Viele Religionen beschäftigen sich mit der Frage über das Weiterleben nach dem Tod und bieten dazu ihre Glaubenswahrheiten an. Die gängigsten Antworten sind die Wiedergeburtslehre und die Lehre von Himmel und Hölle. Nach Religionszugehörigkeit betrachtet, könnte man sagen, dass ungefähr eine Hälfte der Menschheit mehr der einen und die andere mehr der anderen Richtung des Jenseitsglaubens anhängt.
Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle
die Scham bei der Beantwortung dieser Frage spielt. Wir kennen den Zusammenhang
von Frage und Antwort. Fragen kommen aus einem Spannungszustand, der durch die
Antwort entspannt werden soll. Wir wissen etwas nicht, und das bereitet uns ein
unangenehmes Gefühl. Wir suchen die Antwort, um das lästige Gefühl zu
beseitigen. Jede Unwissenheit trägt ein kleines Element der Scham in sich, und
das Wissen, das wir erlangen, löst die Scham auf. Wenn wir aber keine Antwort
auf unsere Frage bekommen, bleibt die Schamspannung bestehen.
Dieser Zusammenhang zeigt sich bei den kleinen und kleinsten
Unwissenheiten im Alltag in Form von kleinen und kleinsten Scham-Lösungszyklen.
Bei den großen, letzten Fragen, die unser gesamtes Sein anbetreffen, sind diese
Zyklen umso größer. Die Frage nach dem Jenseits unserer Lebenslaufbahn betrifft
uns auf einer existenziellen Ebene. Unser Denken ist in der Lage, über unseren
Tod hinaus zu fragen: Was ist mit der Seele, wenn der Körper stirbt? Die
Vorstellung der radikalen Endlichkeit („Mit dem Tod ist alles aus“) hat etwas
Schockierendes an sich. Alles, worauf wir in diesem Leben bauen, und alles, was
wir in diesem Leben aufgebaut haben, soll mit einem Schlag beendet und
verschwunden sein. Um uns vor dieser Radikalität der Endlichkeit zu schützen,
glauben wir lieber an eine der Formen des Weiterlebens, entweder mit einer
Chance, die dann eine Ewigkeit anhält, oder mit einer endlichen oder
unendlichen Serie von Wiedergeburten. Diese Denkmöglichkeiten geben uns einen
Trost und eine Beruhigung angesichts der drohenden Endlichkeit. Zugleich
befrieden sie das Schamgefühl, das entsteht, wenn wir mit einer Frage ohne
Antwort dastehen, so als wären wir wären keiner Antwort würdig.
Die Antworten auf Fragen geben uns ein Gefühl der Kontrolle.
Wir sind nicht mehr einem ungewissen Schicksal ausgeliefert, auch dann nicht, wenn
der Tod anklopft, sondern wir können darauf vertrauen, dass es irgendwie weitergeht
und wir nicht völlig ausgelöscht werden. Wir verfügen über ein Stück Sicherheit,
ein Stück Kontrolle in Hinblick auf den Tod.
Wir können uns dabei zwar nicht auf Wissen berufen, weil es
aus der Jenseitswelt kein sicheres Wissen geben kann, aber wir können uns auf
unsere Fähigkeit zum Glauben stützen. Durch das Glauben schützen wir uns vor der
unheimlichen und existenziell bedrohlichen Vorstellung, im Moment des Todes in
ein Nichts zu fallen. Wir müssen die Scham nicht mehr spüren, die uns bei
dieser Vorstellung befällt.
Der Umkehrschluss lautet allerdings, dass all die
Scheinsicherheiten, die durch Erklärungsmodelle und Sinnangebote jenseits des
Wissbaren vorgeschlagen werden, der Angst- und der Schamabwehr dienen. Sie
vermitteln die Illusion von Kontrolle und befriedigen das Bedürfnis nach
Sicherheit in einem Bereich, in dem es keine Sicherheit geben kann. Es wäre
blamabel und bedrohlich zugleich, zugeben zu müssen, das eigene Leben über den
Tod hinaus nicht kontrollieren zu können.
Wissen und Kontrolle
Verlässliches Wissen suchen wir deshalb, weil es uns
Sicherheit gibt und uns erlaubt, die Wirklichkeit zu kontrollieren. Wenn wir
herausgefunden haben, was Blitze sind, können wir Techniken entwickeln, die
unsere Häuser vor Blitzschlägen schützen. Wir sind der Naturgewalt in dieser
Hinsicht nicht mehr ausgesetzt, sondern halten sie unter Kontrolle. Wenn wir
verstehen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, später
als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit selber gewalttätig werden, wissen
wir, wie wir die Gewalttätigkeit unter Menschen verringern können.
Wo wir über kein Wissen verfügen, das uns Sicherheit geben
könnte, strengen wir uns an, dieses Wissen zu erzeugen. Wir forschen nach den Ursachen
und Zusammenhängen, bis wir wissen, wie die Dinge funktionieren und wie wir sie
lenken und kontrollieren können, sodass sie uns nutzen oder zumindest nicht
mehr schaden.
Mit jedem Wissen gewinnen wir also ein Gefühl der Macht über
Vorgänge und Menschen und fühlen uns geschützt vor Risiken. Das Gefühl, die
Kontrolle zu haben, erfüllt uns mit Stolz. Mit Mitleid betrachten wir frühere
Zeiten, in denen z.B. die Risiken, an einer Bakterieninfektion zu sterben, viel
höher waren als heute. Denn wir verfügen gegen diese Gefahr über wirksame
Mittel, die wir durch Wissen gefunden haben. Wo dieses Wissen noch nicht vorhanden
ist, z.B. bei noch immer unheilbaren Krankheiten, spüren wir einen Mangel, der
uns Scham bereitet, und eine Bedrohung, die uns Angst macht. Und wir freuen uns
und sind stolz, wenn den medizinischen Wissenschaften ein Erfolg in der
Krankheitsbekämpfung gelungen ist.
Gerade deshalb sind uns Bereiche, in denen wir kein sicheres
Wissen erlangen können, besonders suspekt. Sie bereiten uns ein mulmiges
Gefühl. Wir wollen uns auch hier vor Gefahren schützen und schämen uns, wenn es
uns nicht gelingt. Um diese Scham zu überwinden, hat die Menschheit Vorstellungen
erfunden, die uns auch hier eine Sicherheit geben sollen. Wir sind zwar nie
sicher, ob es sich nicht doch um Illusionen handelt. Dennoch wollen viele auf
diese Einbildungen nicht verzichten.
Die Alternative wäre es, das Nichtwissen und
Nichtwissenkönnen auszuhalten. Die absolute Grenze, die der Tod in jedes
Menschenleben einführt, löst Widerstände und Unwillen aus, die aus unserem Ego
kommen. Unsere Selbstsucht hält es nicht aus, wenn wir irgendwo über keine
Kontrolle verfügen und in der Schwebe der Unsicherheit hängen bleiben. Insbesondere
unser eigenes Ende ist mit der größten Angst behaftet, und eine der
Hauptfunktionen des Egos besteht darin, uns vor der Vorstellung eines absoluten
Endes zu schützen. Es will über den Tod hinaus die Kontrolle behalten.
Denn es ist für unser überzogenes Selbstbewusstsein ein
Skandal, das eigene Ende und damit die zukünftige Nichtigkeit dessen, was wir
jetzt sind, mitdenken zu müssen. Der Narzissmus, der in jede
Ego-Selbstbestätigung enthalten ist, will diese Grenze um jeden Preis relativieren,
indem er sich an die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben anklammert. Mit einer
Form des Jenseitsglaubens kann er und damit die gesamte Ego-Agenda bestehen
bleiben, zumindest so lange der Körper die Denkvorgänge aufrechterhält.
Der Stolz der Nichtgläubigen
Aber auch die skeptische Haltung zu den Jenseitsfragen
enthält emotionale Fixierungen, wenn sie mit Stolz vertreten wird. Die naiven
Jenseitsgläubigen werden belächelt oder verachtet, während die eigene
Überlegenheit im Nichtglauben genossen wird. Festgehaltener Stolz stellt eine
Form der Schamabwehr dar. Die Scham, keine befriedigende Antwort auf die Frage
nach der eigenen Endlichkeit finden zu können, wird in den Stolz umgemünzt, im
eigenen Bewusstsein weiter entwickelt zu sein als jene, die am Glauben hängen.
Das Ego findet seine Befriedigung in dieser Form der Überheblichkeit.
Das Aushalten der Endlichkeit
Was wäre, wenn wir uns nicht unserem Ego unterordnen und den
Narzissmus der Selbstüberschätzung überwinden? Dazu müssen wir uns den Gefühlen
der Scham und der Angst stellen, die mit der Akzeptanz einer absoluten Grenze
unseres Kontrollstrebens auftauchen. Wenn wir uns diese Gefühle bewusst machen,
können wir ihre Macht über uns und über unsere Jenseitsvorstellungen brechen. Es
fällt uns dann leichter, uns einzugestehen, dass unsere Kontrolle an der Grenze
des Diesseits endet. Das Jenseits entzieht sich unserem Einfluss und unserer
Macht, also auch der , die wir durch das Wissen erlangen wollen.
Die Akzeptanz der absoluten Grenze für das Wissen und die
Kontrolle führt uns zu einer Haltung der Bescheidenheit und Demut. Wir fügen
uns in unsere Begrenztheit und Unvollkommenheit und erkennen darin besondere
Qualitäten des Menschseins. Wir beschränken unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit
durch Wissen zu kontrollieren, auf das diesseitige Leben, auf das Meistern der
aktuellen Probleme und Fragestellungen. Wir erkennen und nehmen die besondere
Würde, die darin liegt, unsere Kräfte der Bewältigung unseres uns gegebenen
Lebens zu widmen, gleich ob es nach dem Tod irgendwie weitergeht oder nicht.
Wir gründen das Vertrauen in uns und in die Beziehungen zu den Menschen um uns
herum, denen wir liebevoll begegnen.
Wir nutzen die Räume, die uns zur Verfügung stehen, um unser Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Als Menschen haben wir aufgrund unserer ins Jenseits und ins Unendliche reichenden Intelligenz eine Sonderstellung in der Natur inne. Wir können dieser Sonderstellung aber nur dann gerecht werden und aus ihr sinnvollen Nutzen ziehen, wenn wir uns selbst überall dort beschränken, wo die Kontrolle durch das Wissen nur illusionär ist. Jede Überdehnung der Grenzen führt uns in eine Versuchung, mehr Macht auszuüben als uns zusteht. Und das tut weder uns gut noch allem anderen, worauf sich diese Macht auswirkt.
Ähnlich wie wir als Menschheit unser Verhältnis zur Natur
nur dadurch ausgleichen können, dass wir unsere überschießenden Kontrollimpulse
kontrollieren und einschränken, kommen wir dem Sinn unseres Lebens nur näher,
wenn wir die absolute Grenze, die uns der Tod nun einmal setzt, in ihrer
Absolutheit respektieren und der Versuchung widerstehen, die uns die
verschiedenen Glaubensmodelle anbieten.
Auf die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod haben wir die
Wahl, an eines der Angebote aus den Religionen zu glauben oder auf jeden
Glauben zu verzichten. In jedem Fall ist es sinnvoll und hilft bei der inneren
Klärung, wenn wir nachprüfen, welche Ängste und vor allem welche Schamgefühle bei
unserer Wahl mitspielen.
Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Theologie und Mystik zur Frage des Weiterlebens
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Wissen, Phantasie und Glaube
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele