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Samstag, 25. Januar 2025

Unser Gehirn - eine "Vorhersagemaschine"

 Das reaktive Gehirn

Dieses Modell war lange Zeit maßgeblich in der Gehirnforschung, es entspricht auch einer landläufigen und intuitiv stimmigen Sichtweise: Über die Sinnesorgane kommen Reize herein, die ins Gehirn übertragen und dort für die Planung von Handlungen ausgewertet werden. Die Hierarchie verläuft von unten nach oben (bottom-up): Von den einfachen Sinnesorgane wird die Informationsverarbeitung weiter nach oben in die komplexeren Gehirnteile weitergegeben, wo es dann zum Abwägen von Alternativen und zu Entscheidungen kommt. Das Gehirn wird über Außenreize aktiviert, es reagiert also auf das, was von außen kommt, und Handlungen kommen zustande, indem diese Außenreize in Motive übersetzt werden.

Das prognostische Gehirn

Inzwischen gibt es ein neues Modell der Funktionsweise des Gehirns, nämlich das vorhersagende, das prospektive Gehirn. Unser Gehirn bekommt von den Sinnesorganen Aktivierungsmuster, die der äußeren Realität nur grob ähneln. Oft sind diese Daten fragmentarisch, unzuverlässig und mehrdeutig. Diese Daten „sind nicht die Welt, sie repräsentieren auch nicht diese Welt, sondern sie repräsentieren nur das, was unsere Sinnesorgane registrieren können.“ (Sterzer 2022, S. 129) Zum Beispiel bekommen wir von den Augen nur Abbilder einer zweidimensionalen Welt. Alles Weitere entsteht durch die Interpretationen in den höheren Gehirnzentren.

Nach dieser Auffassung verfügt das Gehirn über ein inneres Modell der Welt, das aus dem Sammeln von Daten und aus den Lernerfahrungen mit diesen Daten entstanden ist. Das Gehirn entwickelt aus diesem Material Hypothesen, mit denen hereinkommende Sinnesdaten vorhergesagt werden können. Das hat den Vorteil, dass die einlangenden Informationen nicht dauernd neu bewertet werden müssen. Stimmen diese Vorhersagen nicht, so verbessert das Gehirn sein inneres Modell.

Durch diese prognostischen Fähigkeiten ist das Gehirn den Ereignissen in der Welt immer einen Schritt voraus. Die Wahrnehmung ist also kein passiver Prozess, bei dem im Gehirn abgebildet wird, was von außen kommt, sondern ein aktiver und konstruktiver Vorgang. Zwar hat das Gehirn ein selbstgebasteltes Weltmodell, aber es ist nicht unabhängig von dieser Welt. Vielmehr gibt es einen fortlaufenden Rückkoppelungsprozess, in dem Vorhersagefehler zur Optimierung des Modells aufgegriffen und verarbeitet werden. Damit nähert sich das Modell kontinuierlich an die Wirklichkeit an und ermöglicht uns, dass wir uns möglichst störungsfrei durch die äußere Welt bewegen können. Wir haben es hier mit einem Top-Down-Prozess zu tun, bei denen der Frontallappen im Großhirn z.B. die Sehrinde im Hinterhauptslappen beeinflusst, der dann die Augenbewegungen steuert.

Ein wichtiger Aspekt besteht in der Einschätzung der Präzision in der Vorhersage. Wenn uns Situationen sehr vertraut sind, wie z.B. das Autofahren, dann geht unser Gehirn davon aus, dass es nur wenige Ressourcen darauf verschwenden muss, um das Schalten und Lenken zu regulieren. Wir wissen, wie das geht und können mit viel Sicherheit vorhersehen, was passieren wird, wenn wir losfahren. Sitzen wir jedoch das erste Mal in einem Auto mit Automatikgetriebe, so stimmen einige Vorausannahmen nicht; ich muss beim Starten nicht auf die Kupplung, sondern auf die Bremse treten. Wenn ich mit meinem Vorwissen von einem konventionellen Auto ein Automatikauto starten will, werde ich scheitern. Da aber mein Gehirn über den Mechanismus der Präzisionseinschätzung verfügt, kann es mit der Überraschung, dass das Auto nicht startet, wie ich möchte, umgehen und neue Hypothesen bilden. Sind also die Vorhersagen unpräzise, so ist das Gehirn im Normalfall bereit, eine neue Lernerfahrung zu machen. Daraus wird ein präziseres Modell gefertigt, und wir können in Zukunft problemlos ein Automatikauto starten.

Ein anderes Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Lenken eines Autos in einem Land, in dem auf der anderen Straßenseite gefahren wird. Wir brauchen einige Zeit, um uns umzustellen; unser Gehirn muss ein neues Modell fertigen, damit es realitätsgerecht vorausschauen kann. Das funktioniert nach einiger Zeit. Kommen wir wieder zurück in unsere gewohnte Fahrumgebung, dann kann es anfangs passieren, dass uns das Gehirn den Scheibenwischerschalter statt des Blinkers betätigen lässt.

Präzision bedeutet in diesem Zusammenhang nicht eine hohe Zuverlässigkeit der inneren Hypothesen in Bezug auf die Vorgänge in der Wirklichkeit, sondern bezeichnet nur eine hohe innere Sicherheit und ein hoher innerer Stellenwert. Z.B. sind die Anhänger der Theorie, dass die erste Mondlandung ein Fake war, überzeugt von dieser Theorie und glauben daran, dass sie damit die Wirklichkeit erkannt haben, zum Unterschied von allen anderen, die diese Theorie nicht teilen. Das hohe innere Gewicht, das diesen Theorien beigemessen wird, hängt mit der Gruppenbildung zusammen: Anhänger von solchen Theorien sind nie allein mit ihren Theorien, sondern kennen andere, die ihre Meinungen teilen und damit die Sicherheit über die Richtigkeit verstärken. Zugleich haben diese Theorien einen wichtigen Stellenwert, weil sie die Gruppe (oder Blase) zusammenhalten. Dass die Theorie von der erfundenen Mondlandung praktisch keinerlei Konsequenzen hat und auch für die Weiterentwicklung der Raumfahrt keine Bedeutung hat, steht auf einem anderen Blatt. An dem Beispiel zeigt sich, dass es Theorien gibt, von denen Menschen voll überzeugt sind, die aber keinerlei Wirkung auf die Wirklichkeit ausüben können, weil sie offenbar den Kontakt zu ihr verloren haben. Ihre einzige Funktion besteht darin, den eigenen Selbstwert zu festigen (ich weiß mehr als alle anderen) und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu sichern.

Reaktive und kreative Lebensorientierung

Die Unterscheidung zwischen dem reaktiven und dem prospektiven Gehirn entspricht dem Unterschied zwischen der reaktiven und kreativen Lebensorientierung, der hier schon mehrfach besprochen wurde. Ähnlich wie unser Gehirn über zwei Modi der Informationsverarbeitung verfügt, haben wir zwei verschiedene Herangehensweisen an die Herausforderungen des Lebens. Der reaktive Modus besteht darin, dass wir aktiv werden, wenn genügend Problemdruck besteht. Wir kümmern uns um unsere Fitness, wenn wir merken, dass der Bauchspeck zu arg zugenommen hat. Wir warten erst dann unser Heizsystem, wenn ein Defekt auftaucht. Der Anreiz kommt von außen und bewirkt die Handlung. 

Die kreative Orientierung kommt von innen – eine Idee taucht auf, die umgesetzt werden möchte. Sie erscheint schon vor unserem inneren Auge, und die Motivationskraft meldet sich, um die Vision in die Wirklichkeit zu bringen. Wir nutzen die prospektiven Fähigkeiten unseres Gehirns, das die Verwirklichung vorwegnimmt und gleichzeitig damit die Gefühle des zukünftigen Erfolgs aktiviert, die uns dazu bringen, unsere Ärmel hochzukrempeln und die notwendigen Schritte zu verfolgen. 

Während die Vorteile der kreativen Lebensorientierung und ihre Bedeutung für ein erfülltes Leben schon lange bekannt sind, zeigt sich durch neuere Gehirnmodelle eine organische und funktionale Grundlage für diese Ausrichtung im Gehirn. Unser Gehirn nutzt offenbar diesen Modus in vielen Alltagsprozessen aus und führt gut damit, ohne dass uns das weiter auffällt. Wenn wir diese Orientierung bewusst wählen und für das, was wir erreichen und verwirklichen wollen, einsetzen, können wir auf effektive Strategien unseres Gehirns zurückgreifen und diese zugleich weiterentwickeln.

Literatur: Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Berlin: Ullstein 2022

Zum Weiterlesen:
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Die Manifestation und das Ego
Die Kreativitätsscham und ihre Auflösung
Kreative und reaktive Fantasien


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