Freitag, 5. Juli 2019

Gott und das Absolute

Mit dem Absoluten meinen wir etwas, das sich dem relativen Begreifen entzieht, das aber notwendig ist für unser Selbstverstehen, Welterklären und Welterleben. Das Absolute hat die Eigentümlichkeit, dass es der üblichen Sinneserfahrung nicht zugänglich ist, dass es nicht in Worte gefasst werden kann und dass es sprachlich nicht eindeutig kommuniziert werden kann. Es kommt also wie eine Leerstelle zwischen lauter konkreten Dingen vor. Sobald wir in unserer Erfahrung in diese Leerstelle geraten, fällt alles ab, was wir an Konkretheit brauchen, weil sich eine neue Form der Konkretheit zeigt. Es erscheint alles in sich klar und verständlich. Doch sobald diese Erfahrung kommuniziert wird, gerät sie in die Sphäre des Relativen und wird missverständlich und missverstanden.

Von diesem Dilemma ist auch der Gottesbegriff betroffen. Die spirituelle oder mystische Erfahrung kann möglicherweise aus der Perspektive der erfahrenden Person am besten mit „Gott“ beschrieben werden. Doch sobald die Erfahrung als „göttlich“ oder „von Gott kommend“ kommuniziert wird, ergeben sich die Komplikationen. Denn der Gottesbegriff hat in der relativen Welt der Kommunikation unendlich viele assoziative Anbindungen, die die unterschiedlichsten Narrative bei den Empfängern der Kommunikation aktivieren. Die einen denken an den strafenden, die anderen an den liebenden Gott, die einen an den Gott der Kreuzzüge oder IS-Gewalttaten, die anderen an Mutter Teresa und all die frommen Wohltäter. 


Die Blutspur des Gottesbegriffs


Der Gottesbegriff hat eine sehr lange Geschichte und ist in vielen Traditionen in unterschiedlicher Weise prominent vertreten. Seine Verwendung reicht von der schwarzen Pädagogik über die Machtpolitik bis zu hohen Sphären der Frömmigkeit und Mystik. Dementsprechend vage und schillernd ist der Begriff. Er kann Haltungen von Hingabe und Ergriffenheit ebenso auslösen wie Aggressionen, Spott und Abscheu.

Dem Gottesbegriff haftet eine lange und breite Blutspur an, die sich bis in die Gegenwart zieht. Natürlich haben viele Menschen durch ihren Glauben an Gott Trost und Lebenssinn erfahren, aber als repräsentativer Begriff für das Absolute ist der Gottesbegriff durch seine Geschichte nachhaltig desavouiert. Wir können zwar auf eine Zukunft hoffen, in der nicht mehr im Namen Gottes gemordet, geurteilt und bestraft wird, in der nicht im Namen Gottes Menschen zu von ihnen ungewollten Handlungen gezwungen werden oder zu Gewissensqualen genötigt werden. Selbst wenn eine solche Zukunft der Gewaltfreiheit je eintreten würde, kann der Teil der Geschichte, den Gott mit seinem Namen überschattet hat, nicht zum Verschwinden gebracht werden oder ignoriert werden.  

Im Grunde bräuchte es eine Mediation zwischen der Menschheit und Gott, um diese Schuld auszugleichen. In diesem Prozess müsste die Menschheit Gott verzeihen, was er/sie an Gewalt und Leid im eigenen Namen zugelassen hat oder wofür er/sie sogar verantwortlich zeichnet.  Es ginge dabei also nicht nur um ein Verzeihen, das die Menschen für ihre Taten seit alters her von Gott erflehen, um das sie beten sollen und dessen sie dennoch nie sicher sein können. Es ginge um eine versöhnende Begegnung auf Augenhöhe. 

Natürlich ist das nur ein Gedankenspiel, und jeder Theologe würde einwenden, dass ein Absolutes nicht mit einem Relativen auf eine Ebene gestellt werden kann. Aber diese Überlegung weist darauf hin, wie schwer der Name Gottes belastet ist und Übles in der Menschheitsgeschichte verursacht hat, sodass er mehr und mehr Menschen dazu bringt, überhaupt jeder Form von Transzendenz oder Absolutheitsannäherung abzuschwören. Man könnte deshalb sagen, der Gottesbegriff hat mindestens soviel zur Relativierung und Zerstörung des Sakralen in der Moderne beigetragen wie er andererseits vorher den Aufbau der Religiosität befördert hat.

Die Rechtfertigung des theologisch motivierter Seite von theologischer Seite stellt fest, dass die Gräueltaten der Menschheitsgeschichte von den Menschen selber gemacht wurden und deshalb von ihnen zu verantworten sind. Das ist klar, und klar ist auch, dass in vielen Fällen Gott als Motiv für diese Untaten benutzt wurde und wird. Eine Bezeichnung für das Absolute, die solches zulässt und die Menschen dazu verführt, besonders grausam und zugleich uneinsichtig gegen andere Menschen vorzugehen, kann deshalb nur mehr mit äußerster Vorsicht in den Mund genommen werden. Zu erwarten, dass die Menschen ihm fraglos ihren Glauben schenken sollen, verkennt diese Realität. Um willen des Absoluten, das vermutlich zum Menschsein gehört wie die Anfälligkeit zu Unachtsamkeiten und Bosheiten, braucht es Bezeichnungen und Begrifflichkeiten, die weniger stark belastet und korrumpiert sind.


Das Absolute ist nicht verfügbar


In einem ersten Schritt sollte jedenfalls klargestellt werden, dass das Absolute auch unter dem „Markenbegriff“ Gott nicht verfügbar ist, für keinerlei menschliche Zwecke und Absichten. „Gott“ ist für keine Verwendung geeignet und darf von niemanden in Dienst genommen werden, sondern taugt einzig und allein für die Bezeichnung einer Leerstelle, der sich die Menschen nur mit lauterer Gesinnung und reinem Herzen annähern können. 


Der Weg der Mystik


Es bleibt jenseits von den Religionen oder in deren Kern nur der Weg der Mystik für diese Annäherung. Dieser Weg beinhaltet die Bereitschaft, auf alle Sicherheiten und Vorannahmen zu verzichten, einschließlich jener eines Gottesglaubens in jedweder Form und Denomination (Ein Gott mit hundert Namen, ein Gott in drei Personen, ein Gott mit einem Bund mit einem Volk usw.). 

Um es salopp zu formulieren: Für den Job als Gott ist nur geeignet, wer bereit ist, sich sofort und völlig zurückzuziehen, sobald im eigenen Namen irgendein Missbrauch für menschliche Machenschaften getrieben wird. Er/sie muss auch bereit sein, sich dort zu verabschieden, wo jemand die Leere ohne alle Begrifflichkeit und Formen betritt. 


Der Gottesbegriff als Krücke


Manchem, der sich auf dem Weg der Mystik, also auf der vorurteilsfreien Suche nach dem Absoluten befindet, wird Gott als Krücke zum Mysterium dienen, manche Mystiker nutzen den Begriff auch als Chiffre für das Unnennbare, andere verzichten auf diese Bezeichnung. All diese Spielarten der Vermittlung des Absoluten befinden sich im Raum des Relativen der menschlichen Kommunikation und die jeweiligen Vorlieben sind dem subjektiven Geschmack überlassen. 

Es steht also jedem frei, Gott zu benennen oder nicht zu benennen, wie es jeweils passt. Aus der hier vorgestellten Problematisierung des Gottesbegriffes folgt nicht, dass er nicht mehr verwendet werden dürfte. Es handelt sich vielmehr um kritische Anfragen aus der Perspektive der menschlichen Vernunft und der Humanität. Aus dieser Richtung wird die unbefangene, naive und oft aggressive Gläubigkeit, die den Glauben an einen Namen heftet, in Frage gestellt. Allerdings ist das eine Frage, die sich nur jede Person selber stellen kann, und niemand hat das Recht, sich von außen in die Glaubensdinge seiner Mitmenschen hineinzumischen.

Mit diesen Überlegungen wird jedenfalls die Einteilung von Menschen in Gottesgläubige und Atheisten (oder Agnostiker) hinfällig (wobei die Gottesgläubigen manchmal den Atheisten nachweisen wollen, dass sie ja auch Gläubige sind, nämlich an die Nicht-Existenz Gottes oder an einen Gott, der nicht existiert). A-Theismus als Leugnung von etwas, dessen Existenz in Frage gestellt ist, ist schon als Begriff in sich widersprüchlich. Dazu kommt, dass er häufig in abwertender und ausgrenzender oder sogar ethisch diskriminierender Weise verwendet wird. Es gibt Menschen, die an Gott glauben, und andere, die an das Absolute oder Numinose glauben, und andere, die an all das nicht glauben, sondern sich einzig und allein auf ihre Erfahrung berufen. 


Spiritualität im gesellschaftlichen Diskurs


Um zur Entkrampfung der theologischen Diskussionen beizutragen, wird hier argumentiert, dass es befreiend und hilfreich sein kann, den Namen Gottes wegen seiner Viel- und Missdeutigkeit zu vermeiden und statt dessen neutralere und weniger historisch und emotional belastete Bezeichnungen für das Heilige, das Transzendente, das Absolute zu verwenden.

Im Sinn der herrschaftsfreien Kommunikation in der offenen Gesellschaft, die längst auf selbstverständliche Glaubensannahmen verzichtet hat und in der sich jeder spirituelle Ansatz erst argumentativ behaupten muss, ist der Hinweis wertvoll, dass es des Gottesbegriffes nicht bedarf, um die transzendente Dimension hinlänglich in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Für die Diskursfähigkeit der Spiritualität braucht es diese Flexibilität und Achtsamkeit in der Begrifflichkeit, die kritische Reflexion der Geschichte und die Toleranz für alle Formen des Glaubens und Nichtglaubens. 

Zum Weiterlesen:
Die mystische Leere
Über die Willkür im Umgang mit dem Absoluten
Gott und das Ego
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
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