In den niederösterreichischen Schulen soll es Kindern hinkünftig verboten werden, in den Pausen ihre Muttersprache zu sprechen, wenn diese nicht die deutsche ist. In Oberösterreich gibt es diese Bestimmung schon seit 2015, also seit es dort eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ in der Landesregierung gibt.
Was ist die offizielle Begründung für diese
Maßnahme? Die Kinder sollen sich verstehen und nicht wegen unterschiedlicher
Sprachen aneinander vorbeireden. Es wird befürchtet, dass in der fremden
Sprache schlecht über andere geredet wird, ohne dass es von den anderen
verstanden wird. Schließlich sei es „unhöflich“, nicht Deutsch zu reden.
Beschämung als Mittel zur Durchsetzung der Kulturdominanz
Außerdem wird behauptet, dass Kinder mit
anderer Muttersprache dadurch besser die deutsche Sprache lernen. Sie brauchen
ja in unserem Land nur die deutsche Sprache, und darum sollen sie sich in
dieser so viel ausdrücken wie nur möglich. Diese Argumente sind allerdings
unbegründet. Die Erkenntnisse der linguistischen und pädagogischen
Wissenschaften sind eindeutig: Erstsprachverbote und Deutschsprechgebote
erreichen keine positiven Ziele. Sie verbessern nicht die Sprachkompetenz in
der deutschen Sprache. Vielmehr wirken sie auf der sozialen Ebene katastrophal.
Statt zu „integrieren“, wie behauptet wird, wird die Segregation verstärkt und
vertieft. Es wird so getan, als gäbe es eine gute und eine schlechte Sprache,
eine Sprache, die alle sprechen müssen, und eine, die verboten ist, weil sie
weniger wert ist. Wer Deutsch nicht als Muttersprache hat, spricht eine
schlechte Sprache und sollte sich dafür schämen. Das ist die Botschaft, die mit
dem Sprach-Ge- und Verbot an Kinder vermittelt wird.
Kinder mit Migrationshintergrund leiden
ohnehin an vielfachen Schambelastungen. Sie befinden sich in einem fremden Land
mit einer fremden Kultur, zu der sie in den meisten Fällen gehören wollen, es
aber nie ganz schaffen, weil sie eben aus einer anderen Kultur stammen. Viele Angehörige
der Mehrheitskultur kehren immer wieder hervor, oft in kleinen oder kaum
wahrnehmbaren Dosen, dass sie „das Sagen“ haben und dass sie das Fremde als
minderwertig oder als bedrohlich einschätzen. Diese Ressentiments sind der
Treibstoff hinter den Forderungen, die dann von politischen Parteien
aufgegriffen werden. Denen geht es nicht um Verbesserungen im Schulalltag oder
um die Verständigung unter den Kindern – die können sich das schon unter sich
ausmachen. Es geht ihnen darum, Vorurteile und Ängste zu schüren und damit
Wählerstimmen zu gewinnen.
Was durch solche Maßnahmen passiert ist,
dass das Sprechen in der Muttersprache mit Scham beladen wird. Damit geraten
die betroffenen Kinder in eine Zwickmühle. Ihre grundlegende kulturelle
Identität ist durch ihre Herkunftskultur geprägt. Sie passen sich an die neue
Kultur an und leben sich in sie ein. Wird aber die ursprüngliche Kultur
abgelehnt oder als minderwertig eingestuft, entsteht ein innerer Konflikt, der
mit Scham behaftet ist. Das, was einem immer am nächsten liegt und am tiefsten prägt,
die eigene Wurzelkultur, muss zurückgestuft werden, um in der neuen Kultur
akzeptiert zu werden und einen sicheren Platz zu bekommen. Wird die Forderung
der Mehrheitskultur, die eigene Herkunftskultur abzuwerten, übernommen, so kommt
es zur Selbstverleugnung, zum Abschneiden von den eigenen Wurzeln.
Anpassung durch Beschämung und das Fördern von Aggressionen
Durch solche politische Interventionen wird
bei den Betroffenen eine innere Zwietracht gesät. Statt Integration kommt es
zur erzwungenen Anpassung mit Hilfe von Beschämung. Es werden Spannungsfelder in
den pädagogischen Bereich hineingetragen, an denen dann alle leiden, die Deutsch-Erstsprachlicher
wie die Deutsch-Zweitsprachler, sowie die Pädagoginnen und Pädagogen, die die
Ge- und Verbote umsetzen sollen. Irgendwo anders reiben sich Politiker die
Hände, weil ihre Umfragewerte steigen.
In solchen Dynamiken, die mit Unterdrückung
und Beschämung zu tun haben, ist immer auch ein Wut- und Aggressionspotenzial
enthalten. Es kann bei den Betroffenen nach innen gehen und zu
Selbstaggressionen oder Depressionen führen, es kann sich im Schulalltag
entladen oder später in die Aggression gegen Zuzügler münden, von denen man
befürchtet, dass sie einem wegnehmen, was man selber mühsam an Anpassung und Einpassung
in die Mehrheitskultur errungen hat.
Das verordnete Abschneiden der Wurzeln
Wenn zwei Kinder in der Pause, während sie
ihre Jause essen, miteinander in der gemeinsamen Muttersprache reden, beleben
sie ein Stück Heimat und erinnern an die eigene Herkunft. Meist ist es so, dass
es in der Muttersprache leichter fällt, über Gefühle zu reden, also über das,
was einen im Inneren bewegt. Diese wichtigen Elemente der emotionalen
Kommunikation sollen verpönt und verboten werden.
Man stelle sich die Lehrperson vor, die zu
zwei Kindern geht, die gerade miteinander Türkisch oder Bosnisch oder Englisch
reden, und sie zum Deutschreden ermahnt. Die Kinder werden aus ihrer Welt
herausgerissen, in der sie gerade eine emotionale Brücke zueinander und zur
eigenen Herkunft geschlagen haben. Die Beziehung zu den Wurzeln, die in der
Muttersprache angelegt sind, wird gewaltsam unterbrochen. Eine Schamschranke
entsteht, die das Verwenden des ureigensten Ausdrucksmittel, der Sprache der
Mutter, mit einem Makel behaftet. Klarerweise ist damit auch die eigene
Herkunft, die Kultur der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern mit einem Makel
und einem Schamgefühl behaftet.
Statt beide Kulturen, die Herkunftskultur
und die Ankunftskultur, miteinander zu verbinden und zu integrieren, entsteht
ein Spalt zwischen zwei unversöhnlichen Polen im eigenen Inneren. Die Herkunft
zu verleugnen, wie es im Sprechverbot verlangt wird, bewirkt eine innere
Spaltung. Denn die Herkunft bleibt die Herkunft, gleich ob sie akzeptiert und
geschätzt wird oder abgelehnt und abgewertet werden muss. Die eigenen Wurzeln sind
immer wirksam und prägen die tiefste Schicht der eigenen Existenz.
Jede Form einer befohlenen Entwurzelung
kann nur auf einer Oberfläche erfolgreich sein, als bewusst vollzogene und
erzwungene Anpassung auf der Grundlage der Selbstverleugnung. Mit Maßnahmen wie
der oben erwähnten werden bei einer großen Gruppe von Menschen Schamgefühle,
Unsicherheiten und Verletzungen erzeugt (betroffen sind ja nicht nur die Kinder,
sondern auch ihre Eltern und Verwandten und dazu noch die anderen Kinder, die
indirekt an der Ausgrenzung und Stigmatisierung leiden, die sie mitverfolgen). Es
sind Maßnahmen, die Probleme erzeugen und nicht lösen.
Dazu kommt das Säen von Misstrauen. Wer Kindern
unterstellt, dass sie schlecht über andere reden, bloß weil man sie nicht
versteht, vertritt keine pädagogische Haltung und ist im Lehrberuf am falschen
Platz. Lehren und Lernen kann nur in einer Atmosphäre von Vertrauen und
gegenseitigem Respekt gedeihen. Schlecht geredet wird nur dort, wo Schlechtes
geschieht.
Ein Armutszeugnis für die Mehrheitskultur
Es ist ein geistiges und moralisches Armutszeugnis
für eine Mehrheitskultur, wenn sie den Minderheitenkulturen solche unsinnige
und grundlose Verbote auferlegt. Die Regie dabei führen Ideologien, die
wiederum auf irrationalen Ängsten beruhen. Wieviel Angst und Misstrauen wird durch
solche Vorhaben öffentlich von denen, die sie propagieren, einbekannt, wieviel
Kleingeist und wieviel Boshaftigkeit wird in solchen Maßnahmen offenbar – eine
Schande für eine europäische Demokratie im 21. Jahrhundert, insbesondere
angesichts der wirklichen Probleme und Herausforderungen, die gemeistert werden
müssen.
Der Reichtum, der in jeder Zweisprachigkeit
liegt, die sprachliche Intelligenz, die von früh an geübt wird und später das
Erlernen weiterer Fremdsprachen erleichtert, kann nicht überschätzt werden. Jeder,
der als Erwachsener eine Sprache lernt, weiß, wie schwierig und zeitaufwändig
es ist und bewundert die Kleinen, die in Sprachen hineinwachsen, ohne jede
Lernanstrengung. Jeder, der versucht, in eine andere Kultur hineinzuwachsen,
weiß, wie mühsam das ist. Kinder mit einem intuitiven Verständnis für
unterschiedliche Kulturen verfügen über viel mehr Flexibilität und können
deshalb kreativer mit Unterschieden umgehen.
Die Aufgaben, vor denen wir heute als
Gesellschaft stehen, sind sämtlich globaler Natur. Sie können nur bewältigt
werden, wenn die Menschheit zusammenarbeitet. Personen, die über eine Mutter-
und eine Zweitsprache verfügen, tragen zwei Kulturen in sich und verfügen damit
über wichtige Voraussetzungen nicht nur für die Verständigung zwischen
unterschiedlichen Kulturen, sondern auch für einen globaleren Horizont des Wahrnehmens
und Denkens. Die Proponenten von Sprechverboten hingegen repräsentieren den
Geist der Beschränktheit und Kurzsichtigkeit, der Kontrolle, Besserwisserei und
Überwachung. Auch wenn sie für solche Maßnahmen den Applaus und die
Wählerstimme von manchen bekommen, stehen sie längerfristig auf verlorenem Posten,
denn all die Energie, die in solche Vorhaben geht, fehlt bei der Bewältigung
der Klimakrise oder des sozialen Ausgleichs.
Pausensprache deutsch - ein pädagogischer Unsinn
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