Donnerstag, 22. Oktober 2015

Ein kleines Modell des Schmerzes

Wenn wir Schmerzen empfinden, bedeutet das, dass der Körper signalisiert, mit einem Problem nicht fertig zu werden. Unser Organismus verfügt über die unterschiedlichsten Formen von Selbstregulation. Diese verläuft zum größten Teil unbewusst. Unsere inneren Systeme steuern sich selber, von der Zellebene angefangen bis zum Blutkreislauf oder Lymphnetzwerk. Auch im Gehirn laufen die meisten Prozesse unbewusst. Etwas bewusst abzuwickeln, erfordert viel Energie (Sauerstoff und Glukose), und wird deshalb aus ökonomischen Gründen auf ein Minimum reduziert.

Das Bewusstsein wird hinzugezogen, wenn es anders nicht mehr geht, und das ist die Funktion des Schmerzes: Ein Notsignal, ein Hilferuf: „Wir schaffen es alleine nicht mehr“. Das Bewusstsein kann Schmerzen nicht ignorieren, die melden sich so vehement, dass wir auf sie achten müssen. Manchmal sind sie so stark, dass wir zusammenknicken, z.B. bei einem intensiven Magenschmerz. Wir können sie jedoch missachten, indem wir sie nicht ernst nehmen, sondern einfach weitertun, bis die Schmerzen von selber abebben. Manchmal denken wir, wir müssen die Zähne zusammenbeißen und trotz Schmerzen weitermachen. Es kann sein, dass wir mit dieser Taktik unseren Körper dazu zwingen, seine letzten Reserven zu mobilisieren, bis es dann zu einem größeren Zusammenbruch kommt.

Denn der Hilferuf, den ein betroffenes Körpergebiet mittels Schmerzen ausschickt, heißt nicht nur, dass die Schadensbehebung von dem Bereich nicht mehr selber erledigt werden kann, sondern auch, dass die Reserven, die für die Reparatur in Anspruch genommen werden, zur Neige gehen. 

Schmerzen sind deshalb immer auch ein Anlass, dass wir uns bewusst machen können, wie wir mit unseren Energien umgehen. Wenn wir uns irgendwo im Körper verspannen, wird Energie konsumiert, um diese Spannung aufrecht zu erhalten, und es fehlt der Wiederaufbau der Energie, der in der Entspannung möglich ist. Das System Spannung-Entspannung-Spannung usw. erhält sein Gleichgewicht; bleibt die Spannung mit zu wenig an Entspannung, entsteht ein Ungleichgewicht, es wird zu viel verbraucht und zu wenig hergestellt.

Was kann das Bewusstsein nun tun, wenn ein Organismus-System im Ungleichgewicht ist? Es kann, wie oben gesagt, die Botschaft hören, aber ansonsten ignorieren und so weitermachen, wie bisher, mit riskanten Aussichten. Es kann die Botschaft ernst nehmen und etwas am Leben ändern, was zur Wiederherstellung des Gleichgewichts führt. Es kann sein, dass wir zum Arzt gehen und uns eine Therapie verschreiben lassen. Es kann auch sein, dass wir beschließen, z.B. uns ausdauernd zu bewegen oder anders zu ernähren oder bestimmte Aktionen, die uns zuviel Stress bereiten, beenden.

Wir können zudem noch einen Schritt weitergehen und uns auf die Ebene der inneren Kommunikation einlassen. Schmerzen drücken nämlich auch eine Kommunikationsstörung aus, wie wenn Kinder zum Schreien anfangen, weil sie sonst nicht gehört werden. Lange genug haben wir überhört, was uns unser Körper mitteilen wollte, weil wir andere Aspekte unseres Lebens wichtiger genommen haben, z.B. das, was andere von uns erwarten oder das, was wir von uns selber erwarten usw. Wenn wir auf die innere Kommunikation einsteigen, heißt das, dass wir Verständnis für das Symptom aufbringen, das sich melden, auch wenn es uns lästig oder beschwerlich erscheint. Es will verstanden werden und spüren, dass es wichtig genommen wird. Dann kann es schon ein Stück entspannen. 


Untersuchungen haben festgestellt, dass Schmerzreize, die mit innerer Aufmerksamkeit statt mit Abwehr wahrgenommen werden, abnehmen. Interessanterweise gehen die Schmerzreaktionen in den Nervenzellen nicht nur im Gehirn zurück, sondern auch an der Stelle, wo sie entstehen, z.B. im Zahnkanal oder in der Magenschleimhaut. Die Zellen in diesem Bereich entspannen sich offensichtlich, wenn sie die Zuwendung und Aufmerksamkeit des Bewusstseins bekommen.

Wir sollten deshalb den Aufbau und Ausbau unserer Innenkompetenz wichtig nehmen, neben all den anderen Kompetenzen, die wir in unseren Lebenswelten brauchen. Innenkompetenz nenne ich die Fähigkeit, unser Inneres bewusst wahrnehmen und verstehen zu können. Es ist die Fähigkeit der inneren Kommunikation, die im Zuhören und zugewendeten Sprechen besteht, beruhend auf einer gleichberechtigen Grundlage. Unser Symptom, das mit uns reden will, hat genauso recht wie „wir“, also unser bewusster Aspekt, der die ganze restliche Lebenswelt mit ins Gespräch bringt. Es darf kein Machtgefälle geben in diesem Dialog. „Wir“ müssen uns also auch von den Botschaften unseres Körpers belehren lassen.

So können wir die Eigenverantwortung für unsere Gesundheit stärken, die zuallererst in unseren eigenen Händen ruht und von der wir selber am meisten wissen, kennen und spüren. Der bewusste und achtsame Umgang mit Schmerzsignalen aus unserem Körper ist ein wichtiger Zugang zu dieser Kompetenz: Statt die Schmerzen nur als unangenehm, hinderlich und feindlich zu verurteilen, sie als Hinweise zu sehen, wie wir unser Leben verbessern können. Das hilft uns, das Leid, das Schmerzen verursachen, besser zu ertragen, und den Schmerzen, sich schneller zu beruhigen.

Die Eigenverantwortung für unsere Gesundheit können wir nur selber in die Hand nehmen. Das Gesundheitssystem hat kein eigenes Interesse daran, auch viele Ärzte sehen sich wichtiger als die Eigenkompetenz ihrer Patienten. Deshalb müssen wir es zu einem wichtigen Interesse machen.


Vgl. Das Modell der organischen Kommunikation
Selbstheilung durch innere Kommunikation
Das innere Wissen und eine neue Methodologie

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Wann ist das Boot voll?

Szene aus dem Film "Das Boot ist voll"
von Markus Imhoof (1981)
Wie viele Flüchtlinge haben Platz in unserem Land, und wann ist es genug, oder ist es schon längst genug, und das Boot droht zu sinken?

Diese Frage stellen sich viele in diesen Tagen, und die Antworten darauf bestimmen die Wahlergebnisse: das Flüchtlingsthema gilt für die meisten Wähler der Wiener Gemeinderatswahl vom 11.10.2015 (55%) als wesentliche Aufgabe der Politik; 45 % der Wähler waren der Meinung, dass das Land noch mehr Flüchtlinge aufnehmen könne; 50% finden, dass unsere Kapazitäten bereits erschöpft sind. Die Meinungen sind also polarisiert, sie teilen sich auch ziemlich genau auf Grüne-Wähler (die meinen, dass noch mehr Flüchtlinge aufgenommen werden können) und FPÖ-Wähler (die meinen, dass die Grenzen dicht gemacht werden sollten) auf.

Wer oder was entscheidet darüber, wann es genug ist mit der Zuwanderung? Es ist offensichtlich, dass es kein objektives Kriterium gibt, doch wird das kaum irgendwo erwähnt. Wo auch sollte man das ansetzen? Wir sind ein reiches Land, in dem allein mit den Lebensmitteln, die laufend weggeworfen werden, Tausende Menschen ernährt werden können. Wir haben leerstehenden Wohnraum und können auch behelfsmäßige Unterkünfte errichten. Viele Menschen sind bereit, Geld und Güter zu spenden. Der Staat kann seine Gelder locker machen usw. Wenn ein armes und bürgerkriegsgezeichnetes Land wie der Libanon 1-2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann und nicht untergeht, ist bei uns die Kapazitätsgrenze noch lange nicht absehbar.(Libanon: Einwohnerzahl: 30 % weniger als Österreich, Fläche: 87% weniger als Österreich)

Wo es keine objektiven Kriterien gibt, bestimmen die subjektiven die Meinungen und Diskussionen. Subjektive Kriterien sind von Gefühlen erzeugt, und da machen sich vor allem unterschiedliche Ängste breit, die eben den einen das „Gefühl geben“, dass es eng wird im Land und dass das Boot zu sinken droht oder, wie eine FPÖ-Metapher besagt, dass die Gesellschaft „kippt“ (als wäre die Gesellschaft ein Biotop), während andere „das Gefühl haben“, dass den armen Menschen geholfen werden muss. Bei den einen verstärkt das die Angst, dass sie selber nichts mehr kriegen und „die Fremden“ alles, was wieder bei den anderen die Angst auslöst, dass Notleidende im Stich gelassen werden sollen und sich Feindlichkeit statt Menschlichkeit ausbreitet.

Es scheint offensichtlich, dass in diese Gemengelage der polarisierten Gefühle viele transgenerationale Themen aufgewirbelt werden und mitmischen. Fast jeder Mensch in diesem Land hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, zumindest in den genetischen und epigenetischen Prägungen, die von Eltern, Groß- und Urgroßeltern übertragen werden. Viele haben eine Familiengeschichte von Flucht, Aus- Ein- und Zuwanderung, viele haben auf diese Weise direkt oder indirekt Formen von  Fremdenfeindlichkeit und Menschlichkeit erlebt, am eigenen Leib oder in der Generationenübertragung.

In dieser Situation, in der die Gesellschaft durch den Zustrom und Durchstrom von Tausenden Menschen, die nichts oder fast nichts haben, aufgemischt wird, kommen all diese Themen hoch und beeinflussen die eigene Gefühlslandschaft. Da uns jedoch diese Themen und ihre Herkunft kaum bewusst sind, geraten wir in Verwirrung. Diese Verwirrung hat sich inzwischen weit ausgebreitet und treibt die unterschiedlichsten Blüten. Die einen erwarten den entscheidungs- und durchsetzungsmächtigen Politiker, der wieder Klarheit und Sicherheit herstellen wird (wie viele unserer Vorfahren in unserem Land 1938 den Österreicher, der in Deutschland zum starken Mann geworden war, hoffnungsvoll begrüßt haben), die anderen eine offene und hilfsbereite Gesellschaft (wie viele unserer Vorfahren erhofft, vermisst oder erfahren haben) usw.

Es ist klar, dass auf der Grundlage von verwirrten Gefühlen keine sinnvollen Entscheidungen getroffen werden können. Verwirrung führt zu Willkür und Panikreaktionen. Andererseits verfügen wir über keine rationalen Gründe zu sagen: Jetzt, genau jetzt, ist der Punkt erreicht, an dem wir es nicht mehr schaffen. Du darfst noch rein, und du nicht mehr.

Soll sich die gesellschaftliche Gefühlsverwirrung auflösen, bedarf es der inneren und kommunikativen Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen und ihren Hintergründen in den eigenen Lebensgeschichten und denen unserer Vorfahren. Erst wenn sich die Gefühle in den Menschen und die Menschen in den Gefühlen verstanden fühlen, können wir der Vernunft wieder mehr Raum geben und menschengerechte Entscheidungen fällen.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Über den Wahnsinn der Waffenproduktion

Quelle: fox59.com
 „Warum werden Waffen an jene verkauft, die planen, einzelnen Menschen und der Gesellschaft unbeschreibliches Leid zuzufügen?” Pause. „Leider ist die Antwort, wie wir wissen: Einfach wegen des Geldes – Geld, das getränkt ist in Blut, oft unschuldigem Blut.“

Dies sagte Papst Franziskus am 24.9.2015 vor dem amerikanischen Kongress, vor den Abgeordneten, unter denen vermutlich nicht wenige durch das Waffengeschäft zu ihrem Reichtum, Amt und Würden gelangt sind. 


Ich weiß nicht, ob die republikanischen Abgeordneten bei diesem Abschnitt der Rede in Zustimmung aufgestanden sind oder nicht. Vielleicht haben sich manche gedacht: Ach, was für ein naives Denken kann sich ein Papst erlauben, wir hingegen tragen die Verantwortung für die Sicherheit der Nation und der Welt usw.
 

“Britannien sollte akzeptieren, dass solche Waffen unmöglich mit einer Sicherheitsgarantie verwendet werden können und wir sollten die Pläne für die Erneuerung des Trident-Atom-Verteidigungssystems aufgeben, was 100 Mrd. Pfund für unseren nationalen Wohlstand freigibt.“ Das sagte Jeremy Corbyn, seit kurzem Führer der britischen Labour-Party.
 

Es mag tatsächlich naiv klingen, auf die exorbitante Unsinnigkeit der Anhäufung von Zerstörungsmaterial hinzuweisen. Aber ich finde, dass es immer wieder gesagt werden muss, bis es so tief in den Seelen der Menschen angekommen ist, dass im Außen etwas passiert: Ohne Waffen gibt es keinen Krieg. Waffen zerstören: Menschenleben und Güter. Was an Zerstörungen angerichtet wurde, muss wieder aufgebaut werden, bis ein menschenwürdiges Leben in den Kriegsgebieten möglich wird.
 

Illusionäre Tagträumerei, tönt es gleich von allen Seiten. Die "Vernünftigen" wissen es besser:  Wer abrüstet, zahlt drauf. Wer aufrüstet, ist auf der sicheren Seite. So geht die herrschende Logik, basierend auf einem sogenannten Hausverstand. Wir leben in einer Welt des Misstrauens, und wer sich schwach zeigt, wird vom Stärkeren untergebuttert. Der Mensch ist des Menschen Feind, so war es immer schon und so wird es immer bleiben. Also sei auf der Hut und halte stets deine Waffen griffbereit.

Nun hat nicht die Hochrüstung und Abschreckung Frieden gebracht, dort, wo Frieden herrscht, sondern wirtschaftlicher Wohlstand und innerer sozialer Ausgleich. Die Rüstung dient weder dem Wohlstand aller noch dem sozialen Ausgleich. Vielmehr werden durch die Rüstungsindustrie öffentliche Gelder auf private Konten geleitet für die Produktion von Gütern, die im besten Fall verrotten, im schlimmsten Fall Menschenleben und Güter zerstören.

Kriege gehen meistens nicht durch den überlegenen Waffeneinsatz zu Ende, sondern durch das Erschöpfen der Waffenvorräte auf einer Seite. Deshalb müssen, solange der Glaube an die Notwendigkeit von Kriegen weiterbesteht, die Waffenarsenale bis an den Rand gefüllt bleiben.
 

Wir sind Gefangene von Glaubenssystemen, die Sachzwänge hervorgebracht haben. Diese Glaubenssysteme wurzeln in primitiven Vorstellungen von menschlichen Zusammenhängen. Und gründen auf der Annahme, dass Gewalt Konflikte lösen könnte. Wir müssen uns nicht der Logik des Misstrauens unterordnen, die uns vorgebetet wird. Misstrauisch sind wir nicht von Natur aus, sondern erst, wenn uns Angst gemacht wird. Wie leicht das geht, können die Kriegstreiber immer wieder beobachten: Menschen leben friedlich mit- und nebeneinander. Dann mischt sich die Propaganda dazwischen, und aus Freunden werden Feinde, die einander nur mehr mit Misstrauen beäugen, bis sie bereit sind, einander umzubringen. Das war in unserem Land ab 1938 und „vor unserer Haustür“ vor zwanzig Jahren am Balkan zu beobachten, das sehen wir in der Ostukraine und in den failed states, den zugrunde gerichteten Staaten im Nahen und Mittleren Osten.
 

Solange wir die Logik des Misstrauens in uns wachhalten und nähren, spielen wir mit im System der Aufrüstung und Vernichtungsbereitschaft. Indem wir dieses Denken teilen, sind wir mitverantwortlich für das, was wir vielleicht auf der anderen Seite als Wahnsinn erkennen. Machen wir uns jedoch unsere Verantwortung für den Frieden auf der Welt bewusst, dann müssen wir auch der scheinbaren Ausweglosigkeit der Waffenproduzenten widerstehen und überall in unseren Beziehungen Misstrauen durch Vertrauen ersetzen. (Damit ist kein blindes, sondern ein sehendes Vertrauen gemeint.)
 

Unsere Mitverantwortung können wir dadurch leben, dass wir die Tatsache der Sinnlosigkeit und Gefährlichkeit der Waffenproduktion und Waffenhortung immer wieder an den Pranger stellen. Sie einfach hinzunehmen und jede kritische Stimme als naiv zu belächeln, stärkt nur die Selbstverständlichkeit, mit der so große Teile der Menschheit und so viele politische Verantwortungsträger eine waffenstrotzende Welt hinnehmen und unterstützen.

Und aktuell heißt der Zusammenhang auch: Wenn es keine Waffen gibt, gibt es keinen Krieg. Wenn es keinen Krieg gibt, gibt es keine Flüchtlinge. Menschen flüchten nicht vor anderen Menschen, sondern vor Fassbomben, Phosphorgranaten und Raketen. Da wir in unseren Landen einen Teil unseres Wohlstandes der Waffenproduktion verdanken, die so viel Unheil in der Welt verursacht, haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung für die Geschädigten, die jetzt bei uns Unterschlupf suchen.

Mittwoch, 30. September 2015

Geld und Schmerz

Quelle: Darvins Illustrierte
Ein interessanter Aspekt der Psychologie des Geldes ist der Zusammenhang zwischen Geldausgeben und und Schmerzempfinden. Geld für eine Dienstleistung oder ein Produkt zu bezahlen, hat mit Loslassen zu tun. Scheine oder Münzen, die sich in meinem Geldbörsel befunden haben, muss ich hergeben. Dieser Prozess des Loslassens ist subtil und gewohnheitsmäßig eingeübt, wenn es um kleine Beträge oder regelmäßige Zahlungen geht, z.B. wenn wir Lebensmittel einkaufen oder ein Busticket lösen. Solange alles im Rahmen unserer Erwartungen ist, erleben wir keinen Problemdruck.

Sobald aber etwas unerwartet teuer ist (wir sind z.B. schon lange nicht mehr mit der Bahn gefahren und sind erschreckt über den Preis eines Fahrscheins), sobald eine Rechnung überraschend eintrudelt (z.B. wir haben nicht mit der saftigen Steuernachzahlung gerechnet) und sobald Ebbe am Konto herrscht, regt sich unser innerer Widerstand und wir geraten in Stress. Wir beginnen, mit dem Schicksal, den Preisen oder den Behörden zu hadern, bis wir schließlich einsehen, dass wir zahlen müssen, um zu kriegen, was wir wollen oder um sonstige Nachteile zu vermeiden. In solchen Situationen erleben wir den Schmerz, der mit dem Loslassen verbunden ist.

„Freiwilliges“ Loslassen ist einfach. Anstelle dessen, was wir an Geld hergeben, erwerben wir etwas, das uns Freude bereitet. Ein Loslassen, dem wir nicht voll zustimmen können, weil es für uns nicht klar ist, ob der Gewinn den Verlust überwiegt (z.B. wir haben eine Sache gekauft und fühlen uns übervorteilt) oder weil es unvermutet und überraschend kommt (z.B. wir verlieren unsere Brieftasche oder werden bestohlen), ist schwieriger, weil es mit Leiden verknüpft ist, das im Inneren zu nagen beginnt: Es fühlt sich an, als hätten wir einen Teil dieses unseres Inneren eingebüßt.

Wir erkennen an solchen Vorgängen unsere beharrlichen Anhaftungen an die Dinge. Geld ist an sich wertlos, steht aber in seiner abstrakten universellen Werthaftigkeit (ich kann mir mit genügend Geld alles kaufen, was es gibt) an oberster Stelle unserer Begierden. Deshalb kann ein Verlust der an sich wertlosen Scheine oder Münzen innere Krisen auslösen.

Um diesen Krisen zu entgehen, horten manche Menschen ihr Geld, und andere geben es so schnell wie möglich gleich wieder aus, sobald sie es in der Hand haben. Andere wiederum denken fortwährend an ihren Kontostand und machen sich laufend Sorgen, was in Zukunft schlechter werden und sie ärmer machen könnte.

Schmerzen machen uns immer auf unsere Endlichkeit aufmerksam. Wir merken, dass wir verwundbar sind, und verwundbare Wesen können nicht ewig leben. Deshalb bietet unser materialistisches System, das System der Todesverdrängung, den einen Versicherungen gegen jegliche Schmerzen und den anderen Vergnügungen und Konsumfreuden ebenso gegen jede Verletzlichkeit an. Wir können uns rundum abpolstern mit den Glücksversprechungen der Welt der Dinge, die ihr volles Repertoire an Verführungskünsten einzusetzen, um das Paradoxe zuwege zu bringen: Uns das Geld aus der Tasche zu ziehen, ohne dass es weh tut.

Ein Trick bei solchen Täuschungsmanövern besteht darin, den Konsumenten das Gefühl zu geben, dass sie mit dem Erwerb eines Gutes nicht nur dieses, sondern den zusätzlichen Nutzen erworben haben, das Gut billiger, günstiger zu bekommen als es „eigentlich“ wert ist. Wenn wir das Gefühl haben, bei einem Einkauf zu „sparen“, also weniger auszugeben als erwartet, wird der Schmerz des Loslassens durch die Freude am vermeintlich doppelten Gewinn ausgeglichen. Deshalb sind manche Menschen geradezu süchtig danach, Rabatte und Preisnachlässe aufzuspüren und danach ihre Einkäufe zu planen, wobei sie oft viel mehr erwerben, als sie wirklich brauchen und damit schließlich mehr Geld ausgeben als gewollt.

Ähnlich einer Stechmücke, die zuerst ein Betäubungsmittel über den Stachel in die Haut injiziert, um sich dann ungestört sättigen zu können, wird auch bei den Einkaufsvorgängen zunächst der Schmerz durch die positiven Gefühle des Inbesitznehmens unterdrückt, und erst nachher spüren wir den Verlustschmerz, vor allem, wenn das Ding, das wir erworben haben, oder sein Preis nicht unseren Vorstellungen oder Erwartungen entspricht.

Alles, was wir mit Geld erwerben, ist wie das Geld dinglich. Wir tauschen Dingliches gegen Dingliches. Das erworbene Ding ist unlebendig, und es bringt uns mit der Realität des Todes in Kontakt, ohne dass wir es merken. Was wir merken, ist der Schmerz des Hergebens, des Verlustes. Darin macht sich unsere Vergänglichkeit bemerkbar, doch so, dass wir in der Üppigkeit der Warenwelt die Hoffnung nie verlieren können, dass Vergängliches durch Vergängliches ersetzt werden kann, wie das kaputte Handy durch ein neues, noch besseres und schöneres, und so weiter bis in alle Ewigkeit. Die Illusion der Unendlichkeit der Warenwelt und Güterproduktion und damit der Unsterblichkeit der Konsumenten ist vielleicht die mächtigste Triebfeder der kapitalistischen Produktion und des materialistischen Konsums.

Geld repräsentiert eine universelle Möglichkeit in der Güterwelt, und sobald es ausgegeben ist, sind Möglichkeiten in der Menge des Ausgegebenen vernichtet. Die Wirklichkeit des Gutes entschädigt uns dafür nicht. Doch probieren wir es immer wieder, wie der Glückspieler am einarmigen Banditen. Mit jedem neuen Versuch wollen wir unsere Endlichkeit überwinden und uns unsterblich machen. Alles, was den Schmerz betäubt, ist deshalb willkommen.

Machen wir uns hingegen bewusst, dass das Loslassen ein wichtiger Teil des Lebensprozesses ist und dass wir uns damit in der Dynamik des Austausches im unendlichen Netz des Gebens und Nehmens bewegen, kann es uns leichter fallen, Geld und Güter zu empfangen und wieder herzugeben und dabei mit einem genauen Spüren unserer Bedürfnisse in Verbindung zu bleiben: Was brauchen wir wirklich, was ist uns wichtig – im Geben wie im Nehmen?



Vgl.: Das Ende des Geldes? 
Die Doppelbotschaft der Ausbeutungsgesellschaft

Dienstag, 29. September 2015

Für ein Verbot der Angstmacherei

Irrationalismen entstehen, wenn der Realitätskontakt unterbrochen ist und kein direkter Bezug zu ihr besteht. Irrationalismen sind also Konstruktionen in unserem Kopf, die nicht mit äußeren Daten abgeglichen werden. Deshalb geschieht es schnell, dass die eigenen Ängste in die irrealen Konstruktionen hinein fantasiert werden und dort ihren festen Sitz bekommen. Wo keine Realität, dort keine Korrektur. Wo kein Realitätsbezug, dort keine Korrekturmöglichkeit.

Ein Beispiel: Der Antisemitismus wird von der irrealen Angst erzeugt, dass Juden eine Gefahr für die restliche Menschheit darstellen. Er ist dort am größten, wo es keine Juden gibt. Eine typische Antwort eines Antisemiten auf die Frage, ob die Juden, die er persönlich kenne, auch böse oder gefährlich seien, ist: „Nein, aber die sind eine Ausnahme." Wie jede Ideologie, ist auch der Antisemitismus ein geschlossenes System.

Parallel dazu gibt es das Phänomen der Xenophobie ohne Fremde. Ein interessantes Detail bei den Ergebnissen der Landtagswahlen in Oberösterreich vom 27. September 2015 zeigt, dass der Stimmanteil der FPÖ, der ausländer- und flüchtlingsfeindlichen Partei, in Gemeinden mit untergebrachten Flüchtlingen kleiner ist als in Gemeinden ohne. Die Befürchtungen steigen nicht, wenn wir der Bedrohung direkt, also von Mensch zu Mensch begegnen, im Gegenteil: sie sinken. Je mehr Realität, desto weniger Angst und desto mehr Rationalität (=Vernunft).

Sobald wir uns mit einer Angst konfrontieren, verliert sie ihre Macht. Das Bedrohliche lebt von seiner Ungreifbarkeit. Solange es keine Realität hat, kann es übermächtig werden wie bei einem Psychotiker, der in seinem Zimmer sitzt und vom Wahn in den Wahnsinn getrieben wird, dass der Raum voller böser Geister ist. Wieder ist das System geschlossen, denn es gibt keine Realität, die als Korrektur dienen könnte.

Wo wir auf die Realitätsprüfung verzichten, laufen wir Gefahr, psychotisch zu werden. Psychose ist eine Krankheit, die darin besteht, dass die betreffende Person nicht mehr unterscheiden kann, was Fantasie und was Realität ist. Wir haben es mit Vorformen der Psychose zu tun, wenn Ängste verbreitet werden, ohne dass eine Realitätsprüfung notwendig ist. Deshalb wählen viele Menschen gerade diejenige Partei, die das gestörteste Verhältnis zur Realität hat. Sie finden sich dadurch bestätigt.


Die Sucht nach Angstmachern


Die Ängstlichen suchen die Angstmacher, weil sie meinen, dass die, die vor Ängsten warnen, um die Realität wissen. Da Angst immer einengt, nicht nur den Körper und seine Funktionen, sondern auch die Wahrnehmung, kann unter Angst nur ein eingeschränktes Bild der Realität erzeugt werden. Von den Angstmachern wird angenommen, dass sie den Durchblick haben, der einem selber fehlt, und dass sie die Handlungskraft haben, von der man selber abgeschnitten ist. Sie repräsentieren die Macht, die die eigene Ohnmacht ausgleichen soll. Sie können die bösen Geister bannen.

Deshalb müssen die Angstmacher martialisch und aggressiv auftreten und zu zumindest verbaler Gewalttätigkeit fähig sein. Dann glauben die Ängstlichen an sie und klammern ihre Hoffnungen daran, die Angstmacher an die Macht zu bringen und dann daran teilhaben zu können. 


Für ein Verbot der Angstverbreitung


Ängste sind lähmend. Ängste sind ansteckend. Ängste machen krank. Ängste machen asozial. Ängste führen zu psychischen und körperlichen Erkrankungen. Also sollte es verboten und unter Strafe gestellt sein, Ängste zu verbreiten. Parteien, die das Angstmachen in ihrer Propaganda und Programmatik vertreten, sollten verboten werden. Schließlich erlauben wir es auch nicht, dass Menschen mit hochinfektiösen Krankheiten in der Öffentlichkeit herumlaufen, und müssten dagegen vorgehen, wenn jemand zur Verbreitung von gefährlichen Infektionen aufruft. Drogenhandel und –konsum sind untersagt, Angstverbreitung wird als Ausdruck von Meinungsfreiheit gerechtfertigt.

Solange wir nicht verstanden haben, dass wir im Inneren unsere Ängste loswerden sollen, müssen und können, wird die Macht der Ängste und ihre kollektive Steuerung und Instrumentalisierung nicht als kriminelles Delikt verstanden, sondern als Bestandteil jeder Gesellschaftsordnung verharmlost. Es bedarf also der Weiterführung der Aufklärung in die Bereiche der Emotionalität, wenn wir das Projekt einer gerechten und befreiten Menschheit weiterführen wollen.


Vgl.: Großprobleme und der Hang zum Irrationalisieren
Die Flüchtlinge in unseren Köpfen

Dienstag, 22. September 2015

Großprobleme und der Drang zum Irrationalisieren

 

Wenn wir von Situationen überfordert sind, suchen wir nach Erklärungen. Solange wir keine zureichende Erklärung haben, bleiben wir angespannt. Jemand kommt nicht zu einem vereinbarten Termin – unser Kopf beginnt zu rattern: Was könnte los sein, was ist passiert, habe ich etwas falsch gemacht, hat die andere Person vergessen, ist ihr etwas zugestoßen? Usw. Wir kriegen einen Anruf, die Person entschuldigt sich und erklärt, warum es nicht möglich war zu kommen. Wir verstehen den Grund und entspannen uns. Die Erklärung gibt uns wieder Ordnung im Kopf und Ruhe im Körper.


Wenn Tausende von fremden Menschen in unser Land kommen, sei es auch nur auf der Durchreise wie die meisten, bekommen wir schnell das Gefühl der Überforderung, obwohl die ja nicht alle in unserer Wohnung übernachten wollen und obwohl die wenigsten von uns direkt betroffen sind. „Wie sollen wir das schaffen, so viele Menschen unterzubringen und zu versorgen? Das ist ja unmöglich.“

Viele Leute, mit denen man spricht, erwecken den Eindruck, als würden sie fast schon unter der Last der Erfordernisse zusammenbrechen, obwohl sie die Probleme nur aus den Medien kennen und währenddessen ihr eigenes Leben ungestört voran geht. Die Medien liefern die Ereignisse ins eigene Heim, mitten ins Wohnzimmer, und wir fühlen uns, als würden auf unserer Couch jetzt unzählige Syrer, Afghanen oder Pakistanis ihr Lager aufschlagen.

In dieser Situation der subjektiven Überforderung beginnen wir irrationale Theorien zu schmieden, die uns von dieser Last befreien sollen, die ja in den meisten Fällen nur eingebildet, also im eigenen Inneren erzeugt ist. Wir basteln uns unsere Überforderung selbst, indem wir unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten zugleich über- und unterschätzen.

„Was ist, wenn… (zehnmal so viele Flüchtlinge kommen, die meisten von ihnen Verbrecher sind, die alle über Jahre erhalten werden müssen, die den Islam verbreiten, die nicht arbeiten wollen, die schon arbeiten wollen, die viel zu viele Kinder kriegen, die erhalten werden müssen, die in die Billigjobs drängen………) Endlos können wir uns Szenarien ausdenken, diktiert von unseren Ängsten. Sicher, wenn wir Regierungsverantwortung trügen und mit Verwaltungsaufgaben betraut wären, sollten wir uns zu verschiedenen Aspekten beizeiten Konzepte vorbereiten, die auf Fakten und rationalen Extrapolationen beruhen. Sind wir das nicht, sind unsere Spekulationen auf Treibsand gebaut und dienen zu nichts anderem als zur Fütterung irrationaler Ängste.

Warum zerbrechen wir uns den Kopf über Dinge, die nicht unsere Aufgaben sind, für die wir weder über die Informationen noch die Kompetenzen verfügen? Wir flüchten uns in eine Scheinmächtigkeit: Wir sie ja die, die alles bedenken, was es an Möglichkeiten gibt, vor allem die schlimmsten. Wenn eine dieser Möglichkeiten eintritt, können wir stolz verkünden, dass wir das schon immer gewusst haben, aber dass wieder einmal niemand auf uns gehört hat. Für uns selber bleiben wir dann als die einzig Kompetenten übrig, die nur leider niemand in ihrer überragenden Intelligenz und in ihrem grandiosen Durchblick wahrnimmt.


Rettungsfantasien und Rattenfänger


Wenn wir von Situationen überfordert sind, suchen wir nach Rettern.  Wir brauchen andere Menschen, die handlungsfähig und wirkungsmächtig sind, wenn wir nicht mehr weiter wissen. In unseren Breiten richten sich diese Rettungshoffnungen auf die Politiker. Schließlich haben wir sie gewählt, damit sie die Probleme lösen, die uns zu schaffen machen. Nun zeigt sich aber, dass diese Politiker selber nicht über die Zauberstäbe und Wunderformeln verfügen, die die bösen Geister bannen. Wieder bringen sie nichts zusammen, wieder agieren sie kopflos. Die einen bauen wie wild Zäune um ihr Land herum, die anderen bringen die Armee an die Grenzen, wieder andere lassen alle durch, die ankommen, und noch andere prüfen „stichprobenartig“.  Das ist doch konzeptlos und chaotisch, nicht besser als die Krisensituation selber, also versagen diese Politiker und neue gehören her. Wer noch nicht an der Verantwortung gescheitert ist, muss an die Macht, um seine simplen Parolen in wirkungsvolle Taten umzumünzen. Der Retter muss einfach sein. Wir wollen keine komplizierten Zusammenhänge, keine komplexe Realitäten, sondern einfache handfeste Lösungen, mit markiger Stimme ausgesprochen und mit unerbittlicher Konsequenz umgesetzt.

Schon sind wir mit unseren Retterfantasien auf kryptofaschistischen Geleisen. Leider ist die Wirklichkeit nicht einfach, sondern komplex. Leider gibt es deshalb bei Großproblemen keine einfachen Lösungen. Leider kommt es in allen Teilen des Systems zu Überforderungen, deren Kompensation Zeit braucht. Leider müssen wir Geduld aufbringen und Vertrauen, dass alles letztlich doch einen verträglichen Ausgang findet.

Die Alternative wäre, einem der Rattenfänger nachzulaufen, die uns unweigerlich noch größere Probleme bescheren. Wer aus Angst und Wut handelt, nimmt Zerstörung und Gewalt in Kauf. Er steht dann vor hunderten Kilometern Stacheldrahtzaun als Lebenswerk und Vermächtnis. Rattenfänger produzieren Scherbenhäufen, und dann will es niemand gewesen sein. Laufen wir ihnen nach, fallen wir zurück auf Bewusstseinsstufen, die wir nicht nur schon längst überwunden haben, sondern die dazu noch völlig ungeeignet sind, um mit der Vielfältigkeit der Zusammenhänge und Möglichkeiten zu Recht zu kommen.

Deshalb ist die größte Vorsicht geboten, wenn wir auf die Suche nach Rettern gehen. Welche größenwahnhaften Antriebe werden da wirksam, die aus dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit stammen?  Wo stehen wir in unserem eigenen Leben an, ganz unabhängig von den Großproblemen der Gesellschaft? Was fehlt uns in unserem Inneren, dass wir nach außen ausweichen müssen und von dort die Befreiung erwarten?


Humanität und Selbstbescheidung


Das Gegenmittel gegen Größenphantasien ist nicht die Selbstabwertung – Größenwahn und Minderwertigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Das Gegenmittel ist die Selbstbescheidung und die Nutzung der Vernunft. Selbstbescheidung heißt, das zu tun, was im eigenen Rahmen möglich ist und alles, was nicht möglich ist, anderen zu überlassen, die das besser können. Damit können wir das Gefühl der Überforderung sein lassen. Die Vernunft verhilft uns dazu, einzusehen, was in unseren Möglichkeiten liegt und wo die Grenzen sind. Sie sieht möglichst viel vom ganzen Bild, und schließt die vielen anderen Kräfte in der Gesellschaft und deren Fähigkeiten und Mittel ein.

Ein kleines Beispiel: Heute (22.09.2015) beschließt die österreichische Regierung, dem Vergleich mit der Bayrischen Landesbank wegen der HypoAlpeAdria-Pleite zustimmend, 1,23 Mrd. Euro zu überweisen. In Österreich haben heuer bis August 46 000 Personen Asyl beantragt, etwas mehr als 0,5% der Gesamtbevölkerung. Eine vierköpfige asylbewerbende Familie erhält in Österreich maximal 820,- €/Monat (ca. die Hälfte dessen, was eine vergleichbare österreichische Familie mit Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen bekommt). Mit dem Betrag, den die Regierung (sprich die Steuerzahler) jetzt nur für den Bankenausgleich locker machen muss (was ja wiederum nur ein Bruchteil [bisher: 11,4 Mrd €] dessen ist, was die ganze von korrupten Politikern und unfähigen Bankmanagern verbockte Sache insgesamt kosten wird [bisher: 11,4 Mrd €]), könnten 500 000 Asylwerber ein ganzes Jahr finanziert werden.

Wir haben alles, was wir brauchen, um unser Leben zu gestalten, in den kleineren und größeren Zusammenhängen. Wir müssen nicht alles für alle anderen besser wissen, wir müssen nicht die Lösungen für die großen Herausforderungen der Gesellschaft in der Tasche haben. Wir können für uns bestimmen, in welche Richtung wir gehen wollen und was wir bereit sind, dafür einzusetzen. Wenn wir uns für die Richtung der Humanität entscheiden, heißt das nicht, dass wir jeden Flüchtling umarmen, trösten und nähren müssen. Es heißt nicht, dass wir mehr geben müssen, als wir geben können, dass wir teilen sollen, was wir gar nicht haben. Es heißt nicht, dass wir uns überfordern müssen.

Human zu leben heißt auch, die eigenen Grenzen zu kennen und anzuerkennen, ohne sie für immer festzuschreiben. Human zu leben heißt, immer bereit zu sein, sich zu weiten in neue Möglichkeiten hinein, aus der Verbindung mit dem eigenen Inneren heraus, das uns sagt, wo und wie wir freier werden können und mit neuen Möglichkeiten spielen können.


Vgl.: Die Flüchtlinge in unseren Köpfen
Für ein Verbot der Angstmacherei


Sonntag, 20. September 2015

Die Flüchtlinge in unseren Köpfen

Europa steht inmitten eines massiven humanitären Problems. Hunderttausende Flüchtlinge
Quelle: vienna.at
aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens suchen Schutz in den sicheren Ländern Mittel- und Westeuropas. Ich möchte hier nicht die bekannten und viel diskutierten Hintergründe dieser Entwicklung erörtern, sondern auf die Auswirkungen eingehen, die wir beobachten können, wenn das Problem in unsere nähere und nächste Umgebung vordringt.  Was macht diese Situation in unseren Köpfen, also in denen, die auf der sicheren Seite sind?

Humanitär ist das Problem, weil es um das Schicksal von Menschen geht, die in existentielle Notlagen geraten sind und die deshalb auf die Mithilfe anderer Menschen angewiesen sind, um überhaupt überleben zu können oder um irgendeine Chance zu haben, ihr Überleben menschenwürdig zu machen. Sind also die, denen es besser geht, bereit, mit denen zu teilen, die nichts oder fast nichts mehr haben? Das ist die humanitäre Frage, die erst beantwortet werden muss und dann in die kleinen und kleinsten Details des „Wies“ des Teilens heruntergebrochen werden kann.

Wir sind also in unserer Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit gefragt. Und diese Frage, die durch die Tatsache von Abertausenden verzweifelten Habenichtsen im Raum steht, konfrontiert mit allen Ängsten, die wir um unser eigenes Menschsein haben: Ängste um Arbeitsplätze, Pensionen und Sicherheit, schließlich um die Kultur und die Religion, Ängste vor dem Fremden und vor Überfremdung, Ängste vor eingeschleusten Terroristen, Ängste vor einem „vollen Boot“ (die Metapher ist ja reichlich zynisch, angesichts der überfüllten Boote, die sich über das Mittelmeer quälen und im Glücksfall ankommen oder in Küstennähe untergehen). Es zeigt: alle sind betroffen, aber diese Betroffenheit ruft bei vielen vor allem die eigene Abwehr hervor, während andere sich berufen fühlen, zu helfen und die Not zu lindern.

Viele, die nicht direkt davon betroffen sind, sondern gemütlich und aufgeregt aus dem Abstand zuschauen, nutzen das, um ihre Lieblingsthemen aufzubauschen und die Schuldigen anzuprangern: Islam, EU, USA, Russland, die Regierung, die Linken, die Rechten, die Einheimischen, die Zugewanderten, die Asylanten und die Asylsucher usw.

Auf diesem Boden der Abwertung, der Missgunst und des Hasses werden Gerüchte gestreut, um die eigene Sichtweise zu zementieren. Und sie finden reißenden Absatz. So wird behauptet, dass Flüchtlinge in Supermärkten ungestraft Sachen mitgehen lassen dürfen, was nicht stimmt. Andere sagen, dass die IS die Flüchtlingsströme nutzt, um Terroristen einzuschleusen, was auch nicht stimmt. Die Flüchtlinge sollen gar nicht aus Kriegsgebieten stammen, sondern nur Wirtschaftsflüchtlinge sein, die die gegenwärtige Situation ausnutzen, was zum Teil stimmt, aber vermutlich zu einem ziemlich minimalen. Die Flüchtlinge sollen Krankheiten einschleppen, was nicht stimmt.

Kaum wird ruchbar, dass österreichische Taxifahrer für eine Fahrt von der ungarischen Grenze nach Wien unverschämte 1500,- € verlangen (für Einheimische kostet die Fahrt 150,- €), melden sich die Stimmen, die sagen, dass man daran sehen könne, wie reich die Leute sind, die da über die Grenze kommen, nicht bedenkend, dass viele der Flüchtlinge nichts mehr haben als das Geld, das ihnen noch vom Verkauf ihrer Mittelstandsexistenz in ihrem Heimatland geblieben ist und das von den sonstigen Schlepperhonoraren übriggeblieben ist. Schlepper im eigenen Land, im biederen Stand des Taxigewerbes – wer hätte das gedacht?

Es entstehen also Bedrohungsszenarien in den Kopfkinos der Satten und Sicheren, die um ihre Sattheit und Sicherheit fürchten und jeden Gedanken dankbar aufgreifen, der ihr Gewissen beruhigt. So können sie un-verschämt sagen, dass Flüchtlinge bleiben sollen, wo immer, nur nicht bei uns, dass wir uns auch mit einem Zaun (Stacheldraht-Vorhang) umgeben müssen, dass niemand mehr herein gelassen werden soll usw. Argumente gegen die Humanität sind gefragt, und wenige machen sich die Mühe, die ausgestreuten Hetzparolen, Gerüchte und Mythen zu überprüfen.

Die Krise ist, wie jede, ein Prüfstein der Kraft, Reife und Verantwortung der Gesellschaft. Zieht sie sich durch Abschottung auf die eigene Wohlhabenheit zurück und wirft denen draußen vor dem Zaun ein paar Brotkrumen zu, wenn ihr danach ist? Oder nutzt  sie in dieser Krise die Chance zur Weiterentwicklung der Integrationsfähigkeit, Flexibilität und Kreativität?  Humanität ist ein Projekt, das unser volles Engagement braucht, wenn wir selber Mensch sein wollen und nicht bloß ein angstgetriebener Reflexorganismus, der nicht in der Lage ist zu teilen, weil das eigene Überleben bedroht erscheint, sobald andere näher rücken, deren Überleben tatsächlich in Gefahr steht.

Ist es wirklich unser Verdienst, dass wir diesen Wohlstand und Reichtum haben, diesen Grad an Sicherheit und Entwicklungschancen? Es gibt genug Stationen in der Geschichte unseres Landes und unserer Gesellschaft, wo viele die Auswanderung und Flucht als einzige Möglichkeit gesehen haben. Die, die es geschafft haben, können denen danken, die die Humanität aufgebracht haben, von ihrem Überfluss zu teilen. 


Vgl.: Großprobleme und der Drang zum Irrationalisieren
Für ein Verbot der Angstmacherei

Dienstag, 8. September 2015

Atmen kann Autoimmunreaktionen steuern

Intensives Atmen bewirkt Erstaunliches. Wer einmal Kaltwasseratmen ausprobiert hat und vorher ängstlich jeden Kontakt mit kaltem Wasser vermieden hat, weiß, wovon die Rede ist: Stark atmend, können sich im Kontakt mit dem kalten Wasser Angst und Schmerz in Ekstase verwandeln. 

Der Holländer Wim Hof hat viele Extreme mit Hilfe der Atmung bewältigt:
Marathonläufe in der Hitze und in der Kälte (bloßfüßig, in der Badehose), Kilimandscharo-Besteigungen (5 000 Meter hoch) in kurzer Hose, ohne Hemd und im Rekordtempo, Schwimmen im Polarmeer, 80 Minuten im Eisbecken bei 1 Grad plus, usw.

Bei der Global-Inspiration-Conference 2015 in Teneriffa hat er über hundert Leute in das Eiswasserbecken geführt, um zu demonstrieren, dass diese Erfahrung, bei entsprechender Vorbreitung, für jeden Menschen möglich ist. Die Vorbereitung besteht in intensven Atemübungen.

Was passiert, wenn wir mit der Atmung aufdrehen, um, wie es heißt, "die Energie aufzubauen"? 

Schnelles und tiefes Atmen führt das Nervensystem in den Sympathikus-Modus. Die Reserven werden mobilisiert und die Empfindlichkeiten zurückgestellt. Wir gehen an unser Leistungsmaximum. Zugleich wird die Adrenalin-Produktion hochgefahren, das bekannte Stresshormon wird im ganzen Körper verbreitet, deutlich messbar nach dreißig Minuten Atemübungen. Es bewirkt, dass wir schmerzunabhängiger werden. Und es bewirkt, dass die Immunabwehr unterdrückt wird.

In einem wissenschaftlich begleiteten Experiment hat eine Gruppe von Wim-Hof-Atmern abgestorbene E. Coli-Bakterien injiziert bekommen, ebenso wie eine Kontrollgruppe. Die Kontrollgruppe reagierte, wie zu erwarten war, mit heftigen Reaktionen des Immunsystems (Fieber, Schüttelfrost usw.). Die Intensiv-Atmer dagegen zeigten kaum Symptome oder wesentlich schwächere. 

Die holländischen Forscher, die das Experiment begleiteten, stellten fest, dass das Säure-Basen-Gleichgewicht im Blut und der Sauerstoffgehalt während der Zyklen der Atemübungen mehrfach rauf und runter ging. Sie schlossen daraus, dass wir in der Lage sind, unser Immunsystem durch gezielte Übungen zu beeinflussen. Damit eröffnet sich die Chance, Autoimmunkrankheiten durch Selbstkontrolle in den Griff zu bekommen. 

Autoimmunstörungen treten als Folge von chronischen Entzündungen auf. Sie verbreiten sich stark, obwohl es keine Ansteckung gibt. Bei diesen Störungen reagiert das menschliche Immunsystem zu heftig, dass die Reaktion den eigenen Körper angreift. Gelingt es jedoch, die überschießende Immunreaktion zu unterdrücken, dann kann das Leiden verringert oder geheilt werden.
Sollten sich die Untersuchungen durch weitere Experimente bestätigen, wäre ein erster Hinweis abgesichert, wie das Nervensystem auf das Immunsystem einwirkt. Das bedeutet, dass wir bewusst und gezielt mit Übungen von innen her regulierend, also aus der Ersten-Person-Perspektive auf unser Immunsystem einwirken können.

Samstag, 29. August 2015

Die zuträgliche Leichtigkeit und die Schwere

"Das Leben ist schwer" hören wir vermutlich wesentlich öfter als: "Das Leben ist leicht".
Wer leichtlebig ist, erfreut sich keinen guten Rufs. Wer es schwer hat, verdient Mitleid. Alles, was leicht geht, ist verdächtig. Wir müssen uns unser Leben erst verdienen, möglichst durch hartes und konsequentes Arbeiten, damit der biblische Fluch, dass wir unser tägliches Brot nur im Schweiß unseres Angesichts erwerben können, auch Recht behält.

Wie können wir uns von dem Fluch erlösen? Es kann doch nicht sein, dass am Anfang der Bibel den Menschen eine anthropologische Konstante, noch dazu in Form eines Fluches, von höchster Stelle aufgebrummt wurde, die wir niemals mehr loswerden können? Was, wenn es sich um eine Beschreibung der Menschen handelt, die unter erschwerenden Bedingungen entstanden ist und einer Notsituation Ausdruck gibt, aber nicht das Wesen des Menschen für alle Zeiten festlegt, unabhängig von historischen und sozialen Umständen?

Was schwer ist, drückt uns nieder, engt uns ein und macht uns klein. Es raubt uns den Atem und die Freiheit. Alles wird mühsamer und anstrengender. Freude und Genuss sind verpönt, Anspannung muss sein, jedes Nachlassen bedeutet Gefahr. Die Schwere ist eine Folge der Angst, die Angst ist eine Folge der Verängstigung. Ängste entstehen, wo etwas bedroht und das Ausmaß an Sicherheit zu gering ist. Die Rede ist vor allem von den frühesten Zeiten unserer Existenz, von der Empfängnis angefangen bis in unsere Kindheit und Jugend. Mit dem Älterwerden können wir mehr und mehr für unsere Sicherheit selber sorgen, doch plagen uns immer wieder Ängste, die sich aus den frühen Zeiten melden, weil wir uns mit ihren Wurzeln nicht beschäftigt und bewusst auseinandergesetzt haben.

Der biblische Fluch verheißt uns also, dass wir immer von Ängsten belastet sein werden. Die Botschaft der Erlösung dagegen sagt, dass wir uns befreien können von allen Verfluchungen. Wir sind nicht an die Schwere angekettet. Befreiung heißt, leicht werden, weit und offen. Das, worum wir die Vögel beneiden: die Flügel ausbreiten, kurz flattern und schon sind wir leichter als die Luft. Wir entkommen der Schwerkraft, mit der uns die Erde an sich klammern will.

Die innerliche Leichtigkeit braucht nicht einmal Flügel. Sie will die innere Schwere überwinden, die durch unsere Ängste und Sorgen entstanden ist. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir den Raum der Liebe betreten können. Solange wir uns schwer fühlen, sind wir auf uns selber fixiert. Wir schleppen uns dahin und unser Blick geht nach unten, sodass wir die anderen gar nicht wirklich wahrnehmen können. Unsere alten Belastungen halten uns gefangen, und wir haben keine Kapazität, uns über uns selbst hinaus zu weiten. Zu sehr sind wir gefangen von unseren Problemen. So denken wir uns den Kopf wund, um einen Ausweg aus der Schwere zu finden, und belasten uns nur noch mehr.

Das Sein ist leicht, und diese Leichtigkeit muss nicht unerträglich sein, im Gegenteil, sie ist uns höchst bekömmlich, und wir sollen sie, sobald sie uns geschenkt ist, in vollen Zügen genießen. Denn erst dann sind wir Menschen im vollen Sinn, weil wir erst dann liebesfähig sind. Die Liebe kommt nur auf leichten Sohlen. Sie verschenkt sich aus dieser Leichtigkeit heraus, indem sie das leicht macht, was sich so schwer anmutet.

Die Liebe, die wir einander entgegenbringen, ist also die Medizin, die uns zur Leichtigkeit im Leben verhilft. Und die Leichtigkeit im Leben verhilft uns dazu, dass wir gewährende und gebende Menschen werden können, die aus der Fülle füreinander da sind. So können wir uns gegenseitig von der Schwere befreien.

"Wir alle halten es für undenkbar, dass die Liebe unseres Lebens etwas Leichtes, etwas Gewichtsloses sein könnte." (Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins)

Freitag, 28. August 2015

Das Erbe und die Endgültigkeit

Quelle: Berliner Zeitung
Familien können über einen Erbstreit auseinanderfallen – Geschwister können sich nicht mehr in die Augen schauen, Eltern vergrämen die Kinder, Hinterbliebene lamentieren den Rest ihres Lebens über entgangenen Reichtumsgewinn aus einem Erbe.

Hinter den vielfältigen und unterschiedlichsten Konstellationen, die durch die Weitergabe von Gütern nach dem Tod entstehen können, möchte ich auf eine Dynamik hinweisen, die innerpsychisch hinter der massiven Emotionalität steckt, die durch Erbangelegenheiten ausgelöst werden kann. Ich gehe dabei nicht darauf ein, was manche Erblasser mit ihrem Testament machen, indem sie z.B. die „Braven“ belohnen und die „Schlimmen“ bestrafen wollen. Mit solchen Aktionen werden bestehende Konflikte bis über das eigene Grab hinaus weiter geschürt. Ich lasse auch den Aspekt der Geschwisterrivalitäten beseite, die aus der Kindheit stammen und bei Erbstreitigkeiten heftig aufbrechen können. Ich möchte hier auf einen anderen Gesichtspunkt hinweisen.

Ein Erbe zu bekommen, sollte eigentlich als Geschenk empfunden werden: Wir haben, was wir haben, und bekommen ohne weitere Leistung etwas dazu. Ein Erbe haben wir uns nicht verdient (außer wir verstehen uns als haupt- oder nebenberufliche Erbschleicher). Jedenfalls sollten wir unser Leben nicht darauf ausrichten, irgendwann ein Erbe zu bekommen, weil wir dabei auf den Tod einer Person spekulieren.

Erben ist mit dem Tod verbunden. Jemand stirbt und hinterlässt seine Güter. Wenn jemand in unserer Umgebung stirbt, werden wir an unsere eigene Endlichkeit erinnert, und das macht uns Angst. Um diese Angst, die uns meist nicht bewusst ist, zu bewältigen, wollen wir uns die Güter der verblichenen Person sichern. Dinge geben Sicherheit, je mehr davon, desto mehr Sicherheit, je weniger davon, desto mehr Angst. Darum streiten wir, oft mit den unfairsten Mitteln und mit gieriger Zähigkeit, möglichst viel für uns aus dem Kuchen herauszuschlagen. Wir wollen aus dem Tod einer Person möglichst viel Leben für uns herausschlagen.

Natürlich ist die Hoffnung illusorisch, durch möglichst viel Haben mehr Leben zu sichern und den Tod zu besiegen. Wir können uns eben nichts mitnehmen, wenn wir dran sind zu gehen, soviel auch immer wir angehäuft haben. Vielleicht können wir den Zeitpunkt des Todes hinauszögern, wenn wir mehr Reichtum auf der Seite haben: Reiche leben länger als Arme, das weiß auch die Statistik. (Eine Reise vom 1. Wiener Bezirk in den 15., Dauer 10 Minuten mit der U-Bahn, also von einem reichen zu einem armen Bezirk, ist auch eine Reise von hoher zu wesentlich geringerer Lebenserwartung.) Aber früher oder später müssen auch die Reichen das Zeitliche segnen, das wissen wir spätestens seit dem Jedermann.

Es ist also unsere eigene Endlichkeit, an die wir erinnert werden, wenn jemand stirbt. Und diese Erinnerung wird an das Dingliche geknüpft, wenn wir eine Erbschaft machen. Unser Unbewusstes versucht, sich vor dem Grauen des eigenen Endes zu schützen, indem es uns auffordert, möglichst viel aus der Verlassenschaft der verstorbenen Person auf unsere Seite zu bringen. Wir können uns dann ganz auf das konzentrieren, was wir besitzen, damit haben wir genug zu tun und müssen nicht an den eigenen Tod denken.

Die Endgültigkeit des Todes spiegelt sich in der Endgültigkeit einer Erbverhandlung. Wenn die Entscheidung gefallen ist, ist sie endgültig. Deshalb müssen wir gleich mit voller Vehemenz auftreten, um unseren Anteil an der Hinterlassenschaft zu reklamieren. Mit der Abhandlung des Erbes akzeptieren wir auch den Tod der verstorbenen Person endgültig. Doch geht das leicht unter, wenn wir bei der Aufteilung des Erbes unsere Gier befriedigen.

Die Endgültigkeit, die uns immense Angst verursacht, spielt also hinter den Kulissen die eigentliche Regie, wenn Erbstreitigkeiten ausbrechen. So erfinden wir immer wieder Ablenkungen vor der Radikalität des Lebensendes. Unsere Gier nach Gütern und Besitzobjekten ist eine von vielen. Je mehr wir diese Ablenkungen durchschauen, desto weniger binden wir uns an Dinge und gewinnen den inneren Freiraum für das, was hinter den Dingen liegt.