Die Liebe ist ein zentrales Wort im menschlichen Sprachschatz, weil es etwas ganz Wesentliches bezeichnet. Wir sind eine zutiefst sozial ausgerichtete Spezies, für die das Zusammensein und der Austausch mit unseren Artgenossen (neben der Sicherung des individuellen Wohlseins) überlebensnotwendig ist. Wenn die Liebe zwischen den Menschen herrscht, ist das soziale Leben gesichert, fehlt sie, steht es in Gefahr. Ist der Zusammenhalt mit den Mitmenschen bedroht, so ist auch das individuelle Überleben bedroht. Das Ausmaß an sozialer Sicherheit kann daran abgelesen werden, wie viel Liebe herrscht.
Gemeinhin wenden wir das Wort Liebe auf Beziehungen an,
vorrangig auf solche, die mit Romantik und Sexualität zu tun haben. Darüber
hinaus gibt es die Mutter- und Vaterliebe, also die Liebe zwischen Eltern und
Kindern, die zwischen Geschwistern usw., die Liebe in den familialen
Zusammenhängen. Dünner wird die Liebe, die über den engen Familienkreis
hinausgeht und sich z.B. auf Freunde, Bekannte und Nachbarn erstreckt. Erst recht abstrakt wird
die Liebe, wenn sie auf Großgebilde bezogen ist wie z.B. die Vaterlandsliebe. Schließlich
vertreten einige Religionen einen noch weiteren Begriff, indem sie von der Feindes-
und Nächstenliebe oder vom liebevollen Mitgefühl mit allen Lebewesen sprechen.
All diese Felder der Liebe sind durch Zerbrechlichkeit und Störungsanfälligkeit
gekennzeichnet. Die Liebe kommt, die Liebe geht, so heißt es im Schlager. Kleine
Verschiebungen in den Stimmungen, missverständliche Worte, missglückte
Gespräche – und schon ist die Liebe weg, und die Betroffenen ziehen sich zurück
auf ihre individuelle Überlebenssicherung, um zu retten, was noch zu retten
ist. Schnell verdrängt die Angst die Liebe, und nur langsam baut sich die Liebe
wieder auf, sobald die Angst bereit ist, sich zurückzuziehen. Es ist eine
zerbrechliche Liebe, die sofort in andere Gefühle umschlägt, wenn etwas
geschieht, das in ihrem Rahmen nicht Platz findet.
Diese Liebe ist eng mit Erwartungen verknüpft und mit Bildern
und Fantasien aufgeladen. Sie hat gewissermaßen verzerrende Brillen auf, die
manches überscharf zeichnen und anderes ausblenden. Diese Filter in der
Liebeswahrnehmung bewirken, dass wir die Liebe oft nur in einer bestimmten
Gestalt erkennen und sie vermissen, wenn sie auf eine Weise daherkommt, die unseren
Erwartungsmustern nicht entspricht. Wir fühlen uns nur geliebt, wenn uns die
Liebe so entgegengebracht wird, wie wir es aufgrund von früheren Erfahrungen,
medial genormten Symbolen und romantischen Schwärmereien erwarten.
Die Liebe im Dunstkreis des Egos
Das Hauptkriterium für ein gelungenes Leben wird durch ein
zureichendes Maß an Geliebtwerden festgelegt, also an der Menge an Liebe, die
wir bekommen. Ist dieses Maß erfüllt, so werden alle anderen Bedürfnisse
nebensächlich. Die Liebe zeigt sich als die universelle Form der
Bedürfnisbefriedigung: Wenn wir sie ausreichend bekommen, ist alles gut; wenn
sie uns fehlt, macht das Leben plötzlich keinen Sinn mehr und wir können ins
Bodenlose abstürzen. Wir merken dann, dass wir das eigene Schicksal mit dem Geliebtwerden
verknüpft haben.
Wir alle kennen diese Form der Liebe, die nach den
Vorstellungen unseres Egos geschneidert ist. Emotional ist sie hoch aufgeladen,
weil sie aus unseren Überlebensmustern geformt ist. Denn unerfüllte Bedürfnisse
aus der Kindheit spielen In ihr die Hauptrolle. Sie ist in ihren
Wirkmöglichkeiten durch Konzepte und Überlieferungen über das eingeschränkt,
was Liebe sein könnte oder sollte. Aufgrund der Enge und Instabilität der Vorstellungen
von der „wahren“ Liebe kommt es auf dieser Ebene immer wieder zu
Unterbrechungen und Abstürzen, zu Verletzungen, Traumatisierungen und Dramen.
All diese schmerzhaften Phänomene sind Beispiele für den Verlust der Verbindung
mit der unbedingten oder großen Form der Liebe.
Die Liebe beginnt mit dem Geben.
Den engen Rahmen dieser bedingten Liebe überschreiten wir,
wenn wir erkennen, dass Liebe zuerst nicht etwas ist, das wir entweder bekommen
oder das uns vorenthalten wird, sondern etwas, das wir in uns haben, um es
weiterzugeben. Die Liebe entsteht nicht im Empfangen, sondern im Geben. Der
Glaube, dass wir zuerst einmal Liebe bekommen müssen, bevor wir sie geben
können, ist die Folge von Kindheitserfahrungen mit einer Liebe, die nur unter Bedingungen
gegeben wurde: Wenn du dich brav verhältst, wirst du geliebt, sonst nicht. Du
bekommst also die Liebe, wenn du unsere Erwartungen erfüllst, so lautet die explizite
oder implizite Botschaft mancher Eltern. Dass Kinder von sich aus, sobald sie
am Leben sind, Liebe geben, wissen sie nicht, wenn sie dafür keine
Rückmeldungen bekommen. Indem die Eltern ihre Liebe an Erwartungen und
Bedingungen binden, lernt das Kind, dass es keine unbedingte Liebe gibt und
dass das, was es selbst gibt und geben kann, unbedeutend und wertlos ist. Es hat
also nichts zu geben, und bekommen kann es nur dann, wenn es sich durch ein
bestimmtes Verhalten, durch eine Form der Gefühlsregulation und
Frustrationstoleranz dieser Liebe als würdig erweisen. Die Eltern signalisieren
auf diese Weise, dass die Liebe ein knappes Gut ist, das nur unter Umständen
gegeben wird, nämlich dann, wenn es sich das Kind durch Anstrengung und
Anpassung verdient. Unschwer ist zu erkennen, dass sich auf diese Weise die Grundlagen
des Kapitalismus in die Liebesdinge eingemischt haben. Bis zur käuflichen Liebe
ist es dann nicht mehr weit.
Die universelle Liebe
Die herkömmlichen Begriffe von Liebe sind also geprägt von
der persönlichen Lebensgeschichte sowie von den ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen.
Sie tragen unsere Hoffnungen und Ängste in sich, sind durchzogen von Illusionen
und Traumelementen und ziehen einen Rattenschwanz an Enttäuschungen und
Verletzungen nach sich. Das kann doch nicht alles sein, was die Liebe zu bieten
hat!
Wir haben die Fähigkeit, aus diesen vorgeprägten, von
Ängsten und Verletzungen eingeschränkten Konzepten der Liebe herauszutreten und
den Schritt in einen größeren Rahmen zu wagen. Dabei stellen wir all die
Vorstellungen von Liebe, die wir schon kennen, bewusst beiseite und öffnen uns
für die Weite des Lebens und des Universums, die über das Menschliche und
Allzu-Menschliche hinausgeht. Mit diesem Schritt in die Transzendenz gelangen
wir zu einem Verständnis von Liebe als Kraft, die alles zusammenhält und
verbindet. Davon ist das, was wir als menschliche Liebe kennen und verstehen, nur
ein winziger Ausschnitt, und die Probleme, die uns da begegnen, schrumpfen aus
dieser Sicht wie von selbst. Denn diese Perspektive erkennt alles, was
geschieht, als eine Ausdrucksform der Liebe. In irgendeiner, oft
geheimnisvollen Weise wirkt eine Macht, die allem Existierenden Zusammenhang,
Sinn und Bedeutung gibt. Wir verstehen dieses Wirken mit unserem kleinen Geist oft
nicht, denn dieser kennt nur seine engen Bahnen, auf denen er sich gern im
Kreis dreht. Auch wenn wir den großen Geist nur ansatzweise fassen können, ist
es uns möglich, den verheißungsvollen Geschmack, die freie Schwingung der von
ihm getragenen Liebe zu erahnen und uns ihr anzuvertrauen.
Die heilende Kraft der großen Liebe
Die universelle Liebe, die wir in diesem geheimnisvollen Rahmen
kennenlernen, wirkt nicht nur verbindend und Zusammengehörigkeit geben. Sie
enthält auch eine Kraft der Verwandlung und der Heilung. Entwicklung heißt die
Veränderung des Bestehenden, und die Kraft der Liebe steht hinter jeder
Entwicklung, mit der das Leben weiterwächst, und befördert und bereichert sie. Diese Liebe bejaht alles, was das Leben
hervorbringt. In dieser bedingungslosen Affirmation steckt ihr immenses
Heilpotenzial.
Wir erkennen das unmittelbar Hilfreiche dieser Form der
Liebe, wenn es darum geht, mit Verletzungen und Verstörungen, die durch
Liebesmangel, Liebesentzug oder Liebesverlust entstanden sind, ins Reine zu
kommen. Viele Menschen hatten ganz widrige Umstände zu bewältigen, in denen das
Vertrauen in die Liebe geschwächt wurde. Wer als Kind von den Eltern nicht
gewollt war, spürt das fehlende Willkommen und die Ablehnung der eigenen
Existenz als schwere Last und tiefes Leid. Wird aber verstanden, dass es auf
einer anderen Ebene das Leben war, das das eigene Dasein gewollt und willkommen
geheißen hat, dann wird spürbar, dass eine überpersönliche Liebe am Wirken ist,
die stärker ist als das, was die Menschen wollen oder ablehnen. Es fällt
leichter, das eigene Leben besser annehmen zu können, wenn bewusst wird, dass
es ein unbedingtes Ja gibt, das aus der Urquelle des Lebens stammt und viel
viel mächtiger ist als ein Nein der überforderten, ängstlichen und unreifen Eltern.
Dieses Ja soll in allen Ecken und Winkeln der Seele vernommen und in jeder
Zelle verspürt werden, bis es sich tief verankert hat. Dann fällt es leichter,
den Eltern ihre Schwächen und ihr Versagen zu verzeihen und mit ihnen in
Frieden zu kommen.
Die unbedingte und weite Liebe nährt alle Formen der kleinen
und bedingten Liebe. Sie möchte sich immer zu Gehör bringen, wenn sich die
kleine Liebe in den Ränken des Egos und den Schattenseiten der Persönlichkeit verloren
hat. Denn allzu schnell versiegt und versickert sie, wenn sie nur auf sich
selber gestellt ist. Aber die Rückverbindung an die Urquelle der Liebe in der
universellen Lebenskraft lässt sie immer wieder aufblühen und Frucht bringen. Es
ist die Erinnerung daran, wer wir in Wirklichkeit sind: Geschöpfe der
universellen Liebe, begabt mit einer Liebeskraft, die aus den tiefsten Wurzeln
des Seins fließt.
Zum Weiterlesen:
Die große und die kleine Liebe
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