Böses zu tun, um Gutes zu bewirken, kommt in jeder Strafe vor. Das Gute, falls es wirklich dazu kommt, ist in der Folge untrennbar vom Schatten des Bösen belastet. Kinder, die bestraft werden, nehmen die Strafe als böse war, als etwas, das sie verletzt und beschämt. Das ist ja auch der Sinn der Strafe – sie soll schmerzhaft und nicht angenehm spürbar sein, um eine Wirkung zu erzielen. Eine Woche Hausarrest ist keine Strafe für ein Kind, das ohnehin nie draußen spielen will. Eine Woche Handyverbot schmerzt hingegen ein Kind, das glaubt, ohne das Gerät nicht mehr leben zu können.
Für das Opfer der Strafe ist auch die bestrafende Person im Moment der Frustration böse. Allerdings ziehen vor allem kleine Kinder in der Folge den Schluss, dass sie selbst die Bösen sind, wenn sie bestraft werden, auch und gerade wenn sie den Sinn der Strafe nicht nachvollziehen können, weil sie nicht verstehen, was sie falsch gemacht haben. Da sie aber die Erwachsenen nicht ohne Grund für klüger halten als sie selbst, nehmen sie an, dass die Eltern schon einen Grund haben werden, warum sie das Kind bestrafen. Oft rechtfertigen Erwachsene die Strafen, die sie als Kinder erhalten haben, damit, dass es die Eltern gutgemeint hätten, und tun sich schwer, etwas Unangemessenes an der Strafe zu finden. Sie nehmen also die Eltern in Schutz, weil sie als Kinder gelernt haben, dass ein Aufbegehren gegen die Strafe sinnlos ist und zu weiteren Strafen oder zu Liebensverlust führt.
„Aus Liebe spare nicht mit der Rute.“
Aus dem Alten Testament stammt ein Zitat, das die Pädagogik in Richtung Gewalt beeinflusst hat: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Spr 13,24) In alten patriarchalen Kulturen war es Usus, vor allem Knaben mit Gewalt zu bestrafen – aus diesem Hintergrund stammt dieses Zitats. Die Buben sollten für das Aushalten von Schmerz und für die bedingungslose Unterordnung unter eine Autorität trainiert werden; ihren Hass und ihre Aggressivität als Folge der Demütigung durch die Bestrafung sollten sie im Krieg und gegenüber Frauen ausleben dürfen. Doch bis heute berufen sich evangelikale Kreise in den USA auf diese Formel und praktizieren sie. In der Folge lernen die Kinder, autoritätshörig zu werden und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen zu bejahen, womit sie dann als Erwachsene in rechten und rechtsextremen Parteien ihre politische Orientierung finden.
Formung von Autoritätshörigkeit und Hassprojektion
Wohl kann dieses Zitat aus der Bibel frei so übersetzt werden, dass es zur Liebe zu einem Kind gehört, ihm Grenzen zu setzen und zur Formung von Disziplin und Selbstdisziplin anzuleiten. Allerdings steckt im Wort der Züchtigung die Zucht, also das willkürliche und u. U. gewaltvolle Anpassen von anderen, im Sinn von: Du musst dich nach meinen Erwartungen richten und sollst dich so verhalten, wie ich es will. Der Wille der anderen Person wird übergangen und, vor allem, wenn Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Vorstellung angewendet wird, gebrochen. Das Kind leidet unter der Gewalt, und oft wird ihm zusätzlich noch das Ausdrücken des Leides verboten und aberzogen. Damit wird auch eine Grundlage dazu bereitet, dass später die unterdrückten Gefühlen nach außen projiziert werden, weil sie kein anderes Ventil finden – Hass gegen Minderheiten, Schwächere, Leidende. Das Wählerreservoir für rechte Parteien wird aus Menschen mit solchen Lebensgeschichten gespeist.
Politiker, die mit dieser Masche Propaganda betreiben, appellieren an Menschen, die den Zusammenhang von bösen Mitteln für einen (vermeintlich) guten Zweck in ihrer Kindheit eingeprägt haben, und die gelernt haben, ihn mit liebevoller Erziehung zu verwechseln. Solche Politiker präsentieren sich als Bösewichter gegenüber Feinden oder Feindbildern und als liebevolle Menschen gegenüber jenen, die sie verehren und ihnen folgen. Sie werden von Menschen bewundert, die aus ihrer Kindheit beides kennen: Eltern, die gleichermaßen böse und liebevoll sind, die es aber verstanden haben, ihr Böses als Ausdruck von Liebe zu tarnen.
Besserwissen ohne Beschämung
Es ist nicht böse sondern oft notwendig, wenn Eltern ihren Kindern Grenzen setzen, auch wenn sich diese dadurch verletzt fühlen und die Eltern spontan als Bösewichter empfinden. Wenn die Eltern aber die Verletzung, die sie dem Kind mit einem Verbot oder einem Verzicht zumuten, ignorieren oder zusätzlich noch abwerten („Führ dich nicht so auf!“) oder bestrafen („Wenn du so schreist, mag ich dich nicht mehr.“), dann muss das Kind lernen, seine Verletzung zu vergraben und sich zu fügen. Das Böse, das ihm angetan wurde, darf nicht böse sein. Die Eltern stehen als die Guten da, die nur das Beste des Kindes im Auge haben, nach dem Motto, dass der Zweck das Mittel heiligt, und an diesem (Schein-)Heiligenschein darf nicht gerüttelt werden.
Achten die Eltern hingegen die Gefühle und die Interessen des Kindes, ohne dass sie sich ihnen unterordnen, dann lernt das Kind, dass es frustriert sein darf und dass es diese Gefühle frei ausdrücken darf. Die Gefühle gehen nach einiger Zeit vorüber, ohne dass die Liebe der Eltern unterbrochen wird. Das Kind hat die Chance zu erkennen, dass es mit der Grenze, die ihm von den Eltern auferlegt wurde, leben kann und dass es nicht darunter leiden muss. In dem Maß, wie der Wille des Kindes respektiert wird, erlernt es den Respekt für den Willen der Erwachsenen. Erziehung gelingt in dem Maß, in dem die Liebesbeziehung zwischen den Eltern und dem Kind auch in Konfliktsituationen aufrecht bleiben kann und Frustrationen aushalten kann. Das Erlernen von Frustrationen ist ein wichtiger Schritt im emotionalen Reifungsprozess.
Zum Weiterlesen:
Die vielen Guten und die wenigen Bösen
Moralischer Fortschritt
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