Nichts stört die Unverschämten mehr als eine übergeordnete Kontrolle. Sie können ihr Muster am besten ausspielen, wenn ihrem Machtstreben kein Widerstand entgegensteht. Im Wesen der Unverschämtheit liegt es, die eigenen Grenzen immer weiter auszudehnen, gleich ob dies auf Kosten der anderen geht. Macht will weiterwuchern, bis sie auf eine Gegenmacht stößt, die ihr Einhalt gebietet. In der Demokratie gibt es institutionalisierte Grenzen für die Machtausübung von Einzelpersonen und Gruppen: Wahlen, begrenzte Funktionsperioden, Kontrollen für das Wirtschaften der öffentlichen Hand, parlamentarische Willensbildung, Antikorruptionsbehörden, unabhängige Medien usw. In einer funktionierenden Demokratie wird jede Unverschämtheit irgendwann publik und ist dann Gegenstand von öffentlicher Beschämung.
Deshalb versuchen unverschämte Politiker, sobald sie an die Macht gekommen sind, die Demokratie zu unterlaufen oder ihre Kontrollmechanismen abzubauen. Die antidemokratische Zerstörungswut kann so weit gehen, dass Gesetze und richterliche Anordnungen ignoriert werden, dass Notstandsgesetze ohne Not aktiviert werden, dass freie Medien verboten werden usw. Auf diese Weise soll die Spielwiese erhalten bleiben, auf der sich ihre Unverschämtheit austoben kann.
Die Verschämten als Spielbälle der Unverschämten
Insgeheim (manchmal auch offen) verachten die Unverschämten die Demokratie, weil dieses System dem Ausufern der Macht Grenzen setzt. Sie sind dermaßen überzeugt von ihrer Mission, dass ihnen jede Kontrolle als Bosheit erscheint. Sie meinen generell, dass die Verschämten in diesem System ihre Macht auf Kosten der Unverschämten ausüben können. Sie nehmen an, dass die minderbemittelten Leute ihre Schwächen durch ein Regierungssystem kompensieren wollen, das die „Schwachen“ auf Kosten der „Starken“ bevorzugt. Sie setzen Unverschämtheit mit Stärke gleich und geben sich das Recht, die Schwachen für ihre Zwecke auszunutzen. Sie brauchen sie, um in der Demokratie an die Macht zu kommen und dann ihre Politik verfolgen zu können, die sich einen Deut um die verachteten „Schwachen“ kümmert.
Irgendwann merken die Verschämten das Spiel, das mit ihnen gespielt wurde. Dann wenden sie sich ab und schämen sich für die eigene Blindheit. Aber, solange sie von ihrer Scham beherrscht bleiben, suchen sie nur die nächste unverschämte Person, der sie nachlaufen, weil sie sich von ihr die Rettung und Erlösung erhoffen. Die vorgespielte Stärke der Unverschämten imponiert ihnen und gibt ihnen Hoffnung, aus der Misere herausgeführt zu werden.
Die Unverschämten haben einen manipulativen Dreh entwickelt, mit dem sie die Verschämten vor ihren Karren spannen können. Sie überzeugen die Verschämten davon, sie, also die Unverschämten zu wählen, weil sie ihnen versprechen, sie aus ihrer Schamposition herauszuholen. „Ich mache euch wieder groß, wenn ihr mir folgt“ – so die Botschaft unverschämter Machtpolitiker. Einmal an der Macht, versuchen sie, die demokratischen Kontrollen zu unterlaufen, um die Unverschämtheit ungehindert ausleben zu können. Damit nehmen sie den Verschämten weg, was sie schützt und stützt. Diese werden aber im Glauben gelassen, dass das alles nur zu ihrem Guten geschieht.
Die Blockierung des Lernens aus der Geschichte
Die Schamimprägnierung, die die Verschämten in ihrer Rolle der Schwäche festhält, hindert wirkungsvoll am historischen Lernen: Am Erkennen der Destruktivität, die in der Unverschämtheit liegt, und der Mittäterschaft, der sie sich schuldig machen, weil sie sie unterstützen. Deshalb wiederholt sich das Schauspiel, wie wir es zur Zeit in den USA beobachten können und wie es die Wahlerfolge der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich und ähnlich gestrickter Parteien in anderen europäischen Ländern widerspiegeln. Die Leistungsbilanz dieser Parteien der Unverschämten, die Regierungsverantwortung übernommen haben, schaut denkbar schlecht aus. Die Sozialgesetze werden beschnitten, die individuellen Freiheitsrechte werden eingeschränkt, die Gewaltenteilung wird unterlaufen, die unabhängigen Medien werden ausgehungert oder verboten, die Kulturlandschaft verödet, die Korruption gedeiht, die Klimapolitik wird vernachlässigt. Einzig rigorosere Einwanderungsgesetze, die den Menschenrechten oder zumindest der Menschlichkeit widersprechen, können sie für sich verbuchen.
Die Schamprägung überwinden
Für die Verschämten liegt der einzige Ausweg aus ihrer Opferrolle darin, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und ihre Schambarrieren zu überwinden. Wenn sie ihre eigenen Tendenzen zur Unverschämtheit erkennen, gewinnen sie mehr Selbstvertrauen und achten mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen und erkennen leichter, wenn sie jemand zu manipulieren versucht. Sie erinnern sich an das, was ihnen von den Unverschämten angetan wurde und gehen ihnen nicht mehr auf den Leim.
Mit dem Selbstbewusstsein von Bürgern, die an ihrem eigenen Regierungssystem verantwortlich mitwirken, können sie dann erkennen, dass die Demokratie ein System des Ausgleichs darstellt, das tendenziell die Schwächeren stärkt. Die Kraft, die durch das Verlassen der Opferrolle freigesetzt wird, verhilft dazu, die versteckten Tendenzen zur Unverschämtheit im eigenen Inneren zuzulassen. Denn es braucht ein Stück Unverschämtheit, sich gegen Unverschämtheiten zu wehren und die Auswirkungen von schamlosen Taten einzudämmen. Nur mündige Menschen, die ihre erworbenen Schamprägungen überwunden haben, sind in der Lage, die Unverschämtheit einzudämmen, indem sie die Machtallüren der Unverschämten ohne Scham zurückweisen. Auf diese Weise können sie konstruktiv an der Demokratie mitarbeiten und sie weiterentwickeln.
Zum Weiterlesen:
Die Verschämten und die Unverschämten
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