In diesen Tagen ist es fast unmöglich, irgendein Nachrichtenmedium zu konsumieren, ohne einer personifizierten Unverschämtheit in der einen oder anderen Form zu begegnen. Zur Unverschämtheit gehört es, sich ins Rampenlicht zu stehen, um von allen Beachtung und Bewunderung zu bekommen. Viele von ihnen erlauben sich jede Frechheit und Dreistigkeit und leben ungehemmt ihre Egoismen aus.
Im Schatten sitzen die Verschämten, die sich das Schauspiel der Unverschämten mit Verachtung und manchmal mit heimlichem Genuss geben. Sie spüren die Verachtung der Unverschämten für Ihresgleichen und geben mit gleicher Münze ihre moralisch aufgeladene Verachtung zurück: Wir sind die Guten und ihr seid die Schlechten, Üblen und Bösen. Wir sind zwar machtlos und schwach, aber haben die Moral auf unserer Seite und hoffen, dass sie letzten Endes den Sieg über die Unmoral davonträgt.
Die Dynamik der Verachtung zwischen den Unverschämten und den Verschämten
Jede Verachtung stammt aus dem Gefühl der Unterlegenheit, von dem die Verschämten wie die Unverschämten gleichermaßen betroffen sind. Die Verachtung entzieht ihrem Objekt die Achtung, also die Menschenwürde, und kann deshalb eine überlegene Position einnehmen, sodass sie vor ihm keine Angst mehr zu haben braucht. Sie benötigt also ihr Objekt, um aus einer angst- und schambesetzten Schwächeposition herauszukommen.
Die Unverschämten verachten die Schwachen, weil diese sich alles gefallen lassen und mit ihrem geheuchelten Gutmenschentum ihre Feigheit kaschieren. Sie sind es, die das Schlechte in der Welt am Leben halten statt es abzuschaffen oder zu zerstören. Die Verschämten verachten die Starken und Mächtigen, weil es denen an Moral fehlt. Durch den Mangel an Menschlichkeit und Empathie sind sie so hoch hinausgekommen und haben nun so viele Möglichkeiten für Unterdrückung und Korruption; dafür können und dürfen sie nicht geachtet werden.
Schließlich verachten sich beide Seiten wegen ihrer Verachtung. Die Verschämten spüren die Verachtung, die ihnen die Schamlosen entgegenbringen, und verachten sie deshalb zusätzlich. Die Unverschämten nehmen die abwertenden und missbilligenden Reaktionen der Verschämten wahr, was sie mit der Verstärkung der Verachtung quittieren. Die Verachtung der Gegenposition trifft auf einen eigenen wunden Punkt, dessen Aktivierung durch die erwiderte Verachtung verhindert wird. Mit der Potenzierung der Verachtung, die in dieser Dynamik abläuft, zementiert sich jede Seite in der eigenen Sichtweise und Erlebenswelt ein.
Als Folge kommt es zur Vertiefung von gesellschaftlichen Spaltungen. Dem blanken Egoismus und steht ein naiver Altruismus gegenüber. Beide starren wechselseitig auf die jeweiligen Mängel im Gegenüber und meinen, dass die Welt nur besser werden könne, wenn sich die Anderen ändern und das eigene Muster übernehmen.
Tatsächlich ist es so, dass sich beide Seiten brauchen, um in der eigenen Position verharren und sich selbst bestätigen zu können. Ohne Verschämte hätten die Unverschämten niemanden zum Unterdrücken und Manipulieren; ohne Unverschämte verlören die Verschämten ihre moralische Überlegenheit und ihr rechthaberischer Pathos ginge ins Leere.
Beide Positionen sind zusätzlich durch einen wechselseitigen Neid miteinander verbunden. Die Einen schielen auf die Moral, an der es ihnen mangelt, die Anderen auf die Durchsetzungskraft, die sie sich nicht zutrauen.
Die Verschämten wissen um ihre Schwächen und unterschätzen ihre Stärken. Bei den Unverschämten ist es genau umgekehrt. Die Verschämten suchen viel leichter Hilfe und Unterstützung, weil sie stärker an ihrem Mangel leiden. Viele nehmen z.B. Therapien in Anspruch oder besuchen Selbsterfahrungsgruppen, weil sie aus ihrer Schambelastung herauskommen wollen. Die Unverschämten dagegen sonnen sich in ihrem Narzissmus und sehen die Schwächen nur bei den anderen. Also brauchen sie nicht an sich arbeiten.
Der Ausweg aus den Rollenfixierungen
Die Verschämten, die sich von ihrer Schamlast befreit haben, können aus der Rolle als Gegenspieler zu den Unverschämten heraustreten, was auch für die vermutlich weniger zahlreichen Unverschämten gilt, die sich ihrem Muster stellen und es durchschauen und ablegen können. Der nächste Schritt besteht darin, die Verachtung, die der jeweiligen Position innewohnt, zu erkennen und loszulassen. Die Verschämten können dann das, was sie an den Unverschämten heimlich bewundert haben: Selber unverschämt, d.h. egoistisch zu sein, wenn es notwendig ist. Statt immer nachzugeben oder sich alles gefallen zu lassen, beginnen sie sich zu wehren und ihre Bedürfnisse und Ansprüche einzufordern. Die Unverschämten lernen ihre Scham kennen und finden einen Weg, um sich dem Mitgefühl zu öffnen.
Wo immer es gelingt, das eigene Muster aufzubrechen, wird die Gesellschaft offener und toleranter. Statt sich aufheizender Konfliktlinien entstehen Felder des Verständnisses und der Entspannung.
Analyse & Synthese.
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SPANNUNGSLOSER ZUSTAND.
Klaus, 64+,
unverschämt Verschämter