Wir sind enttäuscht, wenn ein Ereignis, das wir erwarten, entweder überhaupt nicht eintritt oder abweichend von unserer Erwartung abläuft. Das Bedürfnis, dessen Erfüllung die Erwartung versprochen hat, bleibt unbefriedigt. Darin besteht das Leiden der Enttäuschung. Auf der neurobiologischen Ebene spielt sich folgendes ab: Jede freudvolle Erwartung löst einen Dopaminschub aus, der als lustvolle Spannung erlebt wird, oft verbunden mit erhebenden Gefühlen und gesteigerter Aktivität. Sobald sichtbar wird, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nicht eintritt, fällt der Dopaminspiegel jäh ab. Der erhoffte Belohnungsreiz bleibt aus, und der Entzug an Dopamin wird als sehr lästig und unangenehm erlebt. Die freudige Anspannung bricht ab. Stattdessen machen sich unangenehme Gefühle der Frustration breit. Im Hintergrund baut sich Stress auf. Der positiv erlebte Stress in der Erwartungsspannung verwandelt sich in eine negative, von Frustration und Ärger geprägte Stimmung der Enttäuschung.
Wer ist schuld?
In den Phasen der Enttäuschung entsteht meist die Frage nach der Ursache: Wer ist schuld am Ausbleiben der Belohnung? Denn wir meinen, wenn wir die Ursache kennen, k wir die Enttäuschung in der Zukunft verhindern. Bei der Ursachenfrage gibt es zwei Richtung: Nach außen oder nach innen. Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, irgendetwas oder irgendjemand anderen verantwortlich zu machen. Sie entwickeln in sich Gefühle von Ärger und Wut gegen diese Instanz. Jene, die die Verantwortung eher bei sich selbst suchen, reagieren mit Traurigkeit und Scham bis hin zu Depressionen. Die ersteren entlasten sich von der Verantwortung und schieben sie ihren Mitmenschen zu, die zweiteren laden sie sich selbst auf und tragen schwer daran.
Es gibt Enttäuschungen, für die niemand eine Verantwortung trägt, wie z.B. solche, bei denen die Erwartungen an die Natur gerichtet sind: Wir unternehmen eine Reise an einen Badesee und die geplante Ferienwoche wird total verregnet. Wir pflanzen Gemüse an und die Schnecken fressen es. Andere Enttäuschungen befinden sich ganz im eigenen Rayon – solche, die mit Fehlern zu tun haben, die uns unterlaufen sind: Wir werfen die Wohnungstür hinter uns zu und merken erst dann, dass der Schlüssel drinnen geblieben ist.
Wenn die Erwartung auf eine Person gerichtet ist und sie sich nicht entsprechend verhält, erscheint es klar, dass sie uns damit Leid bereitet hat. Wir freuen uns auf den Besuch des Freundes, und er sagt kurzfristig ab, mit einer Begründung, die uns fadenscheinig vorkommt. Der Freund ist schuld, dass es uns jetzt schlecht geht. Wir haben irgendjemanden, der unseren misslichen Zustand verursacht hat. Er ist verantwortlich für das Leid geben können, das uns die Enttäuschung bereitet.
Wir übersehen dabei allerdings, dass wir uns selbst das Leid zufügen, weil wir an unserer Erwartung festhalten, statt dass wir uns mit der geänderten Realität arrangieren. Jede Störung, mit denen uns die Wirklichkeit in Form von eigenen Fehlleistungen, Verfehlungen anderer Menschen oder Unvorhersehbarkeiten äußerer Umstände herausfordert, ist eine Übung im Akzeptieren. Die Abläufe sind, wie sie sind; unsere inneren Bewertungen machen aus ihnen passende oder unpassende, willkommene oder störende Ereignisse. Wenn wir akzeptieren, was ist, kommen wir in Frieden damit, wenn wir dagegen ankämpfen, leiden wir.
Es ist wie beim Schachspielen: Das Spiel entwickelt sich zu unseren Gunsten und wir spüren schon das Hochgefühl des Sieges. Doch findet die Gegnerin einen pfiffigen Zug, den wir übersehen haben, und schon droht die Niederlage. Das Hochgefühl verschwindet ins Nichts und macht einer ängstlichen Frustration Platz. Spielsituationen lieben wir vermutlich deshalb, weil sie uns das Einüben des Umgangs mit Frustrationen möglich machen. Wir leiden kurz, bis uns klar wird, dass es ja nur ein Spiel ist.
Gegen das Leben kämpfen
Außerhalb der Spielkontexte ist das Leben unser „Gegner”, indem es unsere Erwartungen ignoriert und überraschende und unvorhergesehene Winkelzüge präsentiert. Sich beim Leben für die liebsamen und unliebsamen Überraschungen zu beschweren, ist eine Strategie, die aus den „Anleitungen zum Unglücklichsein“ (Paul Watzlawick) stammen könnte. Die Wirklichkeit kümmert sich in ihren Abläufen nicht um unsere Erwartungen, sondern orientiert sich an anderen Gesetzmäßigkeiten, deren Logik uns zumeist nichts als Rätsel aufgibt. Wir schaffen uns selber das Leid und stehlen uns nur aus der Verantwortung, wenn wir irgendwelche Faktoren in der Außenwelt für unsere inneren Zustände haftbar machen.
Das trifft auch auf unsere Mitmenschen zu, von denen wir erwarten, dass sie sich gemäß unseren Erwartungen verhalten, und die uns enttäuschen, wenn das nicht der Fall ist. Von der Kassierin im Supermarkt erwarten wir, dass sie freundlich und fröhlich ist; schließlich sind wir die Kunden und wünschen uns ein angenehmes Einkaufserlebnis. Begegnen wir einem missmutigen Menschen an der Kassa, sind wir enttäuscht und vielleicht sogar empört, ohne dabei an die Belastungen zu denken, denen die Kassierin ausgesetzt ist.
Das Recht auf die Erfüllung unserer Erwartungen
Wir haben eine Instanz in uns, die uns sagt, wir hätten ein Recht darauf, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Sie stammt aus unseren frühesten Erfahrungen, aus unseren Ursprüngen. Wir sind mit der Erwartung in dieses Leben getreten, dass wir geliebt, genährt und geschützt werden. Unser Urvertrauen sagt uns, dass wir das Recht darauf haben, dass die Existenz, die uns das Leben verliehen hat, alles zu ihrem Bestand und Weiterwachsen Notwendige bekommen wird. Auf einer unbewussten Ebene wissen wir, was wir brauchen, um gut überleben und uns angemessen entwickeln zu können. Doch auch gute Eltern sind nur Menschen, deshalb können sie diesen Erwartungen nur zu einem bestimmten Teil nachkommen. Das Enttäuschen der Erwartungen ist dann mit der Angst vor der Gefährdung des eigenen Überlebens verbunden. Solche Erfahrungen lösen manchmal massiven Stress aus, den Babys mit heftigem Geschrei ausdrücken.
Im Zuge des Aufwachsens haben wir gelernt, dass es immer wieder Enttäuschungen gibt und dass die Realität nicht so beschaffen ist, dass sie alle unsere Erwartungen erfüllt. Wir lernen, unsere Wünsche mit den aktuellen Möglichkeiten abzugleichen und notfalls auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten. Doch bleibt häufig die Gefühlsdynamik so, wie wir sie in unseren Anfängen erlebt haben: Das unbefriedigte Bedürfnis wird übermächtig und löst eine unangenehme Enttäuschung aus, mit der wir fertig werden müssen.
Frustrationstoleranz
Erwachsenwerden heißt auch, Frustrationstoleranz zu erwerben, also die Fähigkeit, Enttäuschungen wegstecken zu können, ohne daran zu leiden. Hilfreich ist die Kompetenz, das frustrierte innere Kind zu beruhigen und zu vertrösten. Wie einfühlsame Eltern ihrem Kind begegnen, gehen wir auf die Ungeduld unseres inneren Kindes ein. Wir signalisieren ihm, dass wir sein Bedürfnis mit all der Dringlichkeit verstehen, während aber die Umstände gerade so beschaffen sind, dass eine Befriedigung nicht sofort möglich ist, sondern erst in einiger Zeit oder auf andere Weise erfolgen kann. Wir versprechen unserem inneren Kind, dass wir uns um das Bedürfnis kümmern. Der innere Konflikt und die Anspannung lösen sich dann auf und wir gelangen zu einem inneren Frieden.
Unser erwachsenes Ich weiß, dass unser Überleben nicht gefährdet ist, wenn wir nicht das, was unser Bedürfnis fordert, sofort und in der gewünschten Form bekommen. Als Erwachsene kennen wir verschiedene Reaktionsmöglichkeiten auf Bedürfnisspannungen, die je nach Situation angewendet werden können:
Wir können die Befriedigung aufschieben: Wir haben Hunger, aber gerade keine Zeit, um uns etwas zum Essen zu besorgen. Wir können abschätzen, wann wir unseren Hunger stillen können und uns bis dahin gedulden.
Wir können eine andere Form der Befriedigung finden: Wir wollen in ein bestimmtes Restaurant essen gehen, doch es hat geschlossen, also suchen wir ein anderes.
Wir haben auch die Möglichkeit, die Befriedigung zu verabschieden, indem wir die Erwartung zurücknehmen. Wir erwarten uns einen Gefallen von einem Freund, doch dieser hat keine Zeit. Wir suchen nach anderen Wegen, um an unser Ziel zu gelangen.
Erwartungsfreiheit
Können wir uns ganz von Erwartungen lösen, die uns immer wieder zu Enttäuschungen führen? Erwartungslos zu sein, erscheint als ein erstrebenswertes Ziel. Allerdings sind Erwartungen ein fixer Bestandteil unseres inneren Inventars. Sie tauchen gemeinsam mit unseren Bedürfnissen auf und sind an sie geknüpft. Bedürfnisse sind Signale des Organismus, die wir nicht abstellen können und auch nicht abstellen sollen, weil wir sonst nicht für die Mängelzustände im Inneren sorgen könnten.
Der Weg der Bewusstheit führt uns dazu, Erwartungen als Erwartungen zu erkennen, verbunden mit der Einsicht, dass die Zukunft immer ungewiss ist. Wir können sie nur in einem ganz geringen Ausmaß beeinflussen und in die Richtung unserer Erwartungen drängen. Weitaus die meisten Faktoren befinden sich nicht in unserer Kontrolle. Naturkatastrophen sind Beispiele für wuchtige Erfahrungen mit dieser Unwägbarkeit und Unverfügbarkeit der Wirklichkeit. Auch bei schweren Erkrankungen, die den Tod in den Erwartungshorizont rücken, durchkreuzt das Schicksal alle Pläne. Solche Ereignisse werfen die gesamten Erwartungen der Betroffenen über den Haufen. Sie müssen alle Vorstellungen über die Zukunft revidieren und ihre Lebensperspektiven völlig neu aufstellen.
Je schwerer und unerwarteter der Schlag ist, den das Schicksal versetzt, desto schwerer ist das Akzeptieren der entsprechenden Wirklichkeit. Allerdings ist der Schweregrad der Enttäuschung wiederum eine Sache unserer Bewertung. Wir müssen uns also eingestehen, dass wir unseres Glückes wie unseres Unglückes Schmied sind, in jedem Moment, bei jeder Erfahrung.
Mit dem Einüben dieser Perspektive werden die Erwartungen, die in uns entstehen, immer unwichtiger und die Enttäuschungen immer schwächer. Wir lernen, gelassener mit den Màandern und Hochschaubahnen des Lebens zurechtzukommen.
Die Absichtslosigkeit
Aus der Einsicht über die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Erwartungen kommen wir zur Einstellung der Absichtslosigkeit. Sie zählt auch zu den Tugenden, die wir im Zug der spirituellen Suche erwerben können. Allerdings ist sie kein absolutes Ziel, das wir erreichen müssen, um die innerliche Freiheit zu erlangen. Der Begriff macht uns vielmehr darauf aufmerksam, dass wir unsere Erwartungen über die Zukunft immer wieder loslassen können. Denn, wie ich in einem früheren Blogbeitrag geschrieben habe, sind „unsere Absichten nur Luftblasen, die wir zerplatzen lassen können, sobald sie ihr kreatives Schillern verloren haben. Jede verschwundene Luftblase kann einer neuen Platz machen, und so bleibt unser Leben ein kreativer, aus sich heraus wachsender Prozess. Dazu ist es wichtig, dass wir den leeren Raum zwischen den Blasen bewusst wahrnehmen als den Einstieg in die eigentliche Quelle von allem. Die Freiheit von Absichten gehört zum Luxus des meditativen Lebens; die Kunst, Absichten klar zu erkennen, zu bewerten, zu Entscheidungen zu führen, und sie dann zum besten Zeitpunkt zu vergessen, ist Teil der alltäglichen Lebenskompetenz, an der wir immer wieder feilen müssen.“
Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Absichtslosigkeit in der Therapie
Akzeptiere, was ist, dann verändert es sich