Sonntag, 4. August 2019

Eine soziale Utopie als Hoffnungsträger

Viele Autoren unserer Tage sprechen vom Ende der Utopien. Statt verheißungsvoll in die Zukunft zu blicken, mehren sich bei vielen Menschen die Ängste und Enttäuschungen, das Prinzip Hoffnung scheint endgültig veraltert. Die gängigen Erzählungen von Kommunismus, Neoliberalismus und Faschismus haben abgedankt und ein Vakuum hinterlassen, in das sich Populisten ohne Visionen einnisten und die Stimmen der Desillusionierten abkassieren, während die Verteidiger der Aufklärung und der Menschenwürde beinahe hilflos zuschauen.

Für diese Situationsanalyse hat Paul Mason das Buch: „Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus“ geschrieben und lässt es in eine Utopie münden. 

Mason lädt uns zu einem Gedankenexperiment ein: „Wie wäre es, wenn wir uns das Ende des Kapitalismus vorstellen könnten? Schließen Sie einen Augenblick die Augen und versuchen Sie es. Ist es beängstigend? Was sehen Sie? Das Wahrscheinlichste ist, dass Sie dieselbe Utopie gesehen haben, die das abendländische Denken seit Aristoteles inspiriert: eine menschliche Gemeinschaft, in der es keine Armut gibt und Eigentum und Hierarchie keine Rolle spielen, in der jedermann ein auskömmliches Leben führt und genug Freizeit hat, um sein menschliches Potenzial auszuschöpfen, und in der die Arbeit von Maschinen geleistet wird. Das gute Leben.“ (S. 312)

Was wie eine sozialromantische Wunschprojektion ausschaut, ist in Wirklichkeit gar nicht so abgehoben und irreal. Denn wir hören überall von den Robotern und künstlichen Intelligenzen, die den Menschen mehr und mehr von ihrer Arbeit abnehmen werden, ob wir das wollen oder nicht. Das betrifft zunächst einmal vor was die physischen Arbeiten. „Es bedeutet, dass die grundlegenden Dinge, die wir zum Leben brauchen – Nahrungsmittel, Energie, Transport, Wohnung, medizinische Versorgung und Bildung –, im Überfluss vorhanden sein werden und durch direkte Kooperation der Menschen außerhalb des Marktes zur Verfügung gestellt werden können. Knappheit wird es abhängig von Sachkenntnis oder Rohstoffvorkommen nur noch in kleinen Nischen geben.“

Mason stellt dieser Chance für eine menschliche Zukunft den „digitalen Feudalismus“ als mögliche Alternative entgegen: „In diesem Szenario nimmt die von der Digitalisierung genährte Ungleichheit derart zu, dass an die Stelle des Marktes eine neue Beziehung zwischen Technologieunternehmen und Bevölkerungsmehrheit tritt, die an das Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern im Mittelalter erinnert. Die Technologiegiganten extrahieren im Bündnis mit dem Staat Vermögen, indem sie sich von uns erzeugte Daten aneignen und diese manipulieren. Die meisten Menschen können ihre Bedürfnisse nicht länger allein mit Arbeit erfüllen, weil es nicht genug davon gibt; stattdessen binden sie sich in einer auf den Daten beruhenden Knechtschaft an die Technologieanbieter.“ (S. 313)

Es könnte sein, dass das Versagen des Neoliberalismus, das in der Finanzkrise von 2008 offenbar wurde, eine nachhaltige Schwächung des Kapitalismus nach sich zieht. Denn die Informationstechnologien, die unser Leben immer mächtiger und wirkungsvoller beeinflussen und bestimmen, laufen in ihren Grundstrukturen den Fundamenten des Kapitalismus entgegen. Mason beschreibt hier vier Mechanismen: 

Die Auflösung der freien Preisbildung

Da sich Information praktisch ohne Kosten vermehren kann, wird die Preisbildung auf dem freien Markt erschwert, und die Gewinne schwinden, was z.B. den Produzenten von Musik schon länger zu schaffen macht. 

Die Auflösung des Arbeitsmarkts

Es wird vermutet, dass etwa die Hälfte aller gegenwärtigen Tätigkeiten in absehbarer Zeit automatisiert werden. Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und auf der Regelung der Arbeitseinkommen durch den Arbeitsmarkt. Wir stehen an der Schwelle zu einer Zukunft, in der Arbeit nicht die Basis für die Existenzberechtigung mehr sein kann, sondern zu einer Möglichkeit unter anderen wird.

Netzwerkeffekte

Durch die Digitalisierung entstehen Netzwerkeffekte ohne Ende; jedes Element, jede Dateneinheit kann mit jeder anderen verbunden werden und neue Nutzungsmöglichkeiten erschließen. Solche Vernetzungen befinden sich nicht automatisch und sofort in Privateigentum, vielmehr müssen (oder sollten) die Nutzungsrechte zwischen den verschiedenen Akteuren der Gesellschaft ausgestritten werden.

Demokratisierung der Information

Die über Jahrtausende vorhandenen Monopole in der Wissensverwaltung verschwinden schnell und gründlich. Konnte früher noch über den Zugang zu Papier oder zu Rundfunkfrequenzen die Wissensverbreitung kontrolliert werden, so bietet das Internet eine ungeheure Fülle an Information und Wissen ohne Zugangsbeschränkung. Allerdings haben sich im Zug dieser Umgestaltung neue Monopole gebildet, die den Wettbewerb und die freie Preisbildung in ganzen Marktsektoren beseitigen. (S. 316)

Es kann also sein, dass der Kapitalismus, der viel soziales Ungleichgewicht erzeugt hat, geschwächt wird, allerdings nur, wenn die Politik ihre demokratische Basis behält und in emotionaler Reife wächst.

Daraus kann gefolgert werden: „Die Freiheit des Menschen ist so nahe wie nie zuvor in der Geschichte, denn die denkenden Maschinen sind einzigartig: Sie erzeugen in großem Maßstab kostenlosen Nutzen. Die Lösung besteht darin, ein neues globales Gesellschaftssystem zu errichten, um die Möglichkeiten der Automation zu nutzen, den Arbeitsaufwand für die Erhaltung unseres Lebens auf dem Planeten zu verringern und gleichzeitig das globale Ökosystem zu stabilisieren. Dieses Vorhaben kann nur gelingen, wenn wir die künstliche Intelligenz regulieren, den Datenschutz gewährleisten und die Versuche unterbinden, den Menschen mit Algorithmen zu kontrollieren.“ (S. 318)

„Um diese Ziele zu erreichen, schlage ich vier strategische Projekte vor, die jeweils der Bewältigung einer der Auswirkungen der Informationstechnologie auf den Kapitalismus dienen: 
1. Kampf gegen Monopole und Preisabsprachen: Die Informationsmonopole müssen zerschlagen und die grundlegende digitale Infrastruktur in Form von Unternehmen ohne Gewinnzweck oder staatlichen Versorgungsunternehmen nach dem Vorbild der Stromnetze vergesellschaftet werden. 
2. Kampf gegen prekäre Arbeitsverhältnisse und Lohnstagnation: Die Automatisierung muss durch eine Abkoppelung von den Löhnen vorangetrieben werden. Zu den erforderlichen Maßnahmen zählen ein mit Steuereinnahmen finanziertes Grundeinkommen für alle Bürger sowie die universelle Bereitstellung von vier grundlegenden Diensten – medizinische Versorgung, Verkehr, Bildung und Unterkunft –, die entweder kostenlos oder sehr billig sein müssen. Diese Maßnahmen sollten als vorübergehende Subvention dienen, um die Auswirkungen der raschen Automatisierung auszugleichen.
3. Kampf gegen das Rent-Seeking: Wir müssen die Daten per Gesetz in ein öffentliches Gut verwandeln und die Kontrolle über die Verwendung unserer persönlichen Daten nicht dem Staat, sondern dem einzelnen Bürger übertragen. Alle auf dem Rent-Seeking beruhenden Geschäftsmodelle müssen unterdrückt werden: Es muss gesellschaftlich inakzeptabel werden, wirtschaftliche Renten anzustreben. 
4. Kampf gegen das Horten von Information: Alle auf einem asymmetrischen Zugang zu Informationen beruhenden Geschäftsmodelle müssen verboten werden. Jeder Bürger muss das Recht haben zu erfahren, was der Staat, eine Bank oder ein Social-Media-Unternehmen über ihn weiß. Er sollte das Recht haben, die Information zu löschen, zu korrigieren und ihre Nutzung zu beschränken. Er sollte das Recht haben, zu erfahren, wenn ein Algorithmus verwendet wird, um sein Verhalten zu steuern, zu überwachen oder vorherzusagen. Er sollte das Recht haben, zu wissen, ob die andere Seite in einer Transaktion, einem Spiel oder einer Unterhaltung eine künstliche Intelligenz einsetzt.“ (S. 319-320)

Es geht also darum – und hier verbinde ich die Forderungen von Mason ein wenig meinen eigenen Gedankengängen –, dass die Menschen die menschlichen Angelegenheiten, die ihnen zu entgleiten drohen, wieder in die eigenen Hände zu nehmen und nicht einfach sich von selber fortschreibenden Sachzwängen überantworten. Dazu bedarf es neuer Formen der Kooperation und der demokratischen Willensbildung und nicht deren Rückbau. Dazu braucht es genügend Sachkenntnis und nicht emotionalisierte Simplifizierung und manipulative Angstmobilisierung. 

Notwendig ist, dass viel mehr menschliche Fantasie und Kreativität in diese Bereiche fließt, damit wir in der aktuellen Übergangsphase nicht Schiffbruch erleiden und in eine neue Form von Diktatur abfallen. Wir haben einen riesigen Aufholbedarf, was das Entwickeln von sozialen und interaktiven Kompetenzen anbelangt, mit den mangelhaften Voraussetzungen unseren urzeitlich geprägten Emotionalzentren, während die technologische Entwicklung mit einer Rasanz voranschreitet, die einzigartig in der Menschheitsgeschichte ist. 

All die Verwerfungen und Absurditäten unserer Gegenwart können auf diese Diskrepanz zurückgeführt werden: Die nachhinkenden sozialen und kommunikativen, von Emotionen geprägten Kompetenzen, die für tragfähige kooperative Willensbildungen notwendig sind, und die fast tagtäglich neuen Veränderungen und Herausforderungen von technologischer Seite. 

Es ist, als ob sich in den Themen von Ausländerhass, Frauenverachtung, Demokratiebekämpfung etc. die zurückgebliebenen emotionalen Anteile melden würde, wie ein vergessenes Kleinkind auf einer Autobahn, hilflos schreiend, während die Autos voller abgestumpfter Fahrer vorbeirasen. Viele Menschen regredieren intellektuell angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Spannung zwischen den Fortschritten der Digitalisierung und der Plumpheit der emotionalisierten Diskussionen und Argumentationen. Dabei ist es vordringlich, intellektuell wach zu bleiben und emotional zu wachsen, in der Bewältigung innerer Ängste, aggressiver Machtallüren und blindwütigem Erfolgsstreben.

Mason schließt sein Buch mit einem Appell:
„In meinen Augen ist all die Angst, die von Frauenfeinden, ethnischen Nationalisten und Anhängern des Autoritarismus verbreitet wird, ein Beleg dafür, dass sie spüren können, wie nahe wir dem »nächsten Sprung nach vorn« sind. Um das antifaschistische Leben zu leben, müssen Sie Ihren Körper dorthin bewegen, wo er tatsächlich den Faschismus stoppen kann, und wenn Sie das getan haben, müssen Sie sich lange genug an das kleine Stück befreiten Raums klammern, damit andere Menschen es finden, sich zu Ihnen gesellen und ebenfalls in diesem Raum leben können. Die radikale Verteidigung des menschlichen Wesens beginnt bei Ihnen.“ (S. 381)

Also halten wir unseren Mut angesichts der Herausforderungen aufrecht und beginnen wir im Sinn der dritten Aufklärung mit der radikalen Verteidigung des menschlichen Wesens, jeden Tag und jede Stunde aufs Neue!

Literatur: 
Paul Mason: Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus. Frankfurt: Suhrkamp 2019

Zum Weiterlesen:
Information braucht Materie
Die Dritte Aufklärung

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