entscheidet darüber, ob sich jemand einer Therapie unterzieht, auf ein
Meditationsretreat geht, einen anderen Selbsterfahrungsweg wählt oder in den
unbewusst geprägten Gewohnheitsmustern verharrt.
Das geheimnisvolle Reich des Unverfügbaren
Wenn allerdings
das Tor zur Innenerforschung einmal aufgetan wurde, wird klar, dass es in der eigenen
Verantwortung liegt, immer wieder hindurchzugehen und mehr Bewusstheit ins
eigene Leben und Erleben zu bringen. Es wird einsichtig, dass es einen Bereich
der Verantwortung dem eigenen Erleben gegenüber gibt, der genutzt werden kann,
um die Selbstregulation im Innenbereich zu verbessern. Ein einfaches Werkzeug
bietet unsere Atmung, die wir bewusst steuern können. Mit der Regelung unserer
Atmung können wir Einfluss nehmen auf unser Nervensystem und auf unsere
Stimmung. Vor allem zur Stressreduktion ist sie prädestiniert.
Dennoch kann es
geschehen und geschieht es immer wieder, dass der Pfad ins Neuland der Seele wieder
verlassen wird und die alten Geleise die Regie übernehmen. Die Fähigkeit zur
Verantwortungsausübung in diesem Bereich geht verloren. Wir vergessen, was wir
schon gelernt haben und denken beispielsweise nicht daran, das Ausatmen zu
entspannen, wenn wir uns gestresst fühlen.
Damit kommen wir
zu einer weiteren Ebene, auf der wir auch zugeben müssen, dass das Übernehmen
von Verantwortung selber wieder ins Reich des Unverfügbaren gehört. Es gelingt
manchen leichter und anderen schwerer. Diese Fähigkeit hängt letztlich wiederum
von Faktoren ab, die nicht in der eigenen Verantwortung liegen.
Also sind unsere
Verantwortungsbereiche beständig von Bereichen des Vorgegebenen und des
Geschehenden eingegrenzt und umgeben. Unsere Verantwortung nehmen wir wahr,
weil es uns in bestimmten Momenten gegeben ist und wir vernachlässigen sie,
weil uns in anderen Momenten kein Zugang dazu gewährt ist. Je näher wir
hinschauen, desto deutlich wird, welch großen Raum all das einnimmt, was wir
nicht kontrollieren können, was ohne unser Zutun in uns wirkt, was unserer
Bewusstmachung immer voraus ist.
Die eigene Geschichte und das Schicksal
Mit dem
Einsehen, dass der eigene Verantwortungsbereich schmal ist im Vergleich zu dem,
was ohne unsere bewusste Mitwirkung geschieht, ändert sich der Blick auf die
eigene Lebensgeschichte. Wir können sie auf neue Weise erzählen. Viele
Ereignisse in unserer Vergangenheit, über die wir hadern und mit denen wir uns
nicht abfinden können, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir die Grenze
zwischen Verantwortung und Schicksal genauer erkennen. Die Möglichkeit, für
unser Handeln Verantwortung zu übernehmen, war zu den kritischen Zeitpunkten,
mit denen wir im Unfrieden sind, viel kleiner, als wir jetzt annehmen. Nachträglich
ist uns manches bewusst geworden; damals verfügten wir nicht über diese
Bewusstheit. Deshalb konnten wir nicht anders handeln als wir gehandelt haben.
Deshalb ist etwas geschehen, was wir heute als Fehler erkennen und so nicht
mehr machen würden. Wir sind in dieser Hinsicht bewusster geworden und haben
aus der Erfahrung gelernt. Jetzt können wir damit aufhören, von uns selber eine
Bewusstheit für die Vergangenheit zu verlangen, die uns erst nachträglich
zuteil wurde. Jetzt können wir damit aufhören, uns selber mit dem heutigen
Besserwissen zu quälen.
Die Lücken der Verantwortung
Wir müssen immer wieder anerkennen, dass wir die Verantwortung nur in Lücken, die sich im
dichten Gewebe des Seins öffnen, ausüben können. Wenn wir aber diese Lücken
ausnutzen, um unsere Bewusstheit zu vertiefen, dann werden diese Lücken umso
häufiger auftreten, sodass uns ein Wachsen in der geistigen Reife geschenkt
wird.
Wir gelangen zu unserer vollen Wirkmacht nur
dann, wenn wir ein klares Gefühl für die Grenzen unserer Einflussnahme haben. Wo
diese Grenzen unklar und verschwommen sind, vergeuden wir unsere Kräfte, weil
sie in Scham- und Schuldgefühle fließen. Mit der Einsicht in die Grenzen
verstehen wir, wie wir unsere Autorität und Verantwortung in den kleinen Bereichen
leben können, die unserer Kontrolle unterliegen, und wie wir sie durch Übungen
in der Bewusstheit vermehren. Dem Unverfügbaren gilt es in Respekt und Demut sowie
mit Gelassenheit zu begegnen. Wir sind nicht die Meister:innen unseres
Schicksals, aber die Gestalter:innen unseres bewussten Lebens.
Zum Weiterlesen:
Schicksal und Verantwortung
Schicksal und Scham
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